das Zeitalter der Entdeckungen

 

"Die glückhafte Tat des Columbus erweckt in Europa zuerst maßloses Erstaunen. Dann aber bricht ein Rausch von Abenteuer- und Entdeckerlust aus, wie ihn unsere alte Welt nie gekannt:
[...]
Eine Expedition folgt der andern, und wirklich, als wäre eine Nebelwand plötzlich gesunken, tauchen jetzt überall im Norden, im Süden, im Osten, im Westen neue Inseln, neue Länder auf, die einen in Eis starrend, die andern mit Palmen bestanden; innerhalb von zwei, von drei Jahrzehnten entdecken die paar hundert kleinen Schiffe, die von Cadiz, Palos, Lissabon abstoßen, mehr Welt und mehr unbekannte Welt als vordem die ganze Menschheit in den hunderttausenden Jahren ihres Daseins. Unvergeßlicher, unvergleichlicher Kalender jener Entdeckerzeit: 1498 erreicht Vasco da Gama - »im Dienste Gottes und zum Vorteil der portugiesischen Krone«, wie König Manoel stolz berichtet - Indien und landet in Calicut, im gleichen Jahre sichtet Cabot als Kapitän in englischen Diensten Neufundland und damit die Nordküste Amerikas. Und wieder ein Jahr (1499), und gleichzeitig entdecken, unabhängig einer vom andern, Pinzon unter spanischer Flagge und Cabral unter portugiesischer Brasilien, während Gaspar Cortereal als Nachfahr der Wikinger nach fünfhundert Jahren Labrador betritt. Und weiter geht es Schlag auf Schlag. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts streifen zwei portugiesische Expeditionen, deren eine Amerigo Vespucci begleitet, die südamerikanische Küste hinab bis schon nahe an den Rio Plata, 1506 entdecken die Portugiesen Madagaskar, 1507 Mauritius, 1509 erreichen, 1511 erstürmen sie bereits Malacca und haben damit den Schlüssel des Malaiischen Archipels in Händen. 1512 erschließt Ponce de Leon Florida, 1513 sieht von der Höhe von Darien herab Nuñez de Balboa als erster Europäer den Pazifischen Ozean. Von dieser Stunde an gibt es für die Menschheit keine unbekannten Meere mehr. In dem knappen Zeitraum von einhundert Jahren hat sich die europäische Schiffahrt in ihrer Leistung nicht etwa bloß verhundert-, sondern vertausendfacht. Während 1418 unter Enrique es noch bewunderndes Staunen erregte, daß die ersten Barcas bis nach Madeira gelangten, landen 1518 portugiesische Schiffe - man stelle auf der Karte die beiden Distanzen gegeneinander! - schon in Kanton und Japan; bald wird eine Fahrt nach Indien als geringeres Wagnis gelten als vordem die Reise bis Kap Bojador. Von solchem Tempo beflügelt, muß sich von Jahr zu Jahr, ja von Monat zu Monat das Weltbild verändern und erweitern. Tag und Nacht sitzen in ihren Werkstätten zu Augsburg die Kartenstecher und Kosmographen an der Arbeit, aber sie können den Bestellungen nicht mehr nachkommen. Noch feucht, noch unkoloriert reißt man ihnen die Stiche aus den Händen, und ebenso können die Drucker an Reiseberichten, an Globen nicht genug auf die Büchermesse bringen, alles will Nachricht von dem »mundus novus«. Aber kaum haben die Kosmographen sauber und genau nach den letzten Mitteilungen ihre Weltkarte gestochen, so kommt schon neue Zeitung und neuer Bericht. Alles ist umgestoßen, alles muß frisch getan werden, denn was als Insel galt, hat sich als Festland erwiesen, was Indien schien, als neuer Kontinent. Neue Flüsse, neue Küsten, neue Berge sind einzuzeichnen, und siehe, kaum sind die Stecher zu Ende mit ihrer neuen Karte, so müssen sie schon mit einer berichtigten, verbesserten, erweiterten beginnen. Nie vordem, nie nachher hat die Geographie, die Kosmographie, die Kartographie ein so rasendes, so rauschhaftes, so sieghaftes Tempo des Fortschritts erlebt wie innerhalb dieser fünfzig Jahre, in denen, seit Menschen leben, atmen und denken, zum erstenmal Form und Umfang der Erde endgültig bestimmt wird, da zum erstenmal die Menschheit den runden Stern kennenlernt, auf dem sie seit äonen durch das Weltall rollt. All dies Ungeheure aber hat eine einzige Generation geleistet; ihre Seefahrer haben für alle späteren alle Gefahren bestanden, ihre Konquistadoren alle Wege aufgetan, ihre Helden alle oder fast alle Aufgaben gelöst. Nur eine Tat ist noch übriggeblieben, die letzte, die schönste, die schwerste: auf ein und demselben Schiff den ganzen Erdball zu umrunden und damit gegen alle Kosmologen und Theologen der Vergangenheit die Rundform unserer Erde zu messen und zu erweisen - sie wird die Lebensidee und das Schicksal des Fernão de Magelhaes [= Magellan] sein, den die Geschichte Magellan nennt."

aus:

 

 

"Unser Zeitalter blickt hinter sich. Es errichtet den Vätern Grabdenkmäler. Es schreibt Biographien, Geschichte und Kritik. Die vorangegangenen Generationen schauten Gott und die Natur von Angesicht zu Angesicht, wir durch ihre Augen. Warum sollten nicht auch wir uns eines ursprünglichen Verhältnisses zum Universum erfreuen dürfen? Warum sollten nicht auch wir eine Dichtkunst und Philosophie der Einsicht statt der Überlieferung haben und eine Religion der Offenbarung statt der Geschichte? Wir leben für kurze Zeit im Schoße der Natur, deren Lebensfluten uns umströmen und durchwallen und die durch ihre Kräfte uns einlädt, ihr gemäß zu handeln; warum sollten wir da in den trockenen Knochen der Vergangenheit herumwühlen oder die jetzt lebende Generation mit den Masken ihrer verstaubten Gewänder verkleiden? Auch heute scheint die Sonne. Mehr Baumwolle und Flachs wächst heute auf den Feldern. Wir wissen von neuen Ländern, neuen Menschen, neuen Gedanken. Laßt uns unsere eigenen Werke, Gesetze und unsere eigene Art der Verehrung fordern."


Ralph Waldo Emerson
(1803 - 1882)

(Vielleicht muss man es ja doch ergänzen: Emerson war nun wahrhaft der letzte, der die Geschichte ignorierte; aber er wollte ihr die Gegenwart [und damit das Leben!] gleichberechtigt entgegensetzen: "Auch heute scheint die Sonne.")

Das Problem ist nicht neu, sondern im Grunde seit der Historisierung des Denkens vorhanden, und spätestens Nietzsche (nach Emerson) hat es am Historismus kritisiert: dass man sich von den Lasten der Vergangenheit erdrückt fühlt: man lebt (?) mit der Erbsünde ihrer Verbrechen, fühlt sich aber auch ganz klein gegenüber ihren Großtaten. Nichts, was man tut und denkt, ist neu, sondern man kommt sich vor wie eine Schallplatte, die einen Riss hat und deshalb den immer gleichen Melodiefetzen spielt.

Schon kein Geringerer als Leonardo da Vinci hat sich so gering gefühlt und deshalb gesagt, ihm blieben anscheinend nur noch die Brosamen der Geschichte übrig (welch ein Irrtum; aber auch: welche Demut!).

Schon gar nicht neu ist die sogenannte Postmoderne, die nur noch (ironisch) zitiert. Wie wohl mal Umberto Eco gesagt hat: ein Mann könne heute nicht mal mehr zu einer Frau sagen: "Ich liebe dich." Er (und sie wohl auch) komme sich dabei vor wie ein drittklassiger Abklatsch eines Hollywoodfilms. Wenn überhaupt, so könne er nur sagen: "Wie schon XY sagte: ich liebe dich."

Das ist sicherlich übertrieben - und trifft doch den Kern: wie irgendwer anders mal sagte: wie man eine Frau küsst und einen Menschen umbringt, lernen wir in Hollywoodfilmen - und so küssen wir dann auch tatsächlich (bzw. morden): man(n) werfe die (kleinere!) Frau quer vor sich in seine Arme, schaue ihr ganz tief in die Augen (das macht sie schwach), und dann küsse man sie (von wegen der hinderlichen Nasen) diagonal.

Und jeder Teenager weiß aus Hollywoodfilmen, dass dann, wenn es "richtige" Erotik sein will, diktatorisch der "Zungenkuss" (das Rühren im anderen Mund) zu folgen hat.

Das Überwältigtsein durch die Vergangenheit zeigt sich allüberall:

Es ist eben gar nicht so eindeutig abgemacht, was der seinerzeitige Bundespräsident Richard von Weizsäcker gesagt hat: "Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart." Genauso gut könnte man sagen: "Wer andauernd wie das Kaninchen vor der Schlange auf die Vergangenheit stiert, wird blind für ähnliche [aber eben auch leicht variierte] Entwicklungen in der Gegenwart; ja mehr noch: er fühlt sich durch die Vergangenheit in Geiselhaft genommen und reproduziert sie deshalb irgendwann störrisch."

(Eben genau so, wie der vermeintliche Jude in Max Frischs "Andorra" irgendwann auch tatsächlich Jude sein will. Bzw. "Einmal Nazi, immer Nazi? O.k., könnt ihr haben!")

Da sei an den alten Juden in Harry Mulischs "Die Entdeckung des Himmels" erinnert, der - welch eine Ketzerei, die einem Deutschen niemals verziehen würde - heilfroh ist, dass - personifiziert in einem Jungen - "die Jugend von heute" Hitler nicht mehr kennt.


Mir scheint tatsächlich, dass das "Zeitalter der Entdeckungen" (also so ca. 1492 - 1800?) da - und zwar in Schulen - einen Ausweg bieten kann:

usw. usf.

oder jugendgemäßere Ausgaben in die Schule!:

Solche Bücher wecken überhaupt erst die Neugierde auf eine noch grenzenlose Welt - und das Vertrauen, dass es ganze Welten zu entdecken gibt

(und allemal haben solche Bücher - auch in der fiktiven Form etwa von und  - den Vorteil, das natürliche Interesse Jugendlicher an Abenteuern & Entdeckungen & Heldentaten [also an omnipotenten Machtphantasien?] zu befriedigen).

Man zeige mir einen einzigen Film, der das schafft! Bzw. pars pro toto "Star Wars" ist eben doch "nur" Phantasie bzw. - was schlimmer ist - "fantasy", während die o.g. Entdeckungen tatsächlich stattgefunden haben.


Natürlich darf man bei der reinen Abenteuerromantik nicht stehen bleiben, sondern es muss ein differenziertes, komplexes Bild von Geschichte entstehen:

"Am 20. September 1519 segelte Magalhães [auch Magellan genannt] von Sanlúcar de Barrameda (Spanien) aus mit fünf Schiffen und über 240 Mann Besatzung los und gelangte im November nach Südamerika. Im Februar 1520 erforschte er die Flussmündung des Río de la Plata (heute Argentinien bzw. Uruguay), und am 31. März 1520 erreichte seine Expedition den Hafen San Julián, wo sie fast sechs Monate verbrachte. Anschließend segelte Magalhães durch die zwischen der Südspitze Südamerikas und Feuerland verlaufende Meeresstraße – die ihm zu Ehren später als Magellanstraße bezeichnet wurde – in Richtung Pazifischer Ozean. Nach 38 Tagen und einer Strecke von 530 Kilometern gelangten seine nunmehr drei Schiffe am 28. November 1520 in das westlich gelegene Meer, das Magalhães aufgrund der dort herrschenden Windstille Pazifischer Ozean (von lateinisch pax: Friede) nannte. Er erreichte am 6. März 1521 die Marianen (damals Ladronen) und entdeckte zehn Tage später die Philippinen, auf deren Insel Cebu er am 7. April landete. Dort schloss er ein Bündnis mit dem Inselherrscher und vereinbarte, ihm bei einem Angriff auf die Bevölkerung der Nachbarinsel Mactan zu helfen. Am 16. März gelangte Magalhães auf die besagte Insel, wo er am 27. April bei einem Kampf mit den Inselbewohnern getötet wurde.

Nach seinem Tod verbrannte eines seiner Schiffe, doch die beiden anderen erreichten am 6. November 1521 schließlich die Molukken. Nur die Victoria, die von dem spanischen Seefahrer Juan Sebastián Elcano befehligt wurde, beendete die geplante Weltumsegelung; ihre Mannschaft umrundete Afrika auf dem Weg über das Kap der Guten Hoffnung und landete am 6. September 1522 [mit 18 Überlebenden von ursprünglich 240!]  in Sevilla."

(Microsoft Encarta Professional 2002)

Dabei muss es ja nicht so katastrophal ausgehen. Aber es muss klar werden, dass auch den  großen Entdeckern und Erfindern nicht alles zugeflogen ist, sondern sie - wie auch wir heute - ihre lieben Schwierigkeiten hatten.

Bert Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon -
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien. 
Er allein? 
Cäsar schlug die Gallier. 
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? 
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte 
Untergegangen war. Weinte sonst niemand? 
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer 
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.


Und all das nicht nur bei der Entdeckung neuer Länder und Kontinente, sondern auch in den einzelnen Wissenschaften (es gibt auch Kontinente des Wissens!)

und also u.a. auch in der Mathematik:

ja selbstverständlich brauchen wir Mathematikgeschichte in der Schule!

(Nebenbei: es gibt zwar zig Bücher zur Mathematikgeschichte, aber ich vermisse noch immer eins zur "Kulturgeschichte der Mathematik", d.h. dem Platz der Mathematik in der Kulturgeschichte.)

Mehr noch:

es ist viel deutlicher als in den gängigen, auf diesem Auge systematisch blinden Geschichtsbüchern zu zeigen, dass Mathematik & Naturwissenschaften

(in Wechselwirkung mit den sonstigen Veränderungen des Weltbildes)

zentrale Bestandteile des "Zeitalters der Entdeckungen" waren.


Wo, wenn nicht hier,
wer, wenn nicht wir,
wann, wenn nicht jetzt?

Vgl. auch

Vor allem aber ist zu zeigen, dass "das Zeitalter der Entdeckungen" keineswegs vorbei ist, sondern anhält:

(es sei denn, wir kämen irgendwann zwar nicht an die Grenzen des "Welt", aber an die Grenzen des aus Menschensicht Erkenn- und Erklärbaren),

ja dass der Eindruck schlichtweg trügt (trügen soll?), es sei bereits alles (alle "Kontinente") entdeckt.

Die Position Horgans, dass alles schon entdeckt sei, beruht für mich auf reiner Denkfaulheit und fehlender Neugierde - bzw. spießbürgerlich-lahmarschiger Zufriedenheit mit dem status quo.

Bemerkenswert daran ist allerdings, dass diese Position heute oftmals optimistisch daher kommt, als stünden wir (die wir alle Vergangenheit haushoch überragen) nun vor dem endgültigen Durchbruch

(sei´s in der Physik bei der "Theory of everything"

[obwohl es doch "nur" eine Vereinheitlichung aller (bislang bekannten) Kräfte wäre],

in der Genetik beim Genom oder in der Neurowissenschaft mit einem letztlich billig mechanistischen Verständnis des Gehirns).

Aber hinter solchem Grinseoptimismus lugt für mich immer klar ersichtlich die Verzweiflung hervor: "wenn wir [nach Aufgabe des sozialen Projekts] die dringend nötigen Verbesserungen mit Computern [d.h. der Abschaffung des Menschen] nicht schaffen, dann schaffen wir es überhaupt nicht mehr."

Da kann man nur sagen: "Jungs, seid euch nicht so sicher, bzw. how can you be so sure?"

(Allerdings beweist der Umstand, dass neue Entdeckungen in der Naturwissenschaft fast ausschließlich von sehr jungen Leuten gemacht werden: Jugend muss und darf so naiv sicher sein.)

"Ich weiß nicht, was die Welt von mir hält; aber mir selbst erscheine ich nur wie ein Knabe, der am Meeresstrand spielte und sich damit vergnügte, da und dort einen glatteren Kiesel oder eine hübschere Muschel als gewöhnlich zu finden, während der große Ozean der Wahrheit noch zur Gänze unentdeckt vor mir lag."
(Isaac Newton)

Dazu aber müssen im Unterricht sehr viel mehr als bisher (oder überhaupt erst)

Es muss ausdrücklich Unterrichtsgegenstand werden, was noch nicht wissenschaftlich erklärbar ist

(ohne dass man da nun in Esoterik verfällt bzw. gut katholisch in umgekehrter Salamitaktik jeweils das "Gott" nennt, was eben noch [!] gerade nicht erklärbar ist)

- bzw. (was dasselbe ist) womit die Wissenschaften sich derzeit befassen.