deutsche Mathematik
Zu Anfang mag man stutzen und sich fragen: "Ist Mathematik nicht - sogar mehr als jede andere Wissenschaft - neutral, also international und in diesem Sinne absolut »un-deutsch«?"
(Nur ein Beispiel: gilt seit aller und in alle Ewigkeit für ausnahmslos alle [ebenen] Dreiecke und hat mit irgendwelchen Nationen rein gar nichts zu tun.)
Oder Leser, die meine Internetseiten bereits kennen, vermuten bzw. befürchten vielleicht, dass ich wieder mal meine Fächer (unzulässig bzw. absurd?) "zusammenrühre" wie etwa in .
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Womit klar ist, dass es "deutsche Mathematik" heißen muss.
Ich "höre" schon, was jetzt vermutlich so einige denken:
(... wobei ich ja, wie noch deutlich werden wird, keineswegs der erste bin, der das tut).
Gerade weil, wie bereits oben gesagt, Mathematik per se universalistisch bzw. international ist, war der Versuch, eine "deutsche" Mathematik aufzumachen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt, und dementsprechend ist Bieberachs Ansatz einer "deutschen Mathematik" auch nach 1945 sang- und klanglos untergegangen.
(Wer kennt heute, und zwar aus rein mathematischer Sicht, noch Ludwig Bieberbach??? - was ein kleiner Irrtum ist: der Mann war innermathematisch keineswegs ein "kleines Licht" [vgl. ].)
Zu 1.: ich werde hier nicht lang und breit meinen Eindruck wiederholen (und begründen), dass
der Nationalsozialismus in Schulen oftmals nach wie vor grundfalsch "durchgenommen" wird, nämlich entweder in Form reinen Faktenwissens
(das Allerwichtigste, nämlich den Massenmord, weiß sowieso jeder [auch jeder Neonazi!]),
oder eben doch noch immer durch latentes Einreden einer bis heute gültigen Kollektivschuld,
der öffentliche Diskurs, nämlich die ewig gleichen Floskeln (vorbeugenden Selbstbeschuldigungen und sowieso "Scham"), nach wie vor verdächtig falsch läuft,
viele Leute tatsächlich immer noch gebannt vor dem Nationalsozialismus sitzen wie das Kaninchen vor der Schlange
[seit wann hatte der Kinder?; vgl. ]; und dann natürlich noch "Hitlers Schäferhunde & sonstige Kuscheltiere", "Hitlers angeheiratete Schwipptanten" usw. ad infinitum).
Eine "Normalität", die eben nichts mehr leugnet oder mit Floskeln zudeckt, ist erst erreicht, wenn man sich (!?) problemlos und souverän dem Nationalsozialismus stellt, also z.B.
mit folgenden Prämissen:
"Wir" nach dem Krieg geborenen haben - um (und das ausgerechnet ich!) mit Helmut Kohl zu sprechen - "die Gnade der späten Geburt" und sind prinzipiell bzw. geradezu logischerweise nicht am Nationalsozialismus mitschuldig, sondern können überhaupt erst wieder schuldig werden, wenn wir
die Verbrechen des Nationalsozialismus leugnen, relativieren oder gar latent gut heißen,
selbst wieder "so" handeln.
Erstaunlich wäre es aber eben doch, wenn "wir" (genauer: die relativ kurz nach dem Krieg Geborenen) völlig unbeleckt von nationalsozialistischem Denken wären.
Um mal ganz persönlich zu werden: meine Eltern waren nachweislich während der Nazizeit anti-nationalsozialistisch eingestellt (mit üblen Folgen für meinen Vater), aber es ist doch völlig unvorstellbar, dass nach 1945 sämtliche "braunen Männchen" etwa aus dem Erziehungswesen verschwanden, wir also nirgends subkutan durch deren "Denkreste" beeinflusst wurden.
Mehr noch: ich unterstelle mal, dass selbst seinerzeitige Nazigegner nicht völlig immun gegen die Denk- und Sprechweise der Nazis sein konnten (man ist halt unrettbar "Kind seiner Zeit").
(und aus 1. folgend, weil inzwischen souveräner geworden) mit folgenden Fragen:
wie konnte es "dazu" kommen?
was daran ist also eventuell spezifisch (bis heute?) deutsch, was - ich weiß, wie gefährlich, nämlich fast schon entschuldigend das Wort ist - "allgemeinmenschlich"?
Und wer wirklich souverän ist, kann sich dann eben auch selbstkritisch fragen: Wo stecken solche Potentialitäten in mir selbst.
Es ist natürlich einfach nur entlarvend, wie spät (wenn überhaupt) beispielsweise deutsche Unternehmen ihre Archive geöffnet und ihre eigenen - auch schon ein Euphemismus - "Verstrickungen" in den Nationalsozialismus
haben untersuchen lassen,
eingestanden
und eventuell praktische Konsequenzen gezogen haben (beispielsweise "Entschädigungen" für Opfer):
Die Vermutung liegt nahe, dass das erst geschah,
nachdem das eigentliche Problem "biologisch" gelöst war, nämlich die Altnazis tot oder zumindest nicht mehr "in Amt und Würden" waren,
als eine neue, nachweislich "unschuldige" Generation "in Amt und Würden" kam.
