die Grenzen der Veranschaulichung
("Spiegel", 42, 17.10.05)
"[...] eine ausführliche portugiesische Grammatik, trocken wie ein Lateinbuch, ohne Firlefanz zur angeblichen Erleichterung des Lernens [...]" "Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)." "Soviel ich auch über Chemie nachdenken könnte, existieren kann sie für mich nicht ohne diese physikalischen, visuellen, berührbaren, sinnlichen Dinge." "Alles klar? Wenn nicht, dann denken Sie daran, dass das Schöne [!] an der Topologie ist, dass sie manchmal unsere Vorstellungskraft übersteigt." "Anders als die meisten Zeitgenossen wusste Leonardo [da Vinci] zwar das, was er sah, in Zweifel zu ziehen - doch dazu, auf die Anschauung ganz zu verzichten, war er als extremer Augenmensch weder gewillt noch imstande. Doch Wissenschaft ist das Geschäft, sich vom Offensichtlichen zu befreien: Die Welt ist nicht flach, und Vögel bleiben nicht in der Luft, weil sie flattern, sondern einzig, weil ihre Flügel strömungsgünstig gebaut sind [...]" "Die Grundauffassung aller Wissenschaftler ist, dass die Welt nicht nach dem gesunden Menschenverstand funktioniert." |
Nun gibt es zwar zu jedem Quatsch irgendwelche "Experten", die etwas irrwitzig wichtig Neues
(am besten genetisch :-)
"beweisen", aber nehmen wir Untersuchung, von der da im "Spiegel" gesprochen wird, doch probeweise mal ernst.
Was also ist da - nach den knappen Informationen, die der "Spiegel" bietet - zu veranschaulichen versucht worden?: Zahlen und vor allem "schlichte, abstrakte Symbole", und letztere z.B. in der Form "Stern plus Schneeflocke ergibt Tropfen".
Mein Einwand ist da ein doppelter:
haben schon allein die Wörter, aber auch die Bilder "Stern", "Schneeflocke" und "Tropfen" rein gar nichts mit dem grundlegenden mathematischen Problem (nämlich der Addition x + y = z) zu tun,
ist "Stern plus Schneeflocke ergibt Tropfen" eine absurde Geschichte, die somit vom mathematischen Problem nur ablenkt, wenn nicht gar das Bild, Mathematik sei sowieso absurd, verfestigt.
(Nebenbei: die Kombination "Stern/Schneeflocke/Tropfen" erinnert mich an die drei Walzen in einem
.
Aber bei solch einem Spielautomaten wird immerhin nicht behauptet, dass die verschiedenen Symbole in einem logischen Zusammenhang stehen oder gar die ersten beiden das dritte ergeben.)
So gesehen möchte ich den Forschern von der Ohio State University in Columbus nur zurufen: durch schwachsinnige Beispiele habt ihr ja überhaupt erst dafür gesorgt (von Anfang an beweisen wollen?), dass die Veranschaulichung versagt.
(Und nebenbei:
die allermeisten Computer-Lernspiele sind ja sowieso so splitterfaserdumm, dass damit wahrhaft keinE SchülerIn
was lernen kann, denn in der Regel wird da Mathematik nur in nette Abenteuergeschichten sowie Grafik und Sound verpackt [verschämt mit ihnen verborgen oder "untergejubelt"], statt mit ihnen verdeutlicht zu werden; ich werde also das Gefühl nicht los, dass diese Computer-Lernspiele allein von DesignerInneN und ProgrammiererInneN, aber nicht in Kooperation dieser mit MathematikerInneN entworfen wurden;wenn es den Forschern anscheinend um x + y = z, also eben auch die Verwendung von Variablen ging, so fände ich ein anderes Bild erheblich hilfreicher, nämlich das des Heinzelmännchens [vgl. ].)
Dennoch ist an der These der Forscher ja durchaus was dran. Um es an einem einzigen meiner selbstgewählten Beispiele zu zeigen:
es macht durchaus Sinn, die Form der Graphen von ganzrationalen Funktionen vierten Grades mittels
einzubläuen
Eine Zeitlang sollen die SchülerInnen dann auch tatsächlich in (!) "ärschen" denken
(wobei ja manchmal all die Arschgesichter , von denen man ummauert ist, eine gute Gedächtnisstütze sein können).
Denn solch ein Hintern steht ja immerhin
(anders als "Stern/Schneeflocke/Tropfen")
im Zusammenhang mit dem mathematischen Problem, denn da ähneln sich nunmal zwei Formen.
(... wobei durchaus bemerkenswert ist und dringend mit behandelt werden sollte, wo - wie so oft bei Modellen - die Parallele versagt: bei den entsprechenden Funktionsgraphen fehlt die "Ritze" bzw. gibt es, mathematisch gesagt, keine Undifferenzierbarkeitsstelle.)
Und diese Ähnlichkeit ist hilfreich, weil da etwas (allzu) Alltägliches dazu beiträgt, etwas Neues (Mathematisches) zu strukturieren und merkbar zu machen.
Und dennoch:
gibt es Sachverhalte, die (zumindest in ihren letzten "Tiefen") unumgehbar abstrakt bleiben, so dass
es vielleicht gar keine Veranschaulichungen für sie gibt
oder zumindest jede Veranschaulichung nur zeitweise hilft, aber auch wichtige (herauszuarbeitende!) Aspekte verbirgt oder entstellt
Mathematik ist ihrem Wesen nach Abstraktion
(auch, um innermathematische Übertragungen und solche auf Anwendungen überhaupt erst möglich zu machen),
d.h. Veranschaulichungen sind immer nur zeitweilige Gehhilfen.
Und (nochmals) dennoch wette ich, dass die allermeisten MathematikerInnen sich mit (oftmals subjektiven) Veranschaulichungen helfen und
damit teilweise überhaupt erst zu neuen Entdeckungen kommen,
dadurch aber manchmal auch auf Holzwege geraten.
"Veran»schau«lichung" kann auch bedeuten, dass MathematikerInnen beispielsweise gelungene Formeln, Sätze und Beweise als besonders "musikalisch" empfinden oder dass ihnen der Beginn einer "Melodie" auch zu ihrem Ende hilft.