die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen

Vorweg:
  1. Man muss lächerlich kleine Aufgaben ab und zu tatsächlich mal so haarklein reflektieren, wie es im Folgenden geschieht. Alles andere ist pädagogisches Patentrezept, also Blabla.

  2. Es liegt mir wahrhaft fern, über den Lehrer zu schimpfen, der die u.g. Aufgabe gestellt hat:
  1. sollte, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen werfen,
  2. wird der Lehrer sich - wie unten noch unterstellt wird - einiges bei der Aufgabe gedacht haben.

Zudem sind die "Fehler" anderer LehrerInnen mir überhaupt nur Anlass, von außen sehend auf meine eigenen Fehler aufmerksam zu werden - und sie dann vielleicht besser vermeiden zu können.

Da haben wir einige der zentralen Probleme doch mal wirklich hübsch an einem Platz:

"In einem Haus, das 4 Meter von der Straße entfernt ist, befindet sich einen Meter über Straßenniveau eine Garage. Wie lang ist die Garagenauffahrt?
(Die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen.)"

Als ich Aufsicht in einer Mathearbeit hatte

(diesmal nicht in einer Klasse, in der ich selbst Mathe unterrichtete),

fragten mehrere Schüler bei der oben genannten Aufgabe, was denn eigentlich der Nachsatz "Die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen" bedeute.

Da fasst ein Lehrer sich vermutlich erst an den Kopf und fragt sich seinerseits:

  • "Was an dem nun wirklich einfachen Satz »Die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen« kann man eigentlich nicht verstehen?"

(Hier sei mal von der Möglichkeit abgesehen, dass SchülerInnen vielleicht das Wort "horizontal" nicht verstehen, weil sie es - und zwar typischerweise im Matheunterricht -  nicht mehr mit dem echten Horizont in Verbindung bringen - weil sie vor lauter Skyline keinen Horizont mehr kennen?

Aber ich will mich nicht billig über "die" SchülerInnen lustig machen: wenn ich das Wort "vertikal" höre, muss ich es mir auch immer erst kurz als das Gegenteil von "horizontal" erklären.)

  • oder noch deutlicher: "Wie blöd sind die SchülerInnen von heute eigentlich, dass sie den Satz nicht verstehen?!"

Insbesondere würde so wohl der Lehrer fragen, der die Aufgabe gestellt hat:

  1. wäre er vermutlich doch bass erstaunt, dass die Frage nicht auf die eigentliche Aufgabe zielt, sondern ausgerechnet auf die Hilfe "Die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen",

  2. sind LehrerInnen oftmals betriebsblind: die Aufgabe ist doch

(zumindest aus Lehrersicht - aber eben nicht aus Schülersicht?)

ganz offensichtlich nur zu einem einzigen Zweck gestellt worden, nämlich zur Anwendung des Satzes von Pythagoras. Wie können SchülerInnen damit noch Probleme haben, zumal es in Deutschland ja üblich ist, dass Mathearbeiten ein direkt vorher im Vorunterricht durchgenommenes Thema (hier eben den Satz des Pythagoras) behandeln.
Man könnte also als Überschrift über die gesamte Arbeit schreiben:

"Liebe SchülerInnen, im Folgenden geht´s ausschließlich um den Satz des Pythagoras [bzw. die Satzgruppe des Pythagoras], und Euch bleibt´s überlassen, ihn in jeder Aufgabe zu sehen und anzuwenden.
(Und wenn ihr das stur und brav tut, verspreche ich euch, dass der Satz des Pythagoras in späteren Arbeiten nie wieder drankommt.)"

Auf die Aufgabe bezogen:

"Die erste gegebene Strecke ist 4 m lang und die zweite 1 m. Wie lang - dreimal darfst du raten - ist wohl die dritte?
(Und vergiss die blöde Anwendung »
Garagenauffahrt«.)"

(Es ist ein wenig wie im Deutschunterricht:

"Schriftsteller verblümen und verpacken das, was sie wirklich meinen, umständlichst [und hinterhältig], bis »kein Aas« es mehr auf Anhieb sehen kann. Und SchülerInnen müssen nun mühsamst rekonstruieren, was die Schriftsteller »eigentlich« gemeint haben.")

Ganz so überzeugt scheint unser Lehrer von der Verständlichkeit seiner Aufgabe aber nicht gewesen zu sein, denn sonst hätte er ja wohl kaum gemeint, die Hilfe "Die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen" hinzufügen zu müssen.

Was also schien ihm (vermutlich) an der eigentlichen Aufgabe

"In einem Haus, das 4 Meter von der Straße entfernt ist, befindet sich einen Meter über Straßenniveau eine Garage. Wie lang ist die Garagenauffahrt?"
(also noch ohne Nachsatz bzw. "Hilfe")

unklar bzw. missverständlich?

Dazu muss man bedenken, dass es ja "eigentlich" vier Ebenen der Aufgabenstellung gibt:

  1. das reale Problem, d.h. eine tatsächliche Garagenauffahrt,
     

  2. ein Foto davon:
     

  3. eine abstrahierte Zeichnung:

  4. eine rein verbale Beschreibung (wie eben in der o.g. Aufgabenstellung), also die typische "Textaufgabe".

Zu 1.:

Was denn nun ist die reale Situation, in der das Problem so, wie es in der Aufgabenstellung steht,  auftritt?

eine echte Garagenauffahrt - nur hat diese den Nachteil, dass sie schon fertig, also nichts mehr zu tun (auch zu berechnen) ist.

Angenommen also mal, die Garagenauffahrt ist zwar schon aufgeschüttet, aber noch nicht plattiert.

(Woher - just passend zum Unterricht - nehmen, wenn nicht stehlen?

Die Frage ist durchaus halbwegs ernst gemeint: in Deutschland werden die Beispiele immer passend zum gerade fachsystematisch anstehenden Unterricht gewählt - wodurch viele Probleme von Anfang an und in alle Ewigkeit ausgeschlossen sind. Werden wir da nicht umdenken, d.h. öfters von den Problemen statt von der mathematischen Fachsystematik ausgehen müssen?: beispielsweise das Garagenauffahrtsproblem hält sich leider nicht an die Fachsystematik, sondern taucht zu anderer bzw. Unzeit auf.)

Die Aufgabe bestünde nun also darin, Platten für die Auffahrt zu bestellen.

(Gefragt ist da also in erster Linie nach der Fläche und nur indirekt nach der Länge der Auffahrt. Und beim aufzuschüttenden "Keil" wäre in erster Linie nach dem Volumen und nur wieder indirekt nach der Auffahrtlänge gefragt.)

Es ist aber bemerkenswert, dass sich bei diesem nun wirklich realen Problem die Aufgabe überhaupt nicht so wie oben stellt: wer die Fläche berechnen will, misst (!) - unter der Voraussetzung, dass der Keil schon aufgeschüttet ist - Länge und Breite und multipliziert sie, braucht also keinen Satz des Pythagoras.

Bemerkenswert ist auch, dass bei bereits aufgeschütteter Auffahrt die hellblaue und die gelbe Strecke in

rein virtuell, nämlich längst zugeschüttet sind. Es wäre also ohne großen Aufwand (Wieder-Aufgraben oder Tunnel) auch gar nicht möglich, diese Strecken zu messen.

Die reale Situation, in der sich die o.g. Aufgabe tatsächlich stellt, ist also paradoxerweise abstrakter, stellt sich nämlich beispielsweise bei der Planung (am Zeichenbrett) in einem Architekturbüro: Haus, Garage und Straße sind bereits fertig (oder zumindest fertig geplant), und jetzt geht´s an die Planung der Auffahrt (Aufschüttvolumen, Plattierung).

Real ist unser Problem also

  • nicht bei ,
     

  • sondern bei .

Spätestens jetzt muss man aber hinzufügen: das reale Problem eines Architekten ist allemal kein reales Problem von SchülerInneN

(soviel von wegen "Jugendnähe").

Zu 2., also einem Foto:

... denn es ist halt nicht immer eine geeignete Garage parat bzw. man kann sie schlecht mit in den Klassenraum bringen.

(Viele Aufgaben erübrigen sich nun mal durch unvertretbar hohen Aufwand

... was allerdings oftmals den Effekt hat, dass gar keine realen Probleme mehr in der Schule auftauchen.)

Das Foto stellt nun aber schon einige Ansprüche an SchülerInnen, denn

  1. steht da ein Bäumchen vor der entscheidenden hellblaue Linie,

  2. ergibt sich durch perspektivische Verzerrung kein auf Anhieb sichtbares rechtwinkliges Dreieck

(auf das man direkt den Satz des Pythagoras anwenden könnte bzw. das geradezu nach dem Satz des Pythagoras "schreit"):

Zu 3., also einer abstrahierten Zeichnung:

Wir hatten schon in 1. gesehen, dass paradoxerweise solch eine (Nur-)Zeichnung exakt das Anwendungsproblem wiedergibt.

Mit der Zeichnung werden die Probleme aus 2. vermieden - aber auch die sprachlichen Probleme, die sich - wie oben gezeigt - mit der Aufgabenstellung oben ergeben (vgl. 4.).

Warum also hat der Lehrer die verbale statt die Zeichnungsform gewählt? ... und ich wette, dass es dafür gute Gründe gab.

Was in 2. beim Foto zu undeutlich war, ist hier in der Zeichnung allzu deutlich: die Zeichnung schreit nach dem Satz des Pythagoras, und wenn der Lehrer das auch noch dem "Dümmsten" hätte klarmachen wollen, hätte er sogar noch dicker auftragen können:

Da wäre es doch ehrlicher gewesen, die "Anwendung" vollends weg zu lassen und rein theoretisch zu bleiben:

"Berechne in einem rechtwinkligen Dreieck zu zwei gegebenen Katheten der Länge  1 und 4 die Hypotenusenlänge!"

Zu 4., also der rein verbalen Beschreibung (wie eben in der o.g. Aufgabenstellung):

Verbale (Text-)Aufgaben haben also - wie aus dem vorher Gesagten hoffentlich deutlich wird - durchaus ihre Vorteile:

  • sie vermeiden gewissen Unwägbarkeiten wie etwa beim Foto in 2.,

  • sind aber gleichzeitig auch nicht allzu offensichtlich wie etwa die Zeichnung in 3.

Und überhaupt ist ja das Abstraktionsniveau von Textaufgaben durchaus oftmals Absicht, wenn nicht gar Ziel der Mathematik: "richtige" Mathematik findet überhaupt nur noch im Kopf statt - und bedarf höchstens einer Planskizze.

Nur hat sich unser Lehrer mit der Wahl einer Textaufgabe ganz erhebliche Schwierigkeiten eingefangen, die sich schon in der Aufgabenkonstruktion zeigen:

Warum denn eigentlich ist - wie sonst kaum üblich - die Garage in das Haus eingebaut?

Der Lehrer musste halt die hellblaue und die gelbe Strecke in

verbal in die Aufgabenstellung einbringen. Bei einer freistehenden Garage (durchaus auch mit Auffahrt) wäre das aber kaum möglich gewesen. Verändern wir dazu mal die Aufgabenstellung auf dieses neue Problem hin:

"Eine Garage ist 4 Meter von der Straße entfernt und befindet sich einen Meter über Straßenniveau. Wie lang ist die Garagenauffahrt?"

*

Da könnte man unter der Entfernung (4 m) ja tatsächlich die Schräge verstehen - und damit wäre es dann witzlos, noch nach ihr zu fragen.

Damit sind wir nun aber endlich bei der Hilfe(?)stellung "Die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen":

Offensichtlich hat der Lehrer

(evtl. aufgrund einschlägiger Vorerfahrung mit der Aufgabe in einer Klassenarbeit - damals noch ohne Hilfe)

das glatte Gegenteil von * befürchtet:

  • also nicht, wie in *, dass die SchülerInnen die violette Strecke für die Entfernung (4 m) hielten,

  • sondern dass die SchülerInnen die gelbe Entfernung für die Auffahrtlänge halten und berechnen würden

(wobei es bei der gelben Entfernung allerdings auch wieder nichts zu berechnen gibt, denn sie ist ja mit 4 m vorgegeben).

Der Lehrer hat also (notgedrungen?) jedem anschaulichen Verständnis der SchülerInnen zutiefst misstraut - und dann ungünstig um die Ecke gesprochen:

vermutlich

  • wollte er wieder nicht allzu direkt (und suggestiv?) "Die Länge der Auffahrt wird schräg gemessen" sagen

  • und hat deshalb die indirekt-verklausulierte und damit offensichtlich für viele SchülerInnen unverständliche Formulierung "Die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen" gewählt.

Warum aber hat der Lehrer (vermutlich) der Anschauung der SchülerInnen so sehr misstraut? Auffahrten sind doch immer schräg, nur dass das Wort "Auffahrt", sobald es in einer Matheaufgabe vorkommt, für SchülerInnen meist rein gar nichts mehr mit all den realen Auffahrten, die sie durchaus schon erlebt haben, zu tun hat.

Vielleicht liegt aber gerade hier der Grund, weshalb viele SchülerInnen den Hinweis "Die Länge der Auffahrt wird nicht horizontal gemessen" nicht verstanden haben: er behauptet (wenn auch indirekt) eine den SchülerInnen durchaus bekannte Banalität (wie z.B. "Wasser ist nass") - und genau das hat die SchülerInnen irre gemacht.

Eine der Grunderfahrungen von SchülerInnen im Matheunterricht ist, dass dort Wasser üblicherweise nicht nass und auch gar kein Wasser ist.

(Ich höre schon den Einwand, Wasser sei ja manchmal wirklich nicht nass - nämlich wenn es gefroren sei.)