ein unbeschreibliches mathematisch-naturwissenschaftliches Erlebnis

  "Sie leuchtete wie die Sonne. Alles an ihr, das Gesicht und die Hände, ihr Haar und das lange goldene Kleid war so schön, daß es nicht zu beschreiben ist."
(aus: )

für viele Menschen wird es unverständlich sein, dass Mathematik und Naturwissenschaften Erlebnisse bergen können. Im besten Fall ermöglichen diese Wissenschaften für solche Leute mehr oder minder trockene Erkenntnisse, was wohl vor allem daran liegt, dass im üblichen Schulunterricht meistens nur die Ergebnisse, nicht aber die Entdeckungswege mathematisch-naturwissenschaftlicher Forschung durchgenommen werden.

Was an einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Erlebnis soll "unbeschreiblich" sein? Und wenn es denn unbeschreiblich ist, ist es dann nicht schlichtweg unsinnig, wenn Kepler bzw. ich dennoch darüber schreibt/schreibe?


aus:
"[...] im letzten Teil [von Keplers Buch »Weltharmonik« ] verwandeln sich [...] die Bewegungen der Planeten in eine fortwährende, mehrstimmige Musik, die zwar nicht durch das Ohr, wohl aber durch den Geist erfassbar sei. Der unermessliche Ablauf der Zeit wird so zu einer einzigen großen Symphonie [vgl. Bild ]. Das Buch, ganz gleich ob für die Gegenwart oder die Nachwelt geschrieben, »möge hundert Jahre seines Lesers harren, hat doch auch Gott sechs Jahrtausende auf den Beschauer gewartet«. Nämlich auf ihn, Kepler.
Die Weltharmonik bleibt ein singuläres Werk. Weder Musik- noch Naturwissenschaftler werden an Keplers harmonische Spekulationen anknüpfen. Dennoch findet sich ausgerechnet hier, verborgen zwischen Fünfecksternen und Doppeloktaven, jene Zauberformel, aus der Isaac Newton das Gravitationsgesetz ableiten wird: Keplers »drittes Planetengesetz«, das die Umlaufzeiten zweier Planeten und ihre mittleren Abstände von der Sonne in ein festes Verhältnis setzt.
Kepler entdeckt das Gesetz am 15. Mai 1618. Augenblicklich besiegt es die Finsternis seines Geistes, »wobei sich zwischen meiner siebzehnjährigen Arbeit an den tychonischen Beobachtungen und meiner gegenwärtigen Überlegung eine so treffliche Übereinstimmung ergab, dass ich zuerst glaubte, ich hätte geträumt und das Gesuchte in den Beweisunterlagen vorausgesetzt. Allein es ist ganz sicher und stimmt vollkommen
Die Formel, in einem Moment äußerster Klarheit aufgetaucht, scheint auf geheimnisvolle Weise mit seinen Gedanken zum pythagoreischen Musiksystem verbunden zu sein. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Verhältnis von 3 zu 2 für das Intervall der Quinte den Exponenten seiner für die Nachwelt so wertvollen astronomischen Gleichung bestimmt. Während sich Kepler über sein aus geometrischen Mustern zusammengesetztes Parkett bewegt, macht er eine gedankliche Pirouette, plötzlich dreht sich alles um ein bestimmtes Zahlenverhältnis. Sein ganzes astronomisches Wissen strömt in diesen Wirbel hinein und verdichtet sich zu einer mathematischen Formel, die bis heute Gültigkeit hat: Die dritten Potenzen der mittleren Abstände zweier Planeten von der Sonne verhalten sich so wie die zweiten Potenzen, also die Quadrate, ihrer Umlaufzeiten [] ."

Daran scheint mir doch allerlei bemerkenswert und geradezu typisch für viele wissenschaftliche Entdeckungen:

  1. , dass auch ein Großer in totaler Selbstüberschätzung

("Nämlich auf ihn, Kepler.")

erhebliche Irrwege einschlägt

("Keplers harmonische Spekulationen"),

das Falsche für seine eigentliche Leistung hält und

(vgl. Bild )

dadurch gar nicht merkt, wo seine tatsächlich bedeutsamen Erkenntnisse liegen bzw. wie bedeutsam sie sind

(drittes Planetengesetz).

Die missionarische Selbstüberschätzung ist die gefährliche Zwillingsschwester des für Entdeckungen allemal nötigen gesunden Selbstbewusstseins, und deshalb frage ich mich bei vielen Forschern, weshalb sie nicht auch ein wenig Demut walten lassen, die sie vor voreiligen Fehlern bewahren würde.

  1. findet die Erkenntnis oftmals

(zumindest erscheint es im Rückblick so)

urplötzlich statt:

"Augenblicklich besiegt es die Finsternis seines Geistes, »wobei sich zwischen meiner siebzehnjährigen Arbeit an den tychonischen Beobachtungen und meiner gegenwärtigen Überlegung eine so treffliche Übereinstimmung ergab, dass ich zuerst glaubte, ich hätte geträumt und das Gesuchte in den Beweisunterlagen vorausgesetzt. Allein es ist ganz sicher und stimmt vollkommen.«"

Und dann wird die Erkenntnis oftmals eben doch demütig als Musenkuss oder Eingebung durch die Götter (oftmals im Traum) verstanden.

  1. Zu der in 2. genannten Urplötzlichkeit gehört auch, dass dann - eben urplötzlich - alles zusammen passt, ja implosionsartig zu einem Punkt "zusammen rauscht" und sich vorher ungeahnte (teilweise auch falsche) Zusammenhänge offenbaren:

"Die Formel, in einem Moment äußerster Klarheit aufgetaucht, scheint auf geheimnisvolle Weise mit seinen Gedanken zum pythagoreischen Musiksystem verbunden zu sein. [...] [Keplers] ganzes astronomisches Wissen strömt in diesen Wirbel hinein und verdichtet sich zu einer mathematischen Formel, die bis heute Gültigkeit hat"

  1. wird, wie sich damit schon andeutet, der Vorgang des Entdeckens oftmals als fast schon mystischer Moment völliger Klarheit und gleichzeitig als Rausch, die Entdeckung also summa summarum als unbeschreibliches Erlebnis (!) empfunden.

Soviel zu einer anderen .