der Wahrscheinlichkeitskollaps

 

 
Vgl. auch , wo probeweise überlegt wird, ob es überhaupt keinen Zufall gibt.

 


(Album der "Einstürzenden Neubauten")


 

Kol|laps [auch: ...lapß; lat.-mlat.; "Zusammenbruch"] der; -es, -e: 1. plötzlicher Schwächeanfall infolge Kreislaufversagens (Med.). 2. starkes Schwinden des Holzes senkrecht zur Faserrichtung während der Trocknung. 3. Endphase der Sternentwicklung, bei der der Stern unter dem Einfluß der eigenen Gravitation in sich zusammenfällt (Astron.). 4. [wirtschaftlicher] Zusammenbruch.

Kollaps [lateinisch, vergleiche kollabieren] der, Medizin: Kreislaufkollaps, rasch einsetzende und kurz dauernde Kreislaufregulationsstörung, bei der die Ausgleichsmöglichkeiten des Organismus nicht mehr ausreichen, um eine genügende Durchblutung der lebenswichtigen Organe zu gewährleisten; hervorgerufen z.B. durch Verletzung, Blutung, Herzinfarkt. Der akute Blutmangel im Gehirn führt hierbei zur Ohnmacht. Vorzeichen sind meist Gesichtsblässe, kalter Schweiß, Schwindelgefühl und Gliedmaßenzittern.

(Brockhaus multimedial 2002)

asdf

"Wenn ein Ereignis stattgefunden hat, läßt sich häufig nachträglich unter Berücksichtigung der vor seinem Eintreten zur Verfügung stehenden Informationen die Wahrscheinlichkeit berechnen, daß es auftritt. Diese Wahrscheinlichkeit hängt vor allem von der Genauigkeit ab, mit der wir das Ereignis beschreiben.
Wir sitzen zu zehnt an einem Tisch. Heute morgen hat sich jeder von uns aus der Laune des Augenblicks heraus entschieden, eine bestimmte Jacke, Hose, Krawatte anzuziehen ... Ein Beobachter, der den Inhalt meines Kleiderschranks kennt, hätte gestern die Wahrscheinlichkeit meiner Wahl des Hemdes berechnen können, das ich heute anhabe, sagen wir 1 zu 10, und ebenso die der Krawatte, die ich heute morgen trage, mit 1/20
. Zusammengenommen beträgt die Wahrscheinlichkeit von zwei unabhängigen Ereignissen [...] soviel wie das Produkt ihrer beiden Wahrscheinlichkeiten, das heißt in diesem Fall 1/200 für die gleichzeitige Wahl des Hemdes und der Krawatte. Wenn ich zu meiner Beschreibung nun noch die Schuhe, die Strümpfe, den Mantel usw. hinzufüge, so lande ich für nur fünf oder sechs Teile bei einer Wahrscheinlichkeit in der Größenordnung von 1 zu einer Million oder 1/106. Das gleiche gilt für jedes Mitglied unserer Gruppe, vorausgesetzt, es hat einen ähnlich ausgestatteten