anschauliche Mathematik von ganz oben

  "E. S., die derzeit die Oberstufe eines Gymnasiums besucht, hat für mich das Buch zur Probe gelesen. Ich hatte beim Schreiben den Anspruch, dass sie es verstehen müsste. Sie hat dann aber eher gefragt, wo denn die Mathematik im Buche sei - sie habe doch so viele Formeln erwartet! Ach, liebe Leute! Hat denn Mathematik nicht viel mehr mit Vorstellungen und Denken in Bildern zu tun? Das ist das Wertvolle. Sind Formeln denn nicht nur rigide Denkkrücken oder Verständigungsformen für Mathematiker, die sich so ihre inneren Bilder gegenseitig mitteilen? Was ist Mathematik? Die Idee? Oder der Beweis? Die Formel? Oder das Bild?"
(Quelle: )

"Sie [= die Mathematik] ist eine Wissenschaft, die gehörig viel Vorstellungskraft erfordert."
(Sofja Kowalewskaja, russische Mathematikerin, * 1850  † 1891)

"[...] Penrose' wohl größtes Talent [...]: sein reges geometrisches Vorstellungsvermögen. [Der Mathematiker und Nobelpreisträger] Penrose denkt nicht in Zahlen und Formeln, sondern in Bildern, Räumen und Linien."
(Quelle: )

"von ganz oben" bedeutet,

  • dass nicht nur mathematische Laien (u.a. Schüler) oder minder- bis mittelprächtige Mathematiker (u.a. Mathematiklehrer wie ich) der Anschauung bedürfen,
  • sondern auch mathematische Cracks bis hin zum Nobelpreisträger

(bzw. Fields-Medaillen-Träger; vgl. ),

  •  Anschaulichkeit also essentiell für fast alle Mathematik ist.

Zumindest Laien wird das absurd erscheinen, gilt ihnen Mathematik doch als der Inbegriff der Abstraktion, also Un-Anschaulichkeit:


Nun ist das "fast" in "Anschaulichkeit [...] essentiell für fast alle Mathematik" natürlich eine schamlose Übertreibung:

(gerade weil Mathematiker oftmals ohne jede Anschauung "einfach" nur mit Algorithmen jonglieren, erscheinen ihnen ihre Entdeckungen oftmals gar nicht als eigenes Verdienst, sondern als Eingebung, Göttergabe oder Musenkuss, wenn nicht sogar als Produkt der personifizierten Mathematik:

"Wenn man aufnahmefähig und bescheiden ist, wird Dich die Mathematik bei der Hand nehmen. Wieder und wieder, wenn ich nicht wusste, wie ich weiter machen sollte, musste ich nur warten, bis [dies eintrat]. Sie hat mich einen unerwarteten Pfad entlang geführt, einen Pfad, der neue Einblicke eröffnete, einen Pfad, der in neues Terrain führte, in welchem man eine Operationsbasis einrichten konnte, von der aus man die Umgebung begutachten und zukünftige Fortschritte planen konnte."
[Paul Dirac; s.u.; man achte dabei auf die durchgehende anschauliche Metaphorik: Pfad [nicht Dirac ist der Pfad-Finder, sondern die Mathematik ist der Pfad-Führer], Einblicke, Terrain, Operationsbasis, Umgebung])
.
(mathematisch korrekt)

"fast alle" oder sogar "alle" Mathematiker

(weltweit also Abermillionen)

als Kronzeugen für meine These aufrufen, sondern ein einziger (Dirac) muss reichen

(und Ausnahmen bestätigen die Regel).


Ich glaube sogar

(ohne einen einzigen Beleg dafür zu haben),

dass erst wirklich "ganz oben" mitmischen kann, wer es schafft, sich Komplexestes zu veranschaulichen. Oder genauer: sich vermutlich nicht mehr das Ganze, aber doch einzelne Teile zu veranschaulichen: .


Allerdings besteht ein Nachteil der Veranschaulichung "ganz oben" darin, dass die avantgardistische Mathematik für Nicht-Eingeweihte völlig unverständlich ist, so dass im Folgenden

(wie auch in dem zitierten Buch )

keine konkreten Veranschaulichungs-Beispiele gezeigt werden können. 



Paul Dirac
(* 1902    † 1984)

Vorweg: die im Folgenden angeführten Zitate entstammen alle der Dirac-Biographie von Graham Farmelo
(vgl. auch  ;
hier soll uns aber nicht interessieren, dass Dirac wirklich ein äußerst seltsamer Mensch war).

Dirac war eigentlich kein Mathematiker, sondern Physiker, und deshalb hat er 1933 den Physik-Nobelpreis bekommen

(einen Mathematik-Nobelpreis gibt es nicht).

Und doch war Dirac letztlich fast mehr Mathematiker als Physiker:
"Wenn man aufnahmefähig und bescheiden ist, wird Dich die Mathematik bei der Hand nehmen. Wieder und wieder, wenn ich nicht wusste, wie ich weiter machen sollte, musste ich nur warten, bis [dies eintrat]. Sie hat mich einen unerwarteten Pfad entlang geführt, einen Pfad, der neue Einblicke eröffnete, einen Pfad, der in neues Terrain führte, in welchem man eine Operationsbasis einrichten konnte, von der aus man die Umgebung begutachten und zukünftige Fortschritte planen konnte."

Da ist nur von Mathematik, aber nicht von Physik die Rede.
Dabei ging Dirac sogar so weit, die mathematische Schönheit höher als Experimente, also die Messung an der Wirklichkeit, zu stellen:

In Übereinstimmung mit Heisenberg war Dirac der Meinung, dass die Welt der Quantentheorie nicht verständlich (und - s.u. - anschaulich) sei, wohl aber deren mathematische Beschreibung:

 

"Es ist gut möglich, dass diese Wandlungen [unserer fundamentalen Begriffe] so tiefgreifend sein werden, dass die Macht der menschlichen Intelligenz nicht ausreicht, um beim Versuch einer direkten Übersetzung der experimentellen Daten in mathematische Begriffe die notwendigen neuen Ideen zu finden. Die theoretisch arbeitenden Wissenschaftler werden daher auf einem mehr indirekten Weg vorgehen müssen. Die mächtigste Methode, um voranzukommen, die derzeit vorgeschlagen werden kann, besteht darin, das ganze Arsenal der reinen Mathematik bei dem Versuch einzusetzen, den mathematischen Formalismus, der die faktische Basis der theoretischen Physik bildet, zu perfektionieren und zu verallgemeinern, und nach jedem neuen abstrakten Erfolg zu versuchen, die neuen mathematischen Eigenschaften in der Form von physikalischen Objekten zu interpretieren. Seine Botschaft war eindeutig: Theoretiker sollten sich viel stärker auf die mathematischen Grundlagen ihres Fachs konzentrieren und - in Abkehr von einer jahrhundertelangen Tradition - viel weniger auf die neuesten Mitteilungen aus den Laboratorien. Kein Wunder, dass Dirac als »Theoretiker der Theoretiker« bekannt wurde."


(Nebenbei

" [Hermann] Weyl hatte einmal gesagt: »In meiner Arbeit habe ich immer versucht, die Wahrheit mit dem Schönen zu verbinden, aber wenn ich zwischen Wahrheit und Schönheit zu wählen hatte, habe ich im Allgemeinen das Schöne gewählt.«

Nach diesem langen Exkurs zur Schönheit der Mathematik nun zu unserem eigentlichen Thema, nämlich dem anschaulichen Denken Diracs in der Mathematik:

Es bleibt klarzustellen:

 
  • Es geht hier nicht um die Anwendung der Mathematik auf die (außermathematische) Wirklichkeit (Physik),

  • sondern um die Veranschaulichung der Mathematik durch die (außermathematische) Wirklichkeit:

  • die Wirklichkeit ist also nur Mittel zum Zweck der Veranschaulichung der Mathematik.

(Vgl. )

 

Vielleicht war Dirac so veranschaulichungsbegabt, weil er ursprünglich zum Ingenieur ausgebildet worden war


(erst in der Schule, dann in einer Hochschule für Ingenieure):

Könnte es also sein, dass  paradoxerweise eine sehr praktische Ausbildung ("Mauern, Gipsen, Schuhherstellung, Metallbearbeitung und technisches Zeichnen" ... Lego ...) der Königsweg zur theoretischen Mathematik (nämlich bildlichen Vorstellungen von dieser Mathematik) ist?