Feynmans Hände
requiem aeternam
dona eis domine Während meiner Schulzeit 1969 -1978 am
damals reaktionären Gymnasium Paulinum in Münster hatte ich in der Oberstufe das große Glück, zwei
beeindruckenden Lehrerpersönlichkeiten zu begegnen, nämlich dem
Deutschlehrer Heinz Wegmann (* 1922 † 2012) und dem Mathematiklehrer
Heinrich Beuckmann (* 1925 † 2018), die durch ihren Unterricht überhaupt erst mein
Interesse an diesen beiden Fächern geweckt und damit maßgeblich dazu
beigetragen haben, dass ich später selbst Deutsch- und
Mathematiklehrer geworden bin.
Heinrich Beuckmann ist mir vor allem in Aktion in Erinnerung: wie er mit seinen Händen und einigen Stiften die halbe Mathematik veranschaulichen konnte. Vielleicht habe ich ja von ihm den Drang nach Anschaulichkeit "geerbt". |
„Richard Phillips Feynman
[…] (* 11. Mai
1918 in Queens, New York; † 15. Februar 1988 in Los Angeles) war ein
US-amerikanischer Physiker und Nobelpreisträger des Jahres 1965.
Feynman
gilt als einer der großen Physiker des 20. Jahrhunderts, der wesentliche
Beiträge zum Verständnis der Quantenfeldtheorien geliefert hat. Zusammen mit
Shin’ichirō Tomonaga und Julian Schwinger erhielt er 1965 den Nobelpreis für
seine Arbeit zur Quantenelektrodynamik (QED). Seine
anschauliche Darstellung quantenfeldtheoretischer elementarer
Wechselwirkungen durch Feynman-Diagramme
ist heute ein
De-facto-Standard.
Für Feynman war es immer
wichtig, die unanschaulichen Gesetzmäßigkeiten der Quantenphysik Laien und
Studenten nahezubringen und verständlich zu machen. An Universitäten ist
seine Vorlesungsreihe (
The Feynman Lectures on Physics) weit verbreitet. In Büchern wie QED:
Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie
und Character of
Physical Law
wandte er sich an ein breiteres Publikum. Sein Charisma
und die Fähigkeit, auf seine Zuhörerschaft einzugehen, ließen seine Vorlesungen
und Vorträge legendär werden.
Seine unkonventionelle und
nonkonformistische Art zeigte sich auch in seinen autobiographisch geprägten
Büchern wie Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman. Abenteuer eines
neugierigen Physikers
und Kümmert
Sie, was andere Leute denken?
[…]“
(Quelle:
; Bilder und rote Schrift von mir [H.St.] ergänzt)
Wenn ich mich mit Schriftstellern oder Wissenschaftlern beschäftige, habe ich immer das Bedürfnis, Bilder von ihnen zu sehen: welche Persönlichkeiten stecken hinter ihren Büchern oder Erkenntnissen
(gucken sie freundlich )?
Eine erste kleine Internetrecherche lässt mich fast vermuten, dass das noch nie jemandem vor mir aufgefallen ist:
als ich letztens mittels Google nach Bildern von Richard Feynman gesucht habe, fiel mir sofort auf, dass auf diesen Bildern sehr häufig
(auf diesen beiden Bildern sieht er wie ein Dirigent aus;
die Zuhörer sind
dann die Instrumentalisten,
die die Sinfonie überhaupt erst zum Klingen
bringen),
Die letzten drei Bilder entstammen offensichtlich einem Film, in dem Feynmans Hände dann endlich auch in Bewegung zu bewundern sind:
Ein kurzer Ausschnitt daraus, in dem Feynman ein (hier halbwegs) schwieriges physikalisches Thema anhand der Kurvenfahrt eines Autos und eines Zuges erklärt:
Wenn man den Inhalt dieser Passage auf Englisch verstanden hat, kann man das Video sogar ohne Ton anschauen - und versteht dennoch allein anhand der Hände Feynmans alles
(und kann vielleicht sogar die Sprache halbwegs rekonstruieren):
Angenommen aber mal, man hätte anfangs von dem Video nur den Ton gehört
(und die englische Sprache gut verstanden):
Ich vermute, dass man ohne die Bewegung von Feynmans Händen von der Kurvenfahrt eines Autos und eines Zugs dennoch reichlich wenig verstanden hätte
(es sei denn, man hat vorher schon von Differentialgetrieben bei Autos und der speziellen Form von Zugrädern gehört).
Die Bewegung von Feynmans Händen ist also nicht nur eine nette, aber letztlich überflüssige Dreingabe, sondern (enorm wichtiger)Teil der Erklärung.
(Nebenbei: fast während des gesamten Videos lächelt Feynman, und das ist wohl kein festgefrorenes Dauergrinsen, sondern zeugt davon, dass er Spaß an dem Interview, am Erklären und schlichtweg an der Physik hat.)
Ein anderes Beispiel ist die Bildsequenz aus dem Titel dieses Essays
(vgl. den vollständigen Film ; nebenbei: hat jemand schon mal einen Nobelpreisträger bei einem Vortrag im Trainingsanzug gesehen?).
Hier nun ein ein bisschen längerer Filmausschnitt mit Ton, in dem Feynman die durch Wärme bedingte permanente Molekülbewegung in Wasser erklärt:
Interessant ist da, wie sich Sprache und Handbewegungen zeitlich zueinander verhalten:
"We can take a normal view on molecules as little balls or
little [Stille 1;
]
shapes of different kinds and er [= äh] [Stille 2;
] all the same kind actually, they are all
water molecules, and then they they [Stille
3;
]
pile together and jiggeling all the time next to each other, and this perpetual
jiggeling is er [= äh] [Stille 4;
] molecular motion."
(shape = Gebilde
to pile = anhäufen, rammen
to jiggle =
rütteln, wackeln)
zu „as little balls or little [Stille 1; ] shapes“:
Feynmans Hände formen schon „shapes“, bevor er das Wort „shapes“ findet. Die Hände sind also seinen Worten voraus.
zu „shapes of different kinds and er [= äh] [Stille 2; ] all the same kind actually“:
Feynman ist ein Fehler aufgefallen: da es um die Molekülbewegung in reinem Wasser geht, sind die Moleküle nicht „of different kinds“, sondern „all the same kind actually“. Das Verlegenheits-„er [= äh]“ signalisiert aber, dass er seinen sprachlichen Fehler nicht sofort korrigieren kann. Derart sprachlich aus der Bahn geworfen, kommen auch seine Hände fast zum Stillstand.
zu „and then they they [Stille 3; ] pile together and jiggeling all the time“:
Die Dopplung „they they“ signalisiert wieder eine Wortfindungsschwierigkeit: es dauert eine Weile, bis Feynman das Wort „pile“ findet. Seine Hände vollführen allerdings längst das “pile and jiggeling“, sind also seinen Worten wieder voraus.
Wie sehr Feynman wieder sprachlich aus der Bahn geworfen ist, zeigt auch der Grammatikfehler: es müsste „they […] pile together and are jiggeling“ statt „they […] pile together and jiggeling“ heißen.
(Feyman fällt also der Übergang vom momentanen „pile together“ zum andauernden „jiggelig all the time“ [= Verlaufsform] und dann „this perpetual jiggeling“ schwer.)
zu „this perpetual jiggeling is er [= äh] [Stille 4; ] molecular motion“:
Wie das erneute Verlegenheits-„er [=äh]“ signalisiert, hat Feynman wieder eine Wortfindungsschwierigkeit, und diesmal kommen seine Sprache und seine Handbewegungen gleichzeitig zum „Stillstand“, bevor er „molecular motion“ nachträgt.
Es scheint fast, dass er nach all dem Sprechen und all den Handbewegungen fast vergessen hat, um was es eigentlich geht bzw. was er illustrieren wollte, nämlich „molecular motion“.
Vielleicht war er aber auch so ins detaillierte Illustrieren vertieft, dass es ihm schwer fiel, wieder zum abstrakten Oberbegriff „molecular motion“ aufzutauchen.
Wenn aber das Verlegenheits-„er [= äh]“ nicht wäre, könnte man vermuten, dass Feynman mit absichtlich eine Kunstpause eingelegt hat, um in einer Art „Ruhe vor dem Sturm“ die Spannung auf die Quintessenz (nämlich „molecular motion“) zu erhöhen.
Soeben habe ich „Stillstand“ bewusst in Anführungszeichen geschrieben, weil mit deutlich wird, dass
(wie ja auch seine Beine fast während des gesamten Filmausschnitts in Aktion sind):
Feynman agiert in dem Filmausschnitt also unter Einsatz seines ganzen Körpers - und scheint überhaupt ein arger Zappelphilipp gewesen zu sein.
Dass zumindest seine Hände kaum stillstehen konnten, wird auch an seinem in Physiker-Kreisen legendären Hobby deutlich, nämlich dem Bongo-Spielen:
So eloquent Feynman allemal war, so scheint er mir doch Schwierigkeiten gehabt zu haben, gleichzeitig mit seinen Händen rumzufuchteln und zu sprechen, ja, er scheint manchmal derart in seine Handbewegungen abgetaucht zu sein, dass ihm für Sekunden die Sprache abhanden kam.
Summa summarum:
Feynman kommt mir vor wie jemand, der spricht und gleichzeitig (?) in Gebärdensprache dolmetscht
(wobei manchmal das Ei [die Sprache] und manchmal die Henne [die Handbewegungen] eher da ist);
da - wie gezeigt - Feynmans Hände manchmal seiner Sprache vorauseilen, könnte man in Analogie zu Heinrich von Kleists Aufsatz "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" sagen:
in dem Filmausschnitt schauen wir Feynman dabei zu, wie er mittels Bewegung der Hände seine Gedanken verfertigt. |
"Wenn Cecilia sprach [...], dann gestikulierte sie, als
ob ihre Hände ein Eigenleben führten."
(Quelle:
)
Feynmans Äußerung "I was [= Vergangenheit!] a normal person who studied hard" ist vermutlich genauso ein understatement wie Einsteins "Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig". Oder solche Äußerungen sind vielleicht nicht wörtlich, sondern didaktisch in dem Sinne gemeint, dass jeder so schlau werden kann wie Feynman und Einstein, wenn er eben "nur" hart arbeitet oder (leidenschaftlich!) neugierig ist und bleibt.
Außer harter Arbeit scheint mir Feynman aber noch andere Begabungen gehabt oder sich "hart" erarbeitet zu haben:
seine schon genannte Eloquenz,
seine Fähigkeit, schwierige physikalische Sachverhalte in einfachen Bildern (u.a. Handbewegungen) auszudrücken (vgl. oben Auto / Zug),
seine Körper- und vor allem Hände-Sprache.
Feynman war
weder ein zerstreuter und weltfremder Professor
noch ein Nerd
(Musterbeispiel eines solchen Nerds ist die Kunstfigur Sheldon Cooper aus der Fernsehserie ;
Sondern Feynman war quicklebendig und bei öffentlichen Auftreten ein charmanter Strahlemann.
(Im Privatleben war das naturgemäß öfters auch anders:
"In contrast to his brilliant scientific career, Feynman’s
personal life was mostly [?] tragic and troubled. After just three years of
marriage to his beloved high-school sweetheart, she died of tuberculosis in 1945
[...]. Her death tipped him into years of nihilism and depression [...]. His
second marriage in 1952, to a flame he had met at Cornell, soon ended because,
as she complained during the divorce proceedings, »He begins working
calculus problems in his head as soon as he awakens. He did calculus while
driving his car, while sitting in the living room, and while lying in bed at
night.«
Yet from this emotional turmoil came - at last - a gentle and
stable life. [...] in 1958 [...] he met a 24-year-old English au pair [...]. The
two eventually married, raised two children, and lived together happily in
Pasadena until his death from cancer in 1988."
[Quelle:
])
Nun könnte man natürlich sagen, Feynmans Veranschaulichungsfähigkeit sei nur ein didaktisches Mittel, um Laien oder Studenten besonders einfach Physik zu vermitteln,
Diese Trennung von Forschung und Lehre hat Feynman aber nicht mitgemacht:
„If you want to master something, teach it. The more you teach, the better you learn. Teaching is a powerful tool to learning.“
So gesehen ist auch ein Lehrer immer ein Lernender (Schüler, Forscher).
(Es ist ja eben der Fehler vieler Lehrer, dass sie
Wie langweilig das doch schon allein für die Lehrer selbst ist - und in Folge davon auch für die Schüler!)
Ich vermute also,
dass Feynmans Veranschaulichungsfähigkeiten (u.a. mit den Händen) auch ihm selbst bei seinen Forschungen geholfen haben - und dass er überhaupt erst dadurch zum Nobelpreisträger geworden ist. |
(Um diese These zu untermauern, hätte ich Feynman doch allzu gerne mal insgeheim in seinem Arbeitszimmer beobachtet: )
Ein Beispiel sind da die o.g. Feynman-Diagramme , die
Aber nicht nur Feynman hat viel mit Veranschaulichungen gearbeitet, sondern z.B. auch die Nobelpreisträger
die allesamt während ihrer Forschungen den Steckbaukasten benutzt haben.
Und die beiden Nobelpreisträger Francis Crick und James Watson (beide Medizin-Nobelpreis) haben die DNA überhaupt nur entdecken können, indem sie (u.a.) ganz hand(!)werklich rumgebastelt haben:
Feynman war Physiker. Weil aber die heutige theoretische Physik durch und durch mathematisiert ist
(„Es ist unmöglich, die Schönheiten der
Naturgesetze angemessen zu vermitteln, wenn jemand die Mathematik nicht
versteht. Ich bedaure das, aber es ist wohl so.“
. [Richard Feynman]),
gilt das Gesagte wohl auch für die Mathematik:
99 % der Mathematik mögen Jonglieren mit Rechnungen sein,
aber 1 % muss auch Veranschaulichung (u.a. mit Händen und Füßen) sein, und zwar
nicht nur für Anfänger,
sondern auch für Profis an der vordersten Front der mathematischen Forschung:
wer nicht zumindest ab und zu durch den allemal wunderbaren Automatismus der Gleichungen hindurch schaut und dahinter Anschauliches entdeckt
(vgl.
bleibt ein Rechenautomat und Erbsenzähler, wird also nie Nobelpreis- bzw. in der Mathematik Fields-Medaillen-Träger
"Er [= Feynman] reduzierte die Physik nicht einfach auf eine Folge von Gleichungen, sondern besaß die Intuition, den Kern der Dinge [des Pudels Kern!] zu »schauen« [!].", also das, "was die Welt [oder zumindest die Gleichungen] im Innersten zusammenhält": ;
Nebenbei: den entscheidenden "Kick" hat Heisenberg erfahren, als er 1925 wegen seines starken Heuschnupfens nach Helgoland geflohen ist:
"Hier verbrachte der junge Heisenberg die nächsten
Wochen, in denen er [...] den West-östlichen Divan von Goethe [!] auswendig
lernte und die Quantenmechanik begründete.
[...]
In seiner Autobiographie
schildert Heisenberg,
was in einer langen Nacht auf Helgoland passierte, als er den Weg zu den Atomen
fand. Wie Kolumbus auf dem Weg nach Amerika, so hätte er sich gefühlt."
[Quelle:
]
Feynman allerdings konnte - so in nachzulesen - mit Goethe
[oder genauer mit , über den er im Studium einen Aufsatz schreiben musste]
gar nichts anfangen.)
Drei Nummern kleiner im Hinblick auf Mathematik-Unterricht in Schulen:
man achte darauf: manchmal sind (wie bei Feynman) die Hände der Schüler schlauer als ihre Köpfe
;
im Mathematikunterricht muss sehr viel mehr mit den Händen getan werden
(womit weder Schreiben mit der Hand noch das Tippen auf Tablets
[also zweidimensionale Tätigkeiten ]
gemeint sind):
Vgl. auch, wie der Schwede Jonas von Essen sage und schreibe 100 000 Nachkommastellen von auswendig runterrasselt - und dabei neben Merktechniken seine Hände benutzt:
PPS: