Anwendungsaufgaben?  
 

 Was bilden Mathelehrer sich eigentlich ein?!

(womit ich nicht bezweifeln will, dass es - wo? - im Mathematikunterricht echte Anwendungsprojekte gibt)

  1. Für "richtige" MathematikerInnen ist die Mathematik natürlich erst mal Selbstzweck - und dementsprechend schauen sie oft despektierlich auf schnöde Anwendungen hinab.
  2. Damit soll nicht verschwiegen werden, dass auch Anwendungsfragen immer wieder die "reine" Mathematik inspiriert haben.

Dass unsere Gesellschaft ganz massiv auf der Mathematik beruht, ist inzwischen eine Binsenweisheit - und wird doch oftmals an den falschen Beispielen bzw. einseitig festgemacht, nämlich an technischen Geräten - was sowieso niemand bezweifelt.

Dabei wird leicht übersehen, dass diese technischen Geräte nur deshalb so randvoll mit Mathematik sein können, weil der Laie sie nicht verstehen muss - womit das Argument der Anwendbarkeit geradezu ein Rohrkrepierer wird, denn damit kann jeder Laie sagen:

"ich bezweifle ja gar nicht, dass in meinem DVD-Player massenhaft Mathematik steckt, aber es interessiert mich nicht die Bohne, was in ihm drin ist, Hauptsache, er spielt DVDs ab."

Weitgehend unbekannt (und nicht spürbar) ist hingegen eine vielleicht viel gefährlichere Anwendung der Mathematik, nämlich die komplette Verwaltung und Planung des Menschen durch Computer.


Aber es ist doch oftmals absurd, was dann im Mathematikunterricht als "Anwendung" ausgegeben wird - und letztlich sowieso nur "eingekleidete" Mathematik ist:

"Ein Bauer möchte mit den 100 m Elektrodraht, die er noch in seiner Scheune hat, eine rechteckige Kuhweide abstecken, die maximalen Flächeninhalt haben soll"

bedeutet doch eigentlich nur:

"Gesucht ist ein Rechteck, das

Oder anders gesagt:

"Mache aus dem Menschen ein Skelett!"

Die (hier exemplarische) Kuhweidenaufgabe ist zudem noch aus rein praktischen Gründen blödsinnig:

(ob die 100 m Elektrodraht reichen, wird er per Augenmaß bestimmen, ja, das vorhandene Elektrodrahtstück nicht mal abmessen; und notfalls bleibt von den 100 m Elektrodraht eben was übrig);

(worauf die Aufgabe nämlich mathematisch hinausläuft).

Viel interessanter finde ich folgende Frage: woher - unter den probeweise mal akzeptierten Aufgabebedingungen - weiß der Bauer intuitiv, dass so etwa das Quadrat das flächengrößte Rechteck ist?

(was nämlich die mathematische Lösung ist; und ich hab´s mit SchülerInnen als Bauern ausprobiert: in der Tat tippen sie ohne jede Vorerfahrung auf das Quadrat, wobei die interessanteste Begründung die gleichweite Entfernung vom Mittelpunkt zu den Seiten war: eine andere Formulierung desselben Minimax-Problems - und eine indirekte Vorwegnahme der Idealfigur, nämlich des Kreises.)

Ein ganz anders Problem ist nebenbei, dass die "Bauern-Aufgabe" wohl kaum lebensnah ist. Aber mir scheint, da sollte man endlich ehrlich-nüchtern werden: wegen der o.g. Verborgenheit der Mathematik gibt es (für SchülerInnen) überhaupt keine wirklich lebensnahe Mathematik

(abgesehen vom Spezialfall, dass einige SchülerInnen später vielleicht Anwendungen von Mathematik zu ihrem Beruf ["Leben"] machen, was aber

  1. Zukunftsmusik, also schnell Vertröstung ist,

  2. die Ausnahme sein wird und

  3. sowieso nicht Ziel von Allgemeinbildung sein kann).


Die wirklichen Anwendungen der Mathematik sind oft teuflisch kompliziert - so dass beispielsweise ein Bauingenieur teilweise mehr Mathematik (Differentialgleichungen bis zum Abwinken) beherrschen muss als ein Mathematiker.

Wenn also echte und wirkungsmächtige Anwendungen in den Mathematikunterricht gelangen sollen, so kann das vermutlich immer nur in grober Vereinfachung geschehen.


Die typische radikale Vereinfachung echter Anwendungen im Mathematikunterricht hat also zwei Gründe:

  1. einen guten: schwieriger geht´s nun mal nicht;
  2. einen schlechten: fachliche Unkenntnis nicht nur der SchülerInnen, sondern auch der MathematiklehrerInnen, die, wenn´s hoch kommt, gerade noch zusätzlich (Schul-)Physik beherrschen, aber sicherlich nicht beispielsweise die technischen Spezifika von Baustatik.
MathematiklehreInnen haben nun mal von den echten Anwendungen keinen blassen Schimmer.

Das ist auch gar nicht verwunderlich, denn dazu sind sie nicht ausgebildet, ja das kann auch gar nicht ihre Aufgabe sein.

Aber immerhin kann man dann Demut von ihnen erwarten, statt dass sie Pseudoanwendungen verbreiten.


Es gibt zwei mögliche Konsequenzen daraus:

  1. schlichte Ehrlichkeit: man gibt nicht mal mehr vor, mathematische Anwendungen zu behandeln:

"Schuster, bleib´ bei deinen Leisten - also reiner Mathematik."

  1. Man erarbeitet mit Anwendungs-Fachleuten zusammen Unterrichtseinheiten:

(dafür wird aber etwas Ungewöhnliches und für viele wohl Schwieriges passieren, nämlich der Lehrer erstmal Schüler des Anwendungs-Fachmanns werden müssen;
wie LehrerInnen ja überhaupt lernen müssen, dass sie auf jedem anderen Gebiet im besten Fall sehr simplifizierte populärwissenschaftliche Kenntnisse haben)
.


Ich sehe also die einzige Möglichkeit für echte Anwendungen darin, Anwendungs-Fachleute in den Unterricht zu holen - und werde das demnächst auch bewusst mal versuchen.


Wanted!

beispielsweise ein Baustatiker im Raume Münster/Ahlen, der an sowas Interesse hätte und es als interessante Herausforderung (auch Reklame für seinen Beruf) ansehen könnte

Und wenn ich so jemanden finde, werde ich hier über konkrete Unterrichtseinheiten berichten.