Und das gilt ja keineswegs nur für Unternehmen, sondern genauso für Wissenschaften - und dann auch die Mathematik.
Gerade indem man - wie oben gesagt - Mathematik immer nur als ahistorisch und universalistisch-international versteht, wird man blind für auch ihre "Verwicklungen" in den Nationalsozialismus wie überhaupt Geschichte und .
Bzw. das "universalistisch-internationale" Verständnis von Mathematik ist auch ein feines Mittel, um sich (?) nie solchen "Verstrickungen" zu stellen (stellen zu müssen).
Böse gesagt: das ist letztlich das Selbstverständnis eines , der "nur" die (äußerst exakten!) Zugfahrpläne nach Auschwitz organisiert hat.
Und das werfe ich meinem Mathestudium ja doch vor: dass da, abgesehen von ganz seltenen Anekdötchen, nur die reine Mathematik, aber nie ihre Geschichte (geschweige denn die im Nationalsozialismus) vorkam.
(Man muss fast ergänzen: wenn auch exemplarisch, so doch die ganze [auch "deutsche"!] Mathematikgeschichte, also nicht bloß die während der "unseligen" zwölf Jahre. Denn die "restliche" deutsche Mathematikgeschichte ist ja in dreierlei Hinsicht interessant, nämlich
völlig unabhängig vom Nationalsozialismus,
im Hinblick darauf, wie Vorläufer durchaus logisch in eine mathematische Beteiligung am Nationalsozialismus führten
[wer war - schon fast selbst eine Naziterminologie - "infizierbar" bzw. hat sogar selbst "infiziert"?]im Hinblick darauf, wo es vorbildliche Gegenströmungen gegen eine solche Beteiligung gab
[wer war nicht "infizierbar" bzw. wäre es nicht gewesen?].)
Ich kann hier nur äußerst knapp einige wenige Perspektiven aufzeigen (Genaueres gibts bei den unten angeführten ersten Hyperlinks):
"Die moderne Mathematik wurde dabei zuletzt als »jüdisch« abgelehnt" (siehe das Zitat oben) kann man ja heute nur noch als geradezu absurd empfinden. Oder genauer: absurd scheint die Kopplung einer gewissen, abgelehnten "formalistischen" Mathematik an Juden.
Und dennoch steckt dahinter Masche, zeigt sich da doch eine grundsätzliche Ablehnung von allem Abstrakten, die auch in der damaligen "Einstein-Debatte" deutlich wurde und vielleicht geradezu ein Grundmerkmal des Nationalsozialismus (bzw. seiner Wurzeln) ist.
Viele Menschen seinerzeit (und heute?) fühl(t)en sich in einer zunehmend abstrakt-uneinsehbaren Welt äußerst unwohl und sehn(t)en sich zurück nach vermeintlichen (einfachen) Wurzeln.
Und Abstraktion und Analyse (zerschneiden, zersetzen) wurden als typisch jüdisch festgemacht: ein insbesondere in der Mathematik völlig absurder Vorwurf, weil doch die gesamte Mathematik permanent abstrahiert.
(Umgekehrt ist aber die Mathematik, wenn man denn schon Abstraktion beklagen will, sicherlich ein besonders geeigneter Sündenbock.)
Bei der Abstraktion verwechselte man den (angeblich jüdischen) Boten mit der Botschaft und verallgemeinerte letztere zudem. So wurde beispielsweise Einstein vorgeworfen, er habe gesagt, dass ausnahmslos alles relativ sei, also etwa auch ethische Werte
(und das mussten ausgerechnet Nazis ihm vorwerfen!).
Dabei hatte er seine Theorie (!) ausschließlich für die Physik aufgestellt und nicht einmal da behauptet, dass alles relativ sei - nämlich die Lichtgeschwindigkeit nicht.
Wenn es im anfänglichen Zitat von dem Versuch die Rede ist
"die formalistische Mathematik wieder auf »intuitionistische«, also weitgehend als anschaulich begriffene Grundlagen zu stellen",
so muss ich mich natürlich angesprochen fühlen, wo ich doch eine ganze Internetseite mit dem Titel betreibe.
Nun habe ich eine Rechtfertigung
(gar gegen den Vorwurf, allzu gut in die "deutsche Mathematik" zu passen)
wahrhaft nicht nötig. Zudem ist mir ja nur als Einstieg in die Mathematik wichtig: ich weiß
und sowieso, dass die Anschaulichkeit immer geringer wird, je höher man in der Mathematik steigt.
Kommt hinzu, dass es ja beste sachliche (also nicht-rassistische) Gründe gegen die rein formalistische Mathematik gibt. Vgl. 4/2006 .
Oben ist (hoffentlich) schon klar geworden, dass die "deutsche Mathematik" allzu gut in eine allgemeine, anti-abstrakte Denkweise passte.
Ebenfalls interessant wäre, wo "die" Mathematik im Nationalsozialismus konkret schuldig geworden ist, indem ihre Erkenntnisse direkt bei der Durchführung des Holocausts wie auch des Zweiten Weltkriegs eingesetzt wurden
(umgekehrt wäre da zu fragen, wo sich MathematikerInnen denn entziehen konnten bzw. hätten entziehen können).
Letztlich interessiert mich aber vor allem, wie die "deutsche Mathematik" Teil eines ganz anderen damaligen Vorgangs war
(wobei gleich vorweggeschickt sei, dass mir da alle nationale Trauer fehlt):
dass die Nazis abermillionen Menschen ermordet und mit dem Zweiten Weltkrieg die halbe Welt inkl. Deutschland zerstört haben
(und das von Anfang an vorhatten!),
weiß ja wohl jeder.
Es erstaunt mich aber doch immer wieder
was für ein geistloses Dummpack
diese Nazis waren und wie sie systematisch (!) dafür gesorgt haben, dass Deutschland auch wissenschaftlich-intellektuell verödete und bis heute dritt(?)klassig wurde |
(wobei ich es durchaus bezeichnend finde, wie verächtlich Hitler bereits in "Mein Kampf", aber auch in seinen letzten Tagen über seine angeblich doch so geliebten Deutschen gesprochen hat):
Man schaue sich doch nur mal an, wie rasant seit den Nazis die Liste der deutschen Nobelpreisträger geschrumpft ist.
Und über die Mathematik im damaligen Deutschland allgemein kann man vermutlich nur sagen, was der große Mathematiker David Hilbert seinerzeit nur (?) über die Göttinger Mathematik gesagt hat:
»Jelitten? Dat hat nich jelitten, Herr Minister. Dat jibt es doch janich mehr!«
Genau das sollten SchülerInnen anhand der "deutschen" Mathematik oder Physik in der Schule aber auch lernen:
wie die Nazis Deutschland auch wissenschaftlich-intellektuell verwüstet haben |
... und dass seitdem Bildung verachtet wird?!
Interessant fände ich es aber auch, mal herauszufinden
(soweit es dafür überhaupt halbwegs klare Gründe gibt),
wie es kam, dass zwischen Goethe & Schiller einerseits und 1933 andererseits in Deutschland eine geistige Blüte entstehen konnte, die es fast in sämtlichen Bereichen in die Weltspitze führte
(und gleichzeitig wurde da doch sukzessive der Nationalsozialismus geistig vorbereitet).
Denn eins ist allemal klar: mit Deutschland wars nicht erst am 8.5.1945, sondern bereits am 30.1.1933 vorbei. Simpelster Beweis ist, dass die Bücher(!)verbrennung bereits am 10. Mai 1933 stattfand, und "Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man [logischerweise bald] auch Menschen" (Heinrich Heine).
Wenn denn überhaupt eine Dolchstoßlegende angebracht ist, dann in der Version (und eben nicht mehr als Legende), dass "die" Nazis diesen Dolchstoß durchführten, d.h. Deutschland in den Rücken fielen und ihm die Gurgel durchschnitten: auch (aber eher nebensächlich) mathematisch.
Einige weiterführende Internetlinks:
Volker R. Remmert: Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung im "Dritten Reich": Krisenjahre und Konsolidierung
Volker R. Remmert: Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung im "Dritten Reich": Fach- und Parteipolitik
Mitchell G. Ash: Vertriebene, Verbliebene, Verfehlungen: Der Nobelpreis und der Nationalsozialismus; in
das Beste weit und breit über die ehemalige (auch mathematische) Größe Deutschlands:
bzw.
auf Deutsch
(wobei der deutsche Untertitel natürlich wieder mal grob
bescheuert ist)
"Peter Watson's virtuoso sweep through modern German
thought and culture, from 1750 to the present day, will challenge and confound
both the stereotypes the world has of Germany and those that Germany has of
itself.
From the end of the Baroque era and the death of Bach to the rise of
Hitler in 1933, Germany was transformed from a poor relation among Western
nations into a dominant intellectual and cultural force - more creative and
influential than France, Britain, Italy, Holland, and the United States. In the
early decades of the twentieth century, German artists, writers, scholars,
philosophers, scientists, and engineers were leading their freshly unified
country to new and unimagined heights. By 1933, Germans had won more Nobel
Prizes than any other nationals, and more than the British and Americans
combined. Yet this remarkable genius was cut down in its prime by Adolf Hitler
and his disastrous Third Reich - a brutal legacy that has overshadowed the
nation's achievements ever since.
How did the Germans transform their
country so as to achieve such pre-eminence? In this absorbing cultural and
intellectual history, Peter Watson goes back through time to explore the origins
of the German genius, and he explains how and why it flourished, how it shaped
our lives, and, most important, how it continues to influence our world. As he
convincingly demonstrates, it was German thinking - from Beethoven and Kant to
Diesel and Nietzsche, from Goethe and Wagner to Mendel and Planck, from Hegel
and Marx to Freud and Schoenberg - that was paramount in the creation of the
modern West. Moreover, despite World War II, figures such as Joseph Beuys,
Jürgen Habermas, and Joseph Ratzinger ensure that the German genius still
resonates intellectually today."
(Quelle:
)