katastrophal schlechte Mathematik-Kenntnisse?
der Anlass |
1. Zwischenüberlegung: Sinn und Zweck von Prozentrechnung und Dreisatz |
2. Zwischenüberlegung: die Repräsentativität des Problems |
eine kleine "Umfrage" |
Inzwischen auch ganz schön etabliert, stand man beim Sektfrühstück beieinander und erging sich wie seit Menschengedenken in Klagen über "die Jugend von heute".
(Ich hatte mich noch gar nicht als [Mathematik-]Lehrer - und damit eigentlich Schuldiger - geoutet, wenn man Lehrer vielleicht auch zehn Meilen gegen den Wind erkennen kann; wie ein Gast hinterher sagte: Lehrer wissen alles besser und machen schon Lösungsvorschläge, wenn es noch gar kein Problem gibt.
Nebenbei: es ist einem ja doch immer ein wenig peinlich, sich als Lehrer zu outen, weil man damit rechnen muss, dass dann alle Vorurteile der Welt auf einen niederprasseln.)
Ein Bäckermeister erzählte von den Schwierigkeiten mit den Auszubildenden. Das Problem seien weniger Faulheit, Desinteresse usw. (solche Leute sondere man schon in der Probezeit aus) als vielmehr miserabel schlechte Leistungen in der Berufsschule und da insbesondere im Fach Mathematik. Bei einer der derzeitigen Auszubildenden, die ansonsten ganz "anstellig" sei, fehle es schlichtweg im Gehirn an "Speicher".
Woraufhin ein Kinderarzt einen draufsetzte und sagte, er habe inzwischen begonnen, vor der Einstellung von Auszubildenden eine kleine Prüfung abzuhalten. Und er sei doch letztens ziemlich entsetzt gewesen, als (immerhin) eine Realschülerin nicht mal die Prozentrechnung und den Dreisatz beherrscht habe.
1. Zwischenüberlegung:
Sinn und Zweck von Prozentrechnung und Dreisatz
Vorweg sei mal probeweise der Annahme gefolgt, dass durchaus exemplarisch ist, was da läuft; dass also wenn auch vermutlich keineswegs alle, so doch viele (immer mehr?) Auszubildende inzwischen derart (mathematisch) unfähig sind.
Es ist nicht mein "Amt" und ich habe auch zu wenig Ahnung, da zu widersprechen. Ich neige also dazu,
kritische, wenn nicht gar vernichtende Urteile über die mathematischen Fähigkeiten von SchülerInnen nicht pauschal anzuzweifeln oder abzulehnen, sondern frage mich eher: und was ist, wenn da immerhin teilweise was dran ist?
Ich finde es doch in mehrfachem Sinne bemerkenswert, was da läuft:
vertrauen "die" ArbeitgeberInnen anscheinend nicht mehr im mindesten den Schulnoten (und damit der Schule überhaupt), sondern führen ihre eigenen Prüfungen durch. Dahinter scheint zu stecken: dass jemand einen Schulabschluss hat, besagt rein gar nichts, den bekommt heute ja (angeblich) jedeR (hinterhergeschmissen).
als Inbegriff von (alltäglich notwendiger) Mathematik werden da Prozentrechnung und Dreisatz angesehen.
Da frage ich mich, ob das ein Klischee ist.
(Vielleicht sind Prozentrechnung und Dreisatz nur das einzige, was der Kinderarzt noch aus seiner eigenen Schulzeit kennt - und also abprüfen kann.
Es wäre doch durchaus denkbar, dass Prozentrechnung und Dreisatz ein innermathematischer Mythos sind - und eben gerade nicht einer Anwendungsnotwendigkeit entspringen. Vgl. etwa den ach so wohlklingenden "Satz des Pythagoras", an dessen Namen sich garantiert jedeR SchülerIn erinnert, bei dem man aber auch lange suchen muss, um eine wirklich alltägliche Anwendbarkeit zu finden:
Prozentrechnung und Dreisatz gelten geradezu als Inbegriffe einer nicht nur vielfach anwendbaren, sondern auch sehr einfachen Mathematik:"wenn jemand nicht mal die Prozentrechnung und den Dreisatz beherrscht, was kann er dann denn überhaupt?"
(eine rhetorische Frage mit der klaren Antwort "nichts")Das könnte in doppeltem Sinne ein Trugschluss sein:
beherrschen die SchülerInnen vielleicht nicht [mehr] Prozentrechnung und Dreisatz, dafür aber wichtige andere mathematische Inhalte - die der Kinderarzt nur selbst nicht mehr kennt und deshalb auch nicht abprüft;
sind Prozentrechnung und Dreisatz vielleicht gar nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint, ja benutzt der Kinderarzt sie vielleicht gerade deshalb, weil sie schwierig und gerade deshalb in Erinnerung geblieben sind. Immerhin ist der Dreisatz dafür bekannt, dass er in der 7. Klasse [zumindest wenn er so wie bisher unterrichtet wird] zu den ersten Totalaussetzern bei SchülerInnen führt.)
Oder steckt da eine innere Notwendigkeit hinter: brauchen also ArzthelferInnen, um die es hier ja wohl geht, tatsächlich im beruflichen Alltag insbesondere Prozentrechnung und den Dreisatz?
Wie schon bei ist meine erste Reaktion auf die Mitteilung, dass SchülerInnen die Prozentrechnung und den Dreisatz nicht beherrschen, keineswegs ungläubiges Staunen
("das müssten die aber eigentlich können, bzw. wenn jemand das nicht kann, muss er schon ganz besonders dumm sein"),
sondern es wundert mich nicht mal, ja, ich würde fast (!) sagen:
Selbstverständlich können DurchschnittsschülerInnen sowas nicht. |
D.h. ich halte (ohne jeden Beleg) solche Unfähigkeit für durchaus repräsentativ, bzw. der Kinderarzt hat schon falsch gefragt, nämlich nicht nach dem, was SchülerInnen vielleicht sogar können, sondern versehentlich ausgerechnet nach dem, was sie garantiert nicht können.
Nun habe ich zwar keine Ahnung, welche Rolle Prozentrechnung und Dreisatz in Realschulen spielen, aus denen vermutlich nach wie vor die meisten ArzthelferInnen "stammen"
(und ich habe auch keine Lust, das jetzt zu eruieren).
Aber ich kann doch fürs Gymnasium sprechen: in ihm werden Prozentrechnung und Dreisatz zwar mal durchgenommen, spielen aber doch - zumindest am mathematischen Gesamtprogramm gemessen - eine eher untergeordnete Rolle. Zudem sind beide Stoff der 7. Klasse, d.h. drei Jahre später (beim Realschulabschluss nach der 10. Klasse) doch längst vergessen - und daraus sollte man Konsequenzen ziehen: .
Vgl. die Diskussion, die vor einigen Jahren um das Buch geführt wurde:
Mathe lernen - und wieder vergessen
Was Erwachsene an Mathematik benutzen, lernen sie in den ersten sieben Schuljahren.
Das Wissen aus der Oberstufe wird später kaum noch gebraucht.
Bärbel Schubert / WZ (9. Januar 1996)
Sinus und Cosinus, Integrale, Differenziale und alles, was den Schülern nach den ersten sieben Schuljahren in Mathematik noch abverlangt wird, spielt im späteren Leben meist keine Rolle mehr. Mit dieser provokanten These in seiner Habilitierungsschrift über den Beitrag der Mathematik zur Allgemeinbildung brachte der Wissenschaftler Hans Werner Heymann (Bielefeld) vor kurzem die Fachwelt in Bewegung.
Was Laien durch eigene Erfahrung spontan einleuchtet, stieß Mathematiklehrern und Professoren sauer auf. Zwar wurde Heymann mit seinem Beitrag wohl zum bekanntesten Nachwuchsprofessor des Jahres 1995. Doch die mathematische Fachwelt reagierte mit Unverständnis bis Wut.
Jetzt rechtfertigte Heymann seine Thesen in Bonn. "Studienräte unterrichten oft Fächer und nicht Kinder", pflichtete ihm Otto Herz von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zu der Frage "Lehren unsere Schulen das Falsche?" bei. Seine These: Wenn heute Schule oft langweilig ist, dann, weil sie in Fachtraditionen verhaftet bleibt. Die Köpfe der Kinder seien aber keine Depots für rasch veraltendes Wissen.Aber genau dies hatten die traditionellen Mathematik- Fachvertreter in ihrer Kritik auf Heymanns Thesen hin verlangt. Nicht weniger, sondern mehr Mathematik sollen Kinder lernen, um die hochtechnisierte Welt zu verstehen. Doch Heymann wie andere Erziehungswissenschaftler hielten dagegen: Bis zur achten Klasse lernen Kinder in der Regel ihr mathematisches Handwerkszeug: Prozentrechnung, Zinsrechnung und Dreisatz. Auch zum Denkenlernen und zum kritischen Vernunftgebrauch - beides Teile des Allgemeinbildungskonzepts - trägt die übliche Schulmathematik demnach wenig bei.
"Paradoxerweise ist für viele Schüler Mathematik das Fach unverstandenen Lernens schlechthin", schreibt Heymann auf Angriffe der Fachmathematiker. Heymann hatte nicht die Schlußfolgerung gezogen, daß nach sieben Schuljahren der Mathematikunterricht enden soll. Er will aber Stoff einsparen und verändern. Wer nicht in mathematischen Berufen arbeitet, braucht hauptsächlich Fertigkeiten wie Schätzen, Überschlagen oder die Interpretation von Daten in Grafiken. Dies sollte die Schule verstärkt üben, so seine These.
. . .Quelle: (wobei betont sei, dass auch hier wieder Prozentrechnung und Dreisatz geradezu als Kronzeugen angeführt werden)
Wenn meine These stimmt, dass die Prozentrechnung und der Dreisatz - im Hinblick auf die gesamte Schulzeit - eine eher marginale Rolle spielen, so ergibt sich daraus eine doppelte Fragen:
Unterrichtet die Schule nicht meilenweit an jeder alltäglichen Anwendung vorbei?
Oder geht es der Schulmathematik mit einigem Recht gar nicht um solch "simple Anwendbarkeit", sondern um "tiefere" mathematische Strukturen (pars pro toto den Funktionsbegriff). Ja, muss es ihr sogar (auch) um solch "eigentliche" Mathematik gehen?
Ich möchte diese Fragen hier gar nicht beantworten, also gar keine Entscheidung treffen (die Wahrheit liegt vermutlich wohl wieder mal in der Mitte).
Immerhin bemerkenswert ist aber: selbst wenn eher 2. als 1. zuträfe
(wenn also Prozentrechnung und Dreisatz mit gutem Grund nur eine marginale Rolle in der Schule spielen würden),
kann doch - pars pro toto - o.g. Kinderarzt davon nichts wissen: er wird BewerberInnen weiterhin nach Prozentrechnung und Dreisatz fragen, und sie werden es weiterhin nicht können. Es sei denn, ArbeitgeberInnen würden der Schule wieder vermehrt zutrauen, dass sie schon
etwas "beibringt" und
aussagekräftige Noten und Abschlüsse vergibt.
Auch wenn man eher zu 2. (der sachlogischen Stringenz statt der Anwendbarkeit) neigen würde, müsste man also wohl Rücksicht auf Bewerbungssituationen im Leben der SchülerInnen nehmen und ihnen (sozusagen den Kinderärzten zuliebe) beispielsweise gegen Ende der 10. Klasse noch mal in einem Crashkurs Prozentrechnung und Dreisatz beibringen.
2. Zwischenüberlegung:
die Repräsentativität des Problems
Hier soll also nicht über Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit der Prozentrechnung und des Dreisatzes gestritten werden, sondern es wird probeweise mal vorausgesetzt, dass sie bedeutsam und wichtig sind (dass also der Kinderarzt recht hat), und von da ausgehend gefragt:
Warum können "die" SchülerInnen sowas nicht? |
Hier sei aber mal unterstellt: egal, ob Prozentrechnung und Dreisatz wichtig sind oder nicht:
an Prozentrechnung und Dreisatz lässt sich immerhin exemplarisch zeigen, woran ganz allgemein mathematisches Verständnis scheitert. |
Und ich liebe halt konkrete Beispiel, ja, mir scheint, dass gerade derzeit viel zu allgemein geklagt wird und Total-Verbesserungen vorgeschlagen werden, statt sich mal die ganz konkreten Probleme (z.B. auch die konkretren PISA-Aufgaben) anzuschauen.
Ein oben schon genanntes Problem ist zweifelsohne, dass Prozentrechnung und Dreisatz eigentlich nur in der 7. Klasse eine Rolle spielen - und danach nie wieder vorkommen. Kein Wunder also, wenn SchülerInnen sie nach der 10. Klasse in einer Einstellungsprüfung nicht mehr kennen geschweige denn beherrschen.
(Man könnte allerdings auch argumentieren: ganz offensichtlich brauchen die SchülerInnen den Dreisatz und die Prozentrechnung auch im Alltag nie. Beweist das, wie überflüssig beide tatsächlich sind, oder nur, wie welt- oder genauer berufsfremd so ein durchschnittliches Schülerleben ist?)
Die Folgerung kann da (wenn man beide denn für unersetzlich hält) doch nur heißen: sie müssen in einer Art Spiralcurriculum immer wieder vorkommen
(und sei´s nur den Kinderärzten, sprich: ArbeitgeberInneN zuliebe bzw. damit unsere SchülerInnen Einstellungsprüfungen bestehen können).
Mit einem Spiralcurriculum ist das aber an (zumindest deutschen) Schulen so ein Problem: mathematische Inhalte werden nur dann immer wieder durchgenommen, wenn sie in der weiteren, äußerst fest betonierten Schulmathematik eine Rolle spielen.
D.h. Auswahlkriterium ist eben gerade nicht Anwendbarkeit, sondern die Sachlogik des Fachs.
Ein Beispiel:
Die halbe Schulmathematik läuft auf den Funktionsbegriff hinaus (vgl. die Analysis in der Oberstufe), also z.B. auf f: y = 3x2 +5 . Solch eine Funktionsgleichung enthält u.a. den Term 3x2 +5, und deshalb werden in einem Spiralcurriculum tatsächlich auch immer wieder Termumformungen wiederholt (weil benötigt).
Weil aber (mit einigem gutem Grund!) der Funktionsbegriff derart im Vordergrund steht, sind (so gesehen) Prozentrechnung und Dreisatz durchaus marginal, werden also nie wieder wiederholt (weil nicht benötigt).
(Dahinter steckt auch ein spezielles Selbst- und Fachverständnis von MathematikerInnen, für die Prozentrechnung und Dreisatz "eigentlich gar keine richtige Mathematik", sondern nur schnöde Anwendungen ohne jeden weiteren innermathematischen Nährwert sind.)
Man wird sich ja eben fragen müssen, weshalb Prozentrechnung und Dreisatz so nah beieinander in der 7. Klasse durchgenommen werden: eben weil sie der Sachlogik dienen, nämlich schöne Beispiele für bzw. Einstiege in proportionale Funktionen (als eines der wichtigsten Themen der 7. Klasse) sind. D.h. sie sind nur Mittel zum "höheren" mathematischen Zweck. Und das hat Folgen:
Weil der Zweck wichtig ist (und später fortgesetzt und erweitert wird: lineare, quadratische usw. Funktionen), wird natürlich das punktuelle Mittel (eben Prozentrechnung und Dreisatz) schnell wieder vergessen.
Vielleicht führt gerade die für das Erreichen des eigentlichen Zwecks notwendige Formalisierung (Proportionalitätsfaktor, Gleichungslehre ...) dazu, das die "Mittel" (also Prozentrechnung und Dreisatz) notwendigerweise überformalisiert und überproblematisiert werden - so dass SchülerInnen sie eben nicht behalten.
zurückkommend auf ein Spiralcurriculum, in dem Prozentrechnung und Dreisatz immer wieder zu wiederholen wären, ergibt sich zumindest an deutschen Schulen noch ein anderes Problem: wegen seiner gnadenlosen Fülle, aber auch seiner Stringenz wird der Stoff üblicherweise in kleinen, abgezirkelten Häppchen vermittelt:
SchülerInnen können sich fast darauf verlassen, dass in einer Klausur - abgesehen von unvermeidlichem Dauerhandwerkszeug wie etwa Termumformungen - nur der jeweils neue, nicht aber alter, ablenkender Stoff vorkommt. Wenn also beispielsweise in der 9. Klasse quadratische Funktionen anstehen, kommen fast garantiert keine proportionalen Funktionen (und somit auch weder Prozentrechnung noch Dreisatz) vor.
(Es ist ein Zirkelschluss: die SchülerInnen können auch gar nicht mehr derart springen, weil sie es nie gelernt haben; und umgekehrt werden freundliche LehrerInnen sich hüten, solche Sprünge zu fordern, weil SchülerInnen das eh nicht können.
Wenn man aber - wie derzeit ja gefordert - mehr jahrgangsübergreifende und Anwendungsaufgaben in Klassenarbeiten einfügen wollte, so müsste sich natürlich dementsprechend auch der Vorunterricht ändern. Es geht nicht an [wie geschehen], nur die Klassenarbeiten zu ändern: dann lässt man die SchülerInnen allein - und kann nur noch ihrem "Untergang" zuschauen.
Veränderter Vorunterricht plus veränderte Klassenarbeiten kann aber nur heißen: dafür muss Platz geschaffen werden, d.h. anderer bzw. bisheriger Stoff muss rausfliegen!)
So gesehen ist es also ungeheuer schwierig, später überhaupt noch Prozentrechnung und Dreisatz in einem Spiralcurriculum durchzunehmen. Wenn man es wollte, wäre es weniger eine Ergänzung als ein völlig abseitiger, geradezu die Sachlogik zerstörender Seitenweg.
(Man nenne mir mal eine Aufgabe, in der quadratische Funktionen und Prozentrechnung oder der Dreisatz vorkommen.
Und prompt hat mir ein Mathelehrer solch eine Aufgabe zugeschickt, die tatsächlich quadratische Funktionen einerseits und Prozentrechnung andererseits kombiniert:
"Eine Bank verspricht innerhalb von 2 Jahren aus 100.000 € 110.000€ zu machen.
Wie hoch ist der Zinssatz, wenn die Zinsen am Ende des ersten Jahres auf dem Konto gutgeschrieben werden?"Nur hat diese Aufgabe natürlich zwei Haken:
Welche [seriöse] Bank verspricht solche Zuwächse statt Zinssätze
[d.h. welche Bank stellt dem Kunden die Aufgabe: "Rechne den Zinssatz doch gefälligst selbst aus!"]?
Als Zinssatz ergibt sich völlig absurd ≈ 4,88088481701515 Prozent.
Bei drei Jahren läuft das Ganze schon auf eine kaum lösbare Funktion dritten Grades hinaus,
d.h. die Aufgabe scheint mir doch wieder nur verpackte Schulmathematik zu sein.)
Das zentrale Problem besteht eben darin, dass üblicherweise alle Aufgaben vom derzeit gerade anliegenden Stoff aus gedacht sind, aber fast nie Aufgaben durchgenommen werden, die "quer" zur Sachlogik stehen bzw. bei denen der Zugang noch gar nicht klar oder schuljahrsübergreifend ist.
Bisher bleibt es sowohl seitens des Kinderarztes als auch meinerseits eine pure Behauptung, dass "die Jugend von heute" nicht mal mehr die simpelsten Grundlagen (also Prozentrechnung und Dreisatz) beherrscht.
Um da immerhin ansatzweise Gewissheit zu bekommen, habe ich eine kleine "Umfrage" in drei Klassen gestartet, und zwar in einer 8. (Deutsch), 10. (Mathematik) und 12. Klasse (Leistungskurs Deutsch).
Eine interessante Frage dabei war allemal, ob Achtklässler Prozentrechnung und Dreisatz vielleicht sogar besser beherrschen als etwa eine 12. Klasse (und zudem ein Deutsch-Leistungskurs, der ja weitgehend aus überzeugten NichtmathematikerInneN besteht), eben weil die 8. Klasse noch näher "dran" ist.
Als Aufgaben habe ich gewählt
16 Hifi-Anlagen kosten 5000 €. Wie viel kosten 30 Hifi-Anlagen
ungefähr
(eine Frage, die mir erheblich wichtiger als die genaue Berechnung zu sein scheint, denn die grobe Einschätzung[ca. 10 000 €; genau genommen ein bisschen weniger]
zeigt erheblich mehr prinzipielles Verständnis als zwar vielleicht richtiges, aber eventuell unanschaulich gebliebenes Rechnen; denn nur prinzipielles Verständnis kann einem helfen, einen eventuellen kleinen Rechenfehler zu erkennen),
genau?
(9375 €)
Zeichne ein leeres Wasserglas.
Das Wasserglas ist zu 70 % voll. Bitte einzeichnen.
(eine scheinbar einfache Aufgabe, bei der zu erwarten ist, dass alle SchülerInnen sie halbwegs korrekt erledigen können[wer das nicht kann, hat nun wahrhaft gar nichts von Prozentrechnung verstanden];
und dennoch muss sie - auch wenn nur eine Planskizze gefordert wird - halbwegs korrekt erledigt sein, um b. richtig lösen zu können:
auch bei grob falscher Zeichnung hier in a. kann man die falsche Antwort "130 %" in b. geben,
aber nur bei halbwegs maßstäblicher Zeichnung hier in a. kann man die "richtige" Antwort "140 %" in b. geben.)
Angenommen, dieser Wasserstand ist jetzt 100 % [Illustration meinerseits an der Tafel]. Wie viel Prozent ist dann "über den Daumen gepeilt" [also ohne genaue Rechnung] das gesamte Glas?
(Man mache sich unbedingt klar, dass das eine weitgehend innermathematische Fragestellung ist: eine Arzthelferin wird wohl kaum jemals auf über 100 % gehen müssen.
Aber Innermathematik ist ja nicht an sich schlecht - und hier durchaus sinnvoll, um ein Verständnis davon abzuprüfen, ob das wechselseitige Verhältnis von Teil und Ganzem erkannt wurde.
Interessant ist hier, dass die Schätzung 150 % erheblich besser als die fast sicher zu erwartende, ja beinahe bösartig beabsichtigte Schätzung 130 % ist, obwohl doch beide fast gleich weit vom exakten Wert, also ca. 142 %, entfernt liegen:
150 % besagt, dass jemand bemerkt hat, dass fast [!] die Hälfte des bisher vorhandenen Volumens drauf geschüttet werden muss, um das Glas ganz zu füllen:
(maßstabsgerecht)
130 % hingegen signalisiert den Denkfehler, dass, wenn vorher 30 % entnommen werden mussten, "natürlich" hinterher auch wieder genau diese 30 % drauf geschüttet werden müssen;
130 % signalisiert also prinzipielles Unverständnis der Prozentrechnung wie überhaupt von Verhältnissen.Man könnte auch sagen:
derjenige, der 130 % antwortet, bleibt an den reinen Zahlen kleben [erst minus, dann plus 30 %],
während derjenige, der 150 % antwortet, von den Zahlen abstrahiert und sich schlichtweg das Wasserglas angeschaut hat
[und ich bin und bleibe ja der Meinung, dass man möglichst anschaulich und wortwörtlich arbeiten, d.h. im vorliegenden Fall eigentlich mit echten Wassergläsern und echtem Wasser arbeiten sollte, denn ich wette, dass dann erheblich mehr richtige Ergebnisse zustande kämen;
"warum in die Ferne schweifen, wo das Gute liegt so nahe?", d.h. warum abgenagte Wassergläser zeichnen, wo es doch im Schulkiosk zumindest Pappbecher und in jedem Raum einen Wasserkran gibt?
Warum schwachsinnige, allzu offensichtlich nur schikanöse Mischungsaufgaben behandeln ["mische Desoxyterpentin mit Analinsodaaspirin"], wo man doch [Kinder-]Cocktails zubereiten kann? Und das nicht nur als Gag oder "emotionaler Aufhänger", sondern vielleicht sogar als Erkenntnismittel: "wie funktionieren jene Farbmischmaschinen, mit denen man jede beliebige Farbe aus wenigen Grundtönen zusammenmischen kann?".]Bzw.
der "130er" denkt - ein typisches Schülerproblem - zu schnell ["was raus kommt, kommt auch wieder rein"],
während der "150er" langsam denkt [den Anfangszustand längst vergessen hat und von vorne anfängt].
Oder:
Der "150er" hat im Gegensatz zum "130er"
den Unterschied zwischen relativen und absoluten Werten verstanden [denn absolut sind die weggenommene bzw. hinzugeschüttete Menge ja identisch];
so gesehen könnte man sagen, dass sogar die Behauptung von 120 %, obwohl sie doch noch weiter vom korrekten 142 % entfernt liegt, richtiger ist als die von 130 %, weil der "120er" immerhin nicht absolute und relative Werte verwechselt, sondern z.B. von einer ungenauen Planskizze in a. auf den Wert 120 % kommt.verstanden, wie Lehrer denken: dass sie nämlich zu faul sind, zweimal dieselbe Aufgabe zu korrigieren; und dass sie so hinterhältig sind, fälschlich einen identischen Weg [beides Mal 30 %] nahezulegen.
Oder:
der "150er" ist Optimist: das Glas ist zu 70 % voll, und an das leere obere Ende denkt er erst noch gar nicht (oder höchstens erst in Vorfreude);
der "130er" ist hingegen Pessimist: das Glas war anfangs zu 30 % leer, d.h. die versagten 30 % schweben ihm noch immer im Hinterkopf rum, er kommt nicht von ihnen los.
[wobei man sich die sprachliche "Schizophrenie" der Aufgabenstellung klar machen muss: in "das Glas ist zu 70 % voll" ist zwar vordergründig von "voll" die Rede, bezieht sich 70 % aber unausweichlich auf die 100 % des somit notwendig mitgedachten ganzen, also noch teilweise leeren Glases;
nun mag man meinen, ich lege aber die Worte allzu pisselig auf die Goldwaage; dennoch scheint mir, dass wir sehr viel mehr auf die indirekten sprachlichen Andeutungen von Aufgaben achten müssen; vgl. etwa auch .]Noch besser als "150 %" ist natürlich "ein bisschen weniger als 150, also z.B. 140 %".)
Zu ergänzen wäre noch, dass ich in allen Probeklassen für einen gewissen, aber vielleicht nicht immer gleichen Zeitdruck gesorgt habe, was sich vermutlich vor allem auf die einzige echte Rechenaufgabe, also 1b., ausgewirkt hat. Denn ArbeitgeberInnen wollen sich in Vorstellungsgesprächen ja nicht stundenlang rechnende BewerberInnen ansehen.
Die Ergebnisse der "Probeklausuren"
(mit gewissen Unwägbarkeiten, was man [bei Schätzwerten] als richtig werten soll)
8. Klasse
(insgesamt 23 SchülerInnen)10. Klasse
(insgesamt 26 SchülerInnen)12. Klasse
(insgesamt 15 anwesende SchülerInnen)1a. ca. 10000 € 19 korrekt 19 korrekt 9 korrekt b. 9375 € 21 korrekt 3 korrekt 11 korrekt 2a. 70 % 23 korrekt 26 korrekt 15 korrekt b. 142 % 7 korrekt 12 korrekt 3 korrekt
bzw. prozentual:
8. Klasse 10. Klasse 12. Klasse 1a. ca. 10000 € 82 % korrekt 73 % korrekt 60 % korrekt b. 9375 € 91 % korrekt 11 % korrekt 73 % korrekt 2a. 70 % 100 % korrekt 100 % korrekt 100 % korrekt b. 142 % 30 % korrekt 46 % korrekt 20 % korrekt
Oder noch weiter verkürzt: insgesamt wurden 65,5 % aller Aufgaben richtig gelöst, was natürlich noch lange keine qualitative Aussage ist, könnte man doch einwenden, dass sämtliche Aufgaben erheblich zu einfach sind, insbesondere aber 2a. alle Ergebnisse hochzieht.
Deshalb das Ergebnis ohne 2a: alle sonstigen Aufgaben wurden zu 54 % korrekt gelöst, was nach üblichen Bewertungskriterien immerhin hieße, dass der Schnitt bei "ausreichend (-)" läge.
Auf die Jahrgänge verteilt (ohne 2a.):
8. Klasse 10. Klasse 12. Klasse 67 % korrekt 43 % korrekt 51 % korrekt
Insgesamt mag man in 54 % richtig gelösten Aufgaben ein katastrophal schlechtes Ergebnis bei äußerst simplen Aufgaben sehen (und damit eine Bestätigung der schönsten Vorurteile über "die Jugend von heute").
Ich persönlich hatte aber sogar noch viel schlechtere Ergebnisse erwartet, und zwar nicht etwa, weil "die Jugend von heute" dumm wäre, sondern weil ich damit gerechnet hatte, dass
die Aufgaben um so schlechter gelöst werden, je weiter SchülerInnen vom Zeitpunkt entfernt sind, an dem Prozentrechnung und Dreisatz ausdrücklich Unterrichtsthema im Fach Mathematik waren (also der 7. Klasse)
(wobei man allerdings bedenken muss, dass zumindest die Prozentrechnung auch nachher immer in anderen Fächern gebraucht und somit wiederholt wird),
es den SchülerInnen vor allem an anschaulichem Denken und Abschätzfähigkeiten (nicht aber so sehr an Rechenfertigkeiten) mangeln würde.
Dabei sind in der roten Tabelle wohl einige Werte besonders zu erklären:
In Aufgabe 1 ist der Umstand, dass die 12. Klasse in b. besser abschneidet als in a., wohl nur dadurch zu erklären, dass einige SchülerInnen a. entweder überhört haben oder gleich mit b. losgerechnet haben.
Oder haben OberstufenschülerInnen tatsächlich das Abschätzen völlig zugunsten des reinen Rechnens verlernt?
Dass in 2a. von ausnahmslos allen SchülerInnen der korrekte 70-%-Wert gezeichnet wurde, war wohl allzu selbstverständlich. Im Grunde diente 2a. ja nur als Vorbereitung von 2b.
Bemerkenswert sind äußerst grobe Schätzungsfehler in der 8. Klasse bei Aufgabe 2b. Da kamen mehrfach (trotz korrekt gezeichneter 70-%-Füllung des Glases) grob falsche Schätzwerte von bis zu 240 % heraus, was doch davon zu zeugen scheint, dass zumindest einige SchülerInnen der 8. Klasse noch keinerlei Verständnis für Dimensionen haben.
Auffällig ist allemal das völlige "Versagen" der 10. Klasse bei Aufgabe 1b., also der genauen Berechnung des Preises für 30 Hifi-Anlagen. Allerdings frage ich mich, ob das wirklich symptomatisch ist, wenn 12-KlässlerInnen es wieder beherrschen.
Insgesamt aber scheint sich vor allem ein "Vorurteil" zu bestätigen: Der Dreisatz wird um so besser beherrscht, je näher man noch an dem Zeitpunkt dran ist, an dem er im Mathematikunterricht durchgenommen wurde, also vor allem in der 8. Klasse. Und in der Tat führt eine ganze Reihe von SchülerInnen der 8. Klasse den typischen Dreierschritt
: 16 16 5000 : 16 1 312,5 ● 30 ● 30 30 9375 durch, der bei SchülerInnen höherer Klassen kein einziges Mal auftaucht.
Standardfehler in Aufgabe 2b. ist wie erwartet die Nennung von 130 %, und dieser Standardfehler sorgt in allen Klassen dafür, dass diese Aufgabe - wieder: wie erwartet - mehrheitlich falsch gelöst wird.
(Nochmals: man kann sich streiten, ob es gerecht ist, ausgerechnet 130 % systematisch als falsch zu werten, zumal die Aufgabe ja fast auf diesen Fehler angelegt war.)
Wenn 130 % aber der Standardfehler ist, gibt es nur zwei Erklärungsmöglichkeiten:
Die Aufgabe ist dumm gestellt.
SchülerInnen zeigen gröbste Mängel beim ganz anschaulichen Verständnis der Prozentrechnung.
Natürlich darf man nicht allein bei der puren Feststellung der Katastrophe stehen bleiben, sondern es ist auch nach den Ursachen zu fragen. Beispielsweise die Prozentrechnung ist ja eben gerade nicht so einfach, wie immer behauptet wird (sonst würden die SchülerInnen sie ja problemlos beherrschen!).