der kleine Galilei

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  Staunen und Sich-Wundern sind

(wie Mathematiker sagen würden: notwendige, aber leider nicht hinreichende?)

Vorbedingungen von Bild

"Der Mond kommt mit."
(mein zweieinhalbjähriger Sohn bei einer Autofahrt)

Kinder (nur Jungs!?) brauchen vor allem



massenhaft Auslauf

(zur Not tut's auch eine turnhallengroße Gummizelle).

Vgl. auch Bild.

Und erst mal losgelassen, tollen Kinder mit grenzenloser Energie / bis zur völligen Erschöpfung "einfach nur sinnlos (?) rum":

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(links unser kleiner Galilei)


Auf einer Wanderung durch solch wildromantische Landschaft rannte unser kleiner, siebenjähriger Kobold immer vor und zurück, ins Gebüsch und hinter Steine und wieder auf den Weg, hüpfte in die Luft ... und sagte plötzlich

(was ich bezeichnend finde: zwar laut, aber eher zu sich als zu mir)

so etwa sinngemäß:

"Wenn ich hochspringe, lande ich an genau derselben Stelle, an der ich hochgesprungen bin. Dabei müsste sich doch eigentlich die Erde unter mir weg gedreht haben und ich ein bisschen seitlich wieder runterkommen. --- Das alles ist doch sehr merkwürdig."

Darüber, dass solch ein kleiner (und liebenswerter!) Matz solche Überlegungen anstellen konnte, war ich regelrecht platt.

Da haben würd's nun wirklich am Wickel:

Das Staunen rührt von der Irritation darüber her, dass zwei "Wissensbestände" einander widersprechen:

  1. der direkten Erfahrung beim Springen, dass man nicht seitlich landet,

  2. aus dem (in Schulen  und sonstwo vermittelten) Wissen (bzw. bei Galilei vielleicht eher der Vermutung bzw. Hypothese), dass sich die Erde um die eigene Achse dreht - und also unter einem wegdrehen müsste.

Unsere kleine Springmaus hat eine wahrhaft noble

(aber oftmals gar nicht so einfach einzunehmende)

wissenschaftliche Haltung eingenommen, nämlich sich gewundert, aber noch nicht geurteilt:

 "... woraus doch folgt, dass die Erde sich nicht dreht."

(dass also der zweite oben genannte Wissensbestand falsch ist.)

Der Junge hat also nicht die direkte Anschauung gegen die Theorie ausgespielt - wie es

(mit gutem Grund!)

seinerzeit Galileis "aristotelische" Gegner getan haben.

Damit ist der Junge immerhin auf halbem Wege, ein echter (kleiner) Galilei zu werden.

Fragt sich "nur", wie der Junge den restlichen Weg gehen könnte - und ob überhaupt.

(Und da die meisten erwachsenen Laien [ich auch!] kaum schlauer als dieser Junge sind, stellt sich somit auch die Frage, wie [und ob] wir zum "ganzen" Galilei werden können.

... wobei ich den Einwand müßig finde, wir könnten Galileis Ergebnisse nur nachentdecken, also nie so berühmt werden wie er. Immerhin können wir Galileis Ergebnisse vielleicht für uns nachentdecken - und dann persönlichen Stolz empfinden!)


Nun ist der Widerspruch zwischen anschaulicher Erfahrung einerseits und Theorie andererseits zweifelsohne ein "Schönheitsfehler" vieler moderner Naturwissenschaften, aber eben doch auch eine ihrer fundamentalen Eigenschaften.

Eine der billigsten Reaktionen ist es dabei, den Widerspruch zugunsten einer der beiden Seiten aufzulösen - oder zu übertünchen:

  1. Möglichkeit: die Anschauung hat immer Recht, wissenschaftliche Theorie ist - igitt! - abstrakter Kokolores - und die Erde ist eine Scheibe.

  2. Möglichkeit, die mindestens genauso blöd ist wie die erste - und oft von Naturwissenschaftlern (auch in Schulen) angewandt wird: die laienhaften Argumentation mit der Anschauung wird als unwissenschaftlich-naiv abgetan oder einfach ausgeblendet.

Als wenn nicht auch der beste Naturwissenschaftler sozusagen im "Privatleben" die Erde auch für eine Scheibe hielte und meinte (wahrnähme), dass die Sonne sich um die Erde dreht ("die Sonne geht auf") statt umgekehrt!

D.h. auch der beste Naturwissenschaftler lebt permanent mit dem o.g. Widerspruch und hat nur gelernt, ihn zeitweise (in seinem Berufsleben) auszublenden.

Mehr noch: wie wir noch sehen werden, lag Galileis Genialität gerade darin, dass er den gezeigten Widerspruch nicht leugnete

(zugunsten einer der beiden Seiten auflöste),

sondern eine

(wenn auch - siehe ebenfalls unten - problematische)

"Versöhnung" der beiden Gegensätze anbot.


Wie also könnte solch eine "Versöhnung" aussehen - so dass also "beide Seiten" Recht hätten?

(... wobei ich hier noch völlig weglasse, was unser kleiner Junge da leisten könnte.)

Ein "richtiger" Naturwissenschaftler vermutet natürlich immer Messungenauigkeiten.

Könnte es also sein, dass die Erde sich eben doch unter dem springenden Jungen weggedreht hat, aber eben nur so wenig, dass es kaum messbar war (der Junge es nicht wahrgenommen hat)?

Und prompt befinden wir uns in der nächsten Schizophrenie:

dreht sich die Erde eigentlich langsam oder schnell?

Es ist dieselbe Schizophrenie wie oben:

  1. sagt uns unsere Anschauung, dass die Erde sich überhaupt nicht dreht, sondern stocksteif - und sicher! - unter uns ruht (und alles - u.a. die Sonne - sich nur um die Erde dreht).

  2. haben wir aber gelernt, dass die - unanschaulich gigantische! - Erde sich in jeweils 24 Stunden um ihre eigene Achse dreht.

Wie schnell also dreht die Erde sich wirklich?

Schauen wir uns dazu der Einfachheit halber vorerst das Geschehen am Äquator an: da dort ein Erdumfang von 40074 km vorliegt, beträgt die Drehungsgeschwindigkeit dort

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also 1670 Kilometer pro Stunde!

Das entspricht so etwa der Geschwindigkeit eines guten überschallflugzeugs - und ist somit völlig unvorstellbar:

es kann doch nicht sein, dass sich die Erde am äquator mit solch gigantischer Geschwindigkeit unter den Füßen der Menschen weg bewegt - und sie nichts davon bemerken!

Mehr noch - und hier scheinen die Galilei-Gegner doch vollständig Recht zu haben -: solch eine rasende Bewegung des Erdbodens müsste die Menschen doch schleunigst aus ihren Sandalen kippen - was aber offensichtlich nicht geschieht.

Wir sind dennoch weiterhin skeptisch und bedenken, dass der Sprung unseres kleinen Galileis nur circa eine halbe Sekunde gedauert haben mag

(ich habe nicht nachgemessen - und das ist auch gar nicht so einfach zu messen).

Wie viel bewegt sich also die Erde - hier noch auf den Äquator bezogen - in einer halben Sekunde?

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Die Erde bewegt sich also am Äquator um 464 Meter in einer Sekunde bzw. um 232 Meter in einer halben Sekunde. Der kleine Galilei müsste also, wenn er am äquator eine halbe Sekunde lang hochspränge, 232 Meter entfernt wieder landen - eine wahrhaft mörderische Vorstellung, denn man bedenke, dass er mit der Geschwindigkeit eines überschallflugzeugs beispielsweise gegen eine Wand knallen würde!

Nun könnte man natürlich einwenden:

(... wovon allerdings erstaunlicherweise bislang noch nie etwas bekannt wurde; und selbst wenn "der" Afrikaner - gerade wegen der Verletzungsgefahr durch die Erdrotation - jedes Hochspringen tunlichst vermeiden würde, hälfe ihm das reichlich wenig: auch ohne Sprünge müsste ihm die rasende Erdoberfläche die Füße unterm Körper wegreißen),

Wie schnell also bewegt sich die Erde am 52. Breitengrad?

Eine erste vereinfachende Planskizze:

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Wir wollen also wissen, wie schnell sich die Erde auf dem gelben Kreis dreht.

Zuerst eine rein anschauliche Überlegung, die eben doch auch unserem kleinen Galilei bzw. Laien zugänglich sein könnte:

der dunkelgrüne Radius am 52. Breitengrad ist etwa zwei Drittel so lang wie der orange Radius am Äquator - so dass man vermuten könnte: die Geschwindigkeit am 52. Breitengrad ist etwa zwei Drittel so groß wie am Äquator, also immerhin noch etwa mörderische 155 Meter in einer halben Sekunde. Das müsste unserem kleinen Galilei doch (schmerzlich!) aufgefallen sein!

Jetzt aber eine genauere Rechnung

(mit mathematischen Standardmitteln der 10. Klasse - also vermutlich unzugänglich für unseren kleinen Galilei und die meisten Laien),

wobei wir nur den entscheidenden Ausschnitt der obigen Planskizze betrachten

(und die Abflachung der Erde an den Polen außer Acht lassen):

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Wir zeichnen noch zusätzlich den Ergänzungswinkel 380 ein:

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Des weiteren bedenken wir, dass

Die Planskizze noch weiter vereinfachend erhalten wir also

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Auf dieses rechtwinklige Dreieck lässt sich nun aber der Sinus anwenden:

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Der erstbeste Taschenrechner liefert

sin 380 ≈ 0,6156 ,

womit sich ergibt:

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Multiplikation auf beiden Seiten mit 6378 km ergibt:

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(Nebenbei: die Abschätzung oben mit zwei Drittel ≈  0,6666 war also gar nicht so schlecht, weil im Vergleich mit 0,6156 nur geringfügig zu groß.)

Ausmultiplizieren links ergibt nun 

3926 km r

Der Radius r des gelben Kreises am 52. Breitengrad ist also 3926 km, und daraus ergibt sich der Umfang U des gelben Kreises mittels der Kreisumfangsformel

U = 2        π<         r

U ≈ 2 ● 3,1415 ● 3926 km

U ≈ 24667 km

Am 52. Breitengrad, wo unser kleiner Galilei in die Luft gesprungen ist, dreht sich die Erde also um circa 24667 km in 24 Stunden, was zu der neuen Umrechnung führt:

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Sparen wir uns weitere Umrechnungen

(die Geschwindigkeit in einer halben Sekunde):

das Ergebnis 1027 Kilometer pro Stunde entspricht noch immer annähernd der Schallgeschwindigkeit, also der Geschwindigkeit eines Düsenjets:

unser kleiner Galilei müsste auch am 52. Breitengrad mörderisch durch die Gegend geschleudert worden sein.

Der erste "Versöhnungsansatz", nämlich die Erklärung durch Messungenauigkeiten

(dass unser kleiner Galilei eine minimale Erdbewegung unter ihm nur nicht bemerkt hätte),

ist also gescheitert.


Bislang ging unsere "Versöhnung" immer davon aus, dass

  1. die Erde sich tatsächlich um ihre eigene Achse dreht - die Theorie also richtig ist,

  2. diese Bewegung aber so gering ist, dass sie nicht bemerkbar ist - die Anschauung also auch richtig ist,

  3. zwischen Theorie und Anschauung also nur ein Scheinwiderspruch besteht.

Unsere Rechnungen ergeben aber, dass dieses Vorgehensweise grob falsch ist: Theorie und Anschauung müssten sich eklatant widersprechen.

Es sieht also weiterhin so aus, als müssten wir entweder die Theorie oder die Anschauung "kippen".

Bei der reinen Anschauung

(unser kleiner Galilei wurde eben nicht mörderisch durch die Gegend geschleudert)

scheint das aber kaum möglich.

Also bleiben nur zwei Möglichkeiten:

(außer religiösen Fundamentalisten wird das niemand behaupten wollen - und mit solchen Fanatikern ist eh nicht zu reden;
dennoch muss man - auch in der Schule! - mal den Mut haben, anerkannte Theorien in Frage zu stellen),

  1. bleibt sie dabei, dass die Erde sich um ihre eigene Achse dreht:

nbm0.JPG (15535 Byte)
"Und sie [die Erde] bewegt sich doch!"

  1. kann sie erklären, weshalb die Drehung der Erde um ihre eigene Achse trotz der gezeigten immensen Geschwindigkeiten für unseren kleinen Galilei nicht spürbar war?


Nachdem ich soviel "Spannung" erzeugt habe, mache ich jetzt etwas geradezu Unfaires, spare mir nämlich jede weitere Erklärung, Hauptsache, die soeben genannte zweite Frage steht "im Raum".

Mir ging es in diesem Essay nur um die wissenschaftlichen Anfänge, die im Staunen des kleinen Galilei steckten.

Die Antwort auf die zweite Frage enthielte nun aber die halbe neuzeitliche naturwissenschaftliche Revolution, nämlich die Konzepte von Beschleunigung, gleichmäßiger Bewegung, Trägheit sowie - schon bei Galilei und nicht erst bei Einstein! - Relativität. Es ginge also vor allem um die Erkenntnisse von Galilei und Newton, und dazu wäre mindestens ein weiterer großer Essay nötig.

Auch da gälte aber: die Antworten sind nur vordergründig einfach (wenn sie auch meistens als einfach dargestellt werden):

(wenn ich mich recht entsinne, hat Ernst Mach sie durch die Anziehungskraft des gesamten Universums zu erklären versucht);

"In seinem Werk 'Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme' (Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, Tolemaico e Copernicano) versucht [Galilei] denn auch, durch verschiedene Beispiele den Leser zu überzeugen, dass eine Bewegung, die nicht relativ zum Beobachter stattfindet, sondern mit ihm, nicht wahrnehmbar ist. Im wesentlichen unternimmt er dabei eine Übertragung der irdischen Erfahrung in die kosmische Welt. Im Kleinen (z.B. unter Deck auf einem fahrenden Schiff) sind Bewegungen des Gesamtsystems nicht wahrnehmbar, also werden sie es auch im Großen, d.h. bezogen auf die Erde, nicht sein. Diese Subsumtion des absoluten Bewegungsbegriffs des Aristoteles unter den relativen, aus der Alltagserfahrung bekannten, bezeichnet Paul Feyerabend als 'überredungskunst' und stellt sie damit nicht als rationalen wissenschaftlichen Fortschritt, sondern mehr als einen 'Trick' dar (vgl. Wider den Methodenzwang, S. 105 ff., insbesondere S. 108)."
(zitiert nach  Bild )

Anders gesagt:

  • dass die Erddrehung nicht spürbar ist, bleibt

(auch mit den hier nicht näher erläuterten Konzepten von Beschleunigung, gleichmäßiger Bewegung, Trägheit sowie Relativität)

unanschaulich,

  • das Staunen unseres kleinen Galilei ist nicht vollständig auflösbar,

  • unser kleiner Galilei hat nicht eine (längst überholte) "dumme" Kinderfrage gestellt, sondern ins Herz der (auch modernen) Naturwissenschaft getroffen.


PS:

Ein Vierjähriger:

"Pipi Langstrumpf und Obelix sind stark, aber meine beiden Cousins Simon und Clemens können sogar die ganze Welt [= Erde] hochheben. Aber worauf sollen sie dann stehen?"

Viel schlauer war Archimedes auch nicht:

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"Der archimedische Punkt ist ein angenommener „absoluter Punkt“ außerhalb eines Versuchsaufbaus, der insbesondere unveränderbar und daher fest verankert als Hebelpunkt dienen könnte. Der archimedische Punkt hat seinen Namen von der Aussage Archimedes', er könne „ganz alleine die Erde anheben, wenn er nur einen festen Punkt und einen ausreichend langen Hebel“ hätte."
(Quelle: Bild )