GIGANTISCH

 
 

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Ich bin ja sowieso skeptisch gegenüber jeder allzu klaren Epochenabgrenzung, weil dadurch die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"

(dass Altes weiterlief und Neues noch lange nicht ganz durchgesetzt war)

ebenso unsichtbar gemacht wird wie Vorläufer.

Vielleicht bestand aber dennoch der wichtigste Schritt der "Neuzeit"

(ab ca. 1500; oder genauer: seit 1492, also der Entdeckung Amerikas?)

darin

(oder wurde sie dadurch überhaupt erst zur "Neuzeit"?),

dass sie

etwas Undenkbares und vielleicht auch Irreales , nämlich die Unendlichkeit, dennoch zu denken wagte

(oder genauer: auf neue Art, nämlich nicht mehr theologisch).

Die geschah in verschiedenen, teilweise abstrakten Formen:

(Asien, aber vor allem Amerika),

(der Heliozentrik des Kopernikus, aber vielleicht sogar noch mehr bei Giordano Bruno, der unendlich viele Welten [Sonnensysteme oder gar Universen?] annahm),

(vor allem parallel durch Newton und Leibniz begonnenen)

Behandlung/Verwendung des unendlich Kleinen in der "Infinitesimalrechnung" (Ableitung, Integration):

"in|fi|ni|te|si|mal (Math. zum Grenzwert hin unendlich klein werdend)"
(Duden)

vgl. auch "Projekt Unendlichkeit"


Wie schon die o.g. Skepsis gegenüber Epocheneinteilungen ahnen ließ:

so ganz neu war das allerdings auch wieder nicht, denn schon die alten Griechen wussten nicht nur, dass es unendlich viele natürliche Zahlen ( 1, 2, 3 ...) gibt, sondern konnten auch beweisen (!), dass es unter diesen auch unendlich viele Primzahlen gibt.

Aber das blieb alles noch im Reich der platonischen Ideen ("potenzielle Unendlichkeit") und wurde nicht in Korrelation mit einer evtl. tatsächlich unendlichen Welt gedacht ("aktuale Unendlichkeit")

(... wobei ich mir keineswegs sicher bin, ob ich hier die Begriffe "potenziell" und "aktual" halbwegs richtig verwende - und Denkansätze der Antike halbwegs richtig beschreibe).


Wie schon gesagt, war vermutlich die Betrachtung/Verwendung des unendlich Kleinen für die moderne Mathematik erheblich wichtiger als die des unendlich Großen.

Dennoch möchte ich mich hier mit Letzterem, also dem unendlich Großen, beschäftigen, und zwar weitgehend innermathematisch.


Dass es - wie schon gesagt - unendlich viele natürliche Zahlen gibt, ist geradezu eine Banalität: man zählt einfach immer weiter. Das kleine Problem dabei ist allerdings

(und so banal ist das Ganze dann also wohl doch nicht!),

dass man selbstverständlich nicht tatsächlich ("aktual") ewig weiter zählen kann

(selbst wenn man ein Leben lang nichts anderes täte, würde man doch irgendwann zwecks Sterben mit dem Zählen aufhören müssen).

Aber dennoch kann man sich das "ewig weiter" gut als Möglichkeit ("potenziell") vorstellen, und solch intuitives Verstehen eines jeden Menschen haben sich die Mathematiker clever zunutze gemacht:

um zu beweisen, dass es unendlich viele natürliche Zahlen gibt,

(wobei es unerheblich ist, wie viele natürliche Zahlen es dann gäbe und welche die größte wäre);

Man mache sich mal eindrücklich klar, was

(für die Mathematik geradezu Typisches und nur von ihr Leistbares)

hier passiert ist:

geradezu paradoxerweise wurden

  • unendlich viele Fälle

  • in nur fünf Unterpunkten, also mit endlich vielen Buchstaben und in endlicher Zeit erledigt!


Trotzdem empfinde ich die unendliche Anzahl der natürlichen Zahlen ( 1, 2, 3 ...) als banal: sie folgen einfach zu stumpfsinnig aufeinander, indem die Folgezahl immer um 1 größer ist als die vorherige, und das tagein, tagaus bis in alle blödsinnige Ewigkeit:

"und noch eine und noch eine und noch eine ..."

Und ebenso banal und langweilig ist, dass es - stumpf abwechselnd hintereinander - unendlich viele ungerade Zahlen (1, 3, 5 ...) bzw. unendlich viele gerade Zahlen (2, 4, 6 ...) gibt

(... wovon wir uns im Folgenden nur die geraden vornehmen; für die ungeraden gilt dasselbe).

Viel erstaunlicher (gehirnausrenkender) finde ich da schon, dass es - wie Cantor gezeigt hat - genauso viele gerade Zahlen (2, 4, 6 ...) wie natürliche Zahlen ( 1, 2, 3, 4, 5, 6 ...) gibt, obwohl doch offensichtlich die geraden Zahlen eine echte Teilmenge der natürlichen Zahlen sind.

Um das zu zeigen, hat Cantor die geraden Zahlen einfach

(einfach? - man muss erst mal drauf kommen!)

mittels der natürlichen Zahlen abgezählt:

Und derart lässt sich nun nacheinander jeder geraden eine natürliche Zahl zuordnen (und umgekehrt), also gibt es gleichviele gerade und natürliche Zahlen.

Nunja, vielleicht ist es dennoch banal, denn die Hälfte von unendlich ist noch immer unendlich bzw. mit "unendlich" lässt sich halt nicht rechnen.


Viel interessanter als alle natürlichen Zahlen bzw. die geraden oder die ungeraden Zahlen ist nun aber eine merkwürdige Subspezies der natürlichen Zahlen, nämlich die Primzahlen

... also solcher Zahlen, die (glatt) nur durch 1 und sich selbst teilbar sind.


Nur ganz kurz möchte ich auf die Bedeutung dieser Primzahlen eingehen:

  1. innermathematisch: jede natürliche Zahl lässt sich in ihre Primfaktoren zerlegen

(also beispielsweise 30 = 235),

so dass man die Primzahlen als die Grundbausteine (sozusagen die DNA) der natürlichen Zahlen ansehen kann;

  1. Primzahlen sind geradezu das Fundament aller Verschlüsselung, die in unserem elektronischen Zeitalter immer wichtiger wird. Warum das so ist, sei hier nicht näher erklärt

(vergleiche etwa ).

Wichtig ist hier nur, dass es beim Ver- und (höchst gefährlichen) Entschlüsseln ungeheuer wichtig ist zu wissen, wo Primzahlen liegen bzw. wie man sie konstruieren kann.


Zwar konnten schon die alten Griechen (Euklid) beweisen, dass es

(innerhalb der unendlich vielen natürlichen Zahlen)

unendlich viele Primzahlen gibt

(vgl. den herrlichen [herrlich hinterfotzigen] Beweis, wie er z.B. in dargestellt ist).

Aber dieser Nachweis der unendlich vielen Primzahlen macht alles nur um so schwieriger, weil bislang unklar ist, wo sie denn genau liegen: trotz unendlicher Bemühungen ganzer Mathematikergenerationen fehlt eine (einzige) Formel, mit der man sämtliche Primzahlen errechnen kann.

Vielmehr scheinen sich die Primzahlen völlig chaotisch bzw. sehr eigenwillig zu verhalten und je nach (uneinsehbarer) Lust und Laune aufzutreten und dann auch wieder zu verschwinden.

Bislang gibt es fast nur unbewiesene Vermutungen, beispielsweise

(Beispiel: zwischen den beiden Primzahlen 11 und 13 liegt nur die gerade Zahl 12);

(es scheint unklar, ob diese [dann ehemalige] Vermutung inzwischen doch bewiesen ist; vgl. ebenfalls ).

Im Grunde besagt die Riemannsche Vermutung, dass die Primzahlen für sehr große Zahlen "im Schnitt" immer seltener auftreten.

Vgl. auch .

Umgekehrt gibt es ziemlich vertrackte "Existenzbeweise" wie beispielsweise den, dass es zwischen den Primzahlen beliebig große Lücken gibt.

(Also gibt es beispielsweise Primzahlen, zwischen denen 100 oder 1000 ... Nicht-Primzahlen liegen).

Das ebenso Vertrackte wie Erstaunliche an diesen Existenzbeweisen ist dabei, dass man zwar weiß, dass es solche beliebig große Lücken gibt, nicht aber, wo sie liegen.


Gute Kandidaten für Primzahlen sind Zahlen der Form 2p–1,  wobei p wiederum eine Primzahl ist

(z.B. ist 23 - 1 = 8 - 1 = 7 eine Primzahl).

Wohlgemerkt: es gibt auch Primzahlen (z.B. 5) , die nicht als Ergebnis der Formel 2p–1 darstellbar sind, d.h. die Formel 2p–1 liefert (wenn überhaupt) nur einige, garantiert aber nicht alle Primzahlen.

"Gute" Kandidaten für Primzahlen sind die Zahlen der Form 2p–1 aus verschiedenen Gründen:

  1. glaubte man bis 1536, dass all diese Zahlen Primzahlen seien.

1536 zeigte Hudalricus Regius zwar, dass 211–1 = 23 • 89 und somit keine Primzahl ist.

  1. liefert aber die Formel 2p–1 zwar nicht immer, aber doch bis heute sehr verlässlich Primzahlen.

  2. und vielleicht am Wichtigsten: bei Zahlen der Form 2p–1 ist relativ einfach überprüfbar, ob sie Primzahlen sind

(vgl. ).


"Relativ einfach" bedeutet in Wirklichkeit dennoch, dass der Nachweis teuflisch schwierig bleibt - und daher inzwischen nur noch im Verbund vieler Computer angegangen werden kann

(ein Verbund, an dem sich nebenbei jeder Computerbesitzer beteiligen kann!;

vgl.   ).

Inzwischen (Oktober 2006) wurden auf diesem Wege immerhin schon

(zusätzlich zu den bereits vorher bekannten 34)

zehn neue "Mersenne-Zahlen"

(d.h. Zahlen der Form 2p–1, die tatsächlich Primzahlen sind)

gefunden, die zudem nacheinander die jeweils größten überhaupt bekannten Primzahlen waren.

Die seit dem 4. Oktober 2006 bekannte (erwiesene) 44. und damit bislang größte bekannte Mersenne- und Primzahl ist

232.582.657-1,

wobei 32.582.657 selbst eine Primzahl ist.

Ausgeschrieben besteht diese Zahl

9.808.358 Ziffern


Jede Wette, dass dieser Rekord schon bald übertroffen wird. Aber bereits an ihm wird das im Titel behauptete GIGANTISCHE endlich mal "anschaulich":

Was heißt eigentlich "9.808.358 Ziffern"?

9.808.358 ist nämlich zwar eine ziemlich einfache Zahl

(da eine natürliche Zahl irgendwo in der Gegend von zehn Millionen),

aber - obwohl noch "relativ" klein - bereits unvorstellbar groß.

Beispielsweise kann ich mir unter 9.808.358 €

(geschweige denn unter dem Vermögen von Bill Gates)

reichlich wenig vorstellen. Meine gerade noch vorstellbare Maßeinheit für Geld sind die Kosten eines mittleren Reihenhauses, also ca. 300.000 €

(da zahlt ein Normalsterblicher ein Leben lang dran ab, so dass 300.000 € etwa ein Leben "ist"!).

9.808.358 € sind für mich hingegen gar nicht mehr in einer "Einheit" vorstellbar, sondern nur als Ansammlung, nämlich von ca. 32 Reihenhäusern

(einem ganzen Reihenhaus-Straßenzug oder gar -Viertel).

Nun ist es aber noch ein gewaltiger Unterschied zwischen

(Hier nun spätestens wird auch der Titel "10GIGANTISCH" verständlich:

Wie also sieht eine Zahl mit 9.808.358 Ziffern ausgedruckt aus?

Hier nun also die erste Seite:

Insgesamt aber bedarf es für die 9.808.358 Ziffern aber

(je nach Schriftgröße, Seitenformat und Satzspiegel variierend; bei mir sind´s ...)

1168 solcher Seiten, also eines schweren Wälzers!


Dabei ist es herzhaft egal, ob es für diese bislang größte Mersenne-Zahl noch irgendeine Anwendung gibt. Vielmehr zählt allein der Genuss an solcher Gigantomanie - und vielleicht ist alles nur eine einzige hübsche Eselei:


Wie gigantisch die Zahl die 44. Mersenne-Zahl 232.582.657-1ist, kann man sich auch durch Vergleich mit großen Zahlen in der "Wirklichkeit" klar machen

(wobei diese großen Zahl aus der Natur ihrerseits unvorstellbar groß sind):

Vermutete Daten des Universums:

(zitiert nach )

Die größte dabei auftauchende Zahl ist die Anzahl der Photonen ("Lichtteilchen"). Als 1088 ist sie eine Zahl mit 88+1 = 89 Ziffern, nämlich

1 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 000000000

... was allerdings nur etwa

der Zifferndarstellung von 232.582.657-1 entspricht!

232.582.657-1 ist also über jede mögliche "Anwendung" hinaus gigantisch und wird höchstens noch von anderen rein mathematisch konstruierten Zahlen übertroffen:

[also erheblich mehr, als es Photonen im Weltall gibt!?]

  verspricht;
  dabei ist ein Googol mit lächerlichen 101 Stellen noch kleiner als 
232.582.657-1),

Von wegen "UnendlichGIGANTISCH": der schon genannte Cantor hat in der Tat verschiedene "Stufen" der Unendlichkeit nachgewiesen

(vgl. ).


Nun sind an der 44. Mersenne-Zahl sicherlich nicht die einzelnen Ziffern interessant

(wenn man die Seiten ausdruckt, sehen sie alle ziemlich gleich aus),

sondern

  1. ihre schiere Länge,

  2. die schon erheblich interessantere Frage, ob es in der Ziffernfolge irgendwelche Regelmäßigkeiten gibt:

(und doch fast unbegreiflich)

kaum verwunderlich, wenn Sie in der 9.808.358-stelligen Zahl häufig beispielsweise Ihre Telefonnummer (ohne Vorwahl) oder regelmäßige Zahlenkombinationen wie etwa "111111" oder "666" (die Zahl der Apokalypse!) finden. Bei meiner (fünfstelligen) Telefonnummer war das über 100 mal der Fall.

Wenn Sie es ausprobieren wollen, finden Sie hier die komplette 44. Mersenne-Zahl:

(Vorsicht, fast 10 MB - und zudem mit dem Nachteil behaftet, dass alle Ziffern in einer einzigen, auf dem Computer aber nur in kürzesten Ausschnitten sichtbaren Zeile stehen, man also kaum einen Eindruck von der gigantischen Länge der Zahl erhält.)


PS: Das Unendliche bleibt weitgehend undenkbar, bzw. wir können uns nur partiell an es herantasten.

Oder doch nicht?:

"Gäbe es in räumlichen Verhältnissen etwas Vergleichbares [zur Unerreichbarkeit des Lichts laut der Relativitätstheorie Einsteins], so hätte dieses Objekt die Eigenschaft, daß es sich, wohin Sie auch gingen, immer in der gleichen Entfernung von Ihnen befände. Weder könnten Sie näher an das seltsame Objekt herankommen noch sich von hm entfernen. Der Abstand bliebe immer gleich. Dies ist das Wesen der Unendlichkeit. Ganz gleich, wie nahe man herangeht oder wie weit man sich entfernt, es bleibt immer der gleiche unendliche Abstand."
(Arthur Zajonc; rote Hervorhebung von mir, H.St.)