Buch des Monats 11/2003

Shimon Malin: Dr. Bertlmanns Socken; Wie die Quantentheorie unser Weltbild verändert; Reclam Leipzig

Was kann das arme Buch dafür, dass es (was ja gängig ist) so einen bescheuerten deutschen Titel bekommen hat?:

Der Dr. Bertelmann kommt zwar im Buchtext tatsächlich einmal vor:

"Oft wird der Fall von Dr. Bertlmanns Socken angeführt. Dr. Bertlmann liebt es, Socken unterschiedlicher Farbe zu tragen. Welche Farbe die Socke haben wird, die er an einem bestimmten Tag an seinem rechten oder linken Fuß trägt, ist vollkommen unvorhersehbar. Wenn man jedoch weiß, dass die erste Socke rosa ist, kann man sicher sein, dass die zweite Socke nicht rosa sein wird. Aus der Beobachtung, welche Farbe die erste Socke hat, und aus der Erfahrung mit Dr. Bertlmann kann man unmittelbar Rückschlüsse auf eine Eigenschaft der zweiten Socke ziehen."

spielt im Buch aber insgesamt eine absolut periphere Rolle, ist nämlich nur eine Veranschaulichung für ein viel grundlegenderes Problem (das Einstein-Podolsky-Rosen-Experiment).

Viel treffender ist da der amerikanische Originaltitel "Nature loves to hide" (vgl.   ).

(Nebenbei: die Personifizierung der Natur in "Nature loves ..." impliziert schon eine der Zentralthesen Malins, nämlich eine Belebtheit der Natur; s.u.)


"Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen": Malin, der ja selbst "von Hause aus" Physiker ist, urteilt sehr hart über den Physiker Ernst Mach:

"Lenin [!] hatte meines Erachtens Recht mit seiner Einschätzung, Mach sei ein bedeutender Physiker, aber ein unbedeutender Philosoph."

Und Malin erkennt auch, dass Physiker vielleicht grundsätzlich schlechte oder zumindest doch sekundäre Philosophen sind:

"Obwohl mich die Aufsätze der Gründer der Quantenmechanik zutiefst fesselten, empfand ich sie als unvollständig. Einstein, Bohr, Schrödinger und Heisenberg waren Physiker, keine Philosophen."

Vielleicht ist ja die "Brücke" zwischen den "zwei Kulturen" überhaupt nur von geisteswissenschaftlicher Seite aus herstellbar (vgl. ).


Als Buch des Monats ausgezeichnet sei Shimon Malins Buch

  1. wegen wunderbarer Veranschaulichungen von - das ja gerade ist das Paradox der Quantentheorie - prinzipiell Unanschaulichem; und Malin zeigt auch immer wieder die Grenzen der Veranschaulichungsmöglichkeit;

  2. für folgenden Satz:

"Viele Bücher haben in jüngerer Zeit die philosophischen Implikationen der Quantenmechanik erforscht, wobei meist auf die Beziehung zwischen der Quantenphysik und fernöstlichen Religion verwiesen wurde. Ich glaube, dass die Unersuchung solcher Beziehungen wichtig ist. In dem vorliegenden Buch geht es jedoch ausschließlich um die abendländische Tradition."

  1. , weil das Buch keineswegs rein naturwissenschaftlich (und damit geschichtsblind) verfährt, sondern die Quantentheorie immer mit ihren weitgreifenden historischen (auch philosophischen) Hintergründen  verbindet und dabei

  • keineswegs nur zeigt, woraus die Quantentheorie hervorgegangen ist

(was man notfalls weglassen könnte),

  • sondern auch, wie uralte Ideen auch heute noch (wiederzuentdeckende!) Antworten sein könnten.

So macht man das

(um es an nur einem einzigen Beispiel zu zeigen):

"[...] wollen wir uns im Folgenden mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie auseinander setzen."

Und direkt danach:

"Die Antwort auf die Frage »Was ist wirklich?« spiegelt das Weltbild einer Zivilisation, einer Kultur oder eines Denksystems wider. [...] Für Platon [...]":

ein nur scheinbarer Zeitsprung von 2400 Jahren!

  1. für den Inhalt, nämlich vorsichtige Überlegungen zu einer ganz neuen (?) Weltsicht, die sich aus der Quantentheorie zu ergeben scheint:

  • ein lebendes Universum?

  • eine umfassendere Weltwahrnehmung als die üblich naturwissenschaftliche.