wie lange dauert hundert denn noch?!

Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass mein fünfjähriger Sohn hochbegabt sei

(woher sollte er es auch haben?!).

Vermutlich kann er "nur", was die allermeisten Fünfjährigen auch können. Aber macht das die Leistung dieser allermeisten Fünfjährigen weniger erstaunlich?

Mindestens ebenso faszinierend wie die Entwicklung eines einzelnen Kindes finde ich den Automatismus, mit dem fast alle Kinder in gewissem Alter annähernd dieselben Erkenntnisfortschritte machen. Es ist, als wenn eine Blumenzwiebel lange geschlummert hat und urplötzlich eine Blüte hervorbringt.


Schon vor einiger Zeit konnte mein Sohnemann bis hundert zählen, was ja bei den verschiedenen Sprechweisen gar nicht so einfach ist:

                 1                   ,    2    ,    3         , 4, 5, 6, 7, 8,    9,
zehn      ,         elf           , zwölf, dreizehn,                ... , neunzehn,
zwan
zig, einundzwanzig,                                          ... , neunundzwanzig,
 dreißigeinunddreißig,                                            ... , neununddreißig,
   vierzig,                                                                    ... ,
  fünfzig,                                                                     ...,
 sechzig,                                                                    ... ,
  siebzig,                                                                    ... ,
  achtzig,                                                                    ... ,
 neunzig, einundneunzig,                                         ... , neunundneunzig,
hundert

Eines Tages aber durchstieß mein Sohn beim Zählen die Hundert-Schallmauer, zählte also (anfangs) munter weiter:

... hunderteins, hundertzwei, hundertdrei, ...., hundertsiebenundfünfzig, hundertachtundfünfzig,

Just bei "hundertachtundfünfzig" stöhnte er aber plötzlich laut auf:

"Wie lange dauert hundert denn noch?!"

(Das erkläre man mal einem Ausländer: es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen

  1. "Wie lange dauert hundert          noch?  ",
  2. "Wie lange dauert hundert denn noch?!"

Die erste Frage ist neutral, erkundigt sich also tatsächlich danach, wie lange noch hundert kommt

[nämlich bis 999 oder - s.u. - zumindest 199],

während das "denn" in der zweiten Frage ein gelangweiltes Stöhnen ist, also eine rhetorische Frage vorliegt

[die Antwort ist "... schon viel zu lange"]

und somit gar nicht mehr danach gefragt wird, wie lange hundert noch dauert.

Interessant ist auch, dass mein Sohn bei "hundert" von "dauert" spricht, eine [!] Zahl also als Zeit empfindet. Denn er spricht ja nicht im Plural von "den Hundertern" [d.h. von beim Aufzählen nacheinander folgender Zahlen], sondern im Singular von "hundert", also anscheinend von all dem, was die Zahlen zwischen 100 und 199 bzw. 100 und 999 gemeinsam haben.)

Vermutlich würde mein Sohn bislang sowieso nur begreifen, dass hundert noch bis "(ein)hundertneunundneunzig" (199) dauert, aber nicht, dass es sogar bis neunhundertneunundneunzig (999) geht.

Oder er vermutet, dass hundert fast bis in alle Ewigkeit dauert

("fast", weil er immerhin weiß, dass irgendwann unvorstellbar große Zahlen wie tausend und "millionen mal millionentausend" kommen).

Er langweilt sich bislang also über die Zahlen 100 bis 199, d.h. insgesamt 100 Zahlen.

Das aber sind doch auch nicht viel mehr als die "zig"-Zahlen, also 10 bis 99.

Wieso aber hat er bis neunundneunzig keine Langeweile empfunden? Vermutlich

  1. , weil immerhin bis neununddreißig die Sprechweise sehr abwechslungsreich ist

(erst ab da folgt die Endung "zig", und "sech" und "sieb" sind wieder Ausnahmen),

während sämtliche Zahlen zwischen 100 und 199 bzw. 999 den ewig gleichen Wortbestandteil hundert enthalten,

  1. , weil bei den Zahlen über hundert immer eine Stelle

(nämlich immer dasselbe hundert)

mehr gesprochen werden muss, die Wörter also sehr lang werden

(nämlich z.B. bei hundertsiebenundfünfzig)

Aber auch wenn mein Sohn nur bis 199 und nicht bis 999 zählen kann, hat er doch etwas zwar (scheinbar) Simples, aber für die Mathematik Zentrales gespürt: dass hundert sehr viel länger dauert als zig

(exponentielles Wachstum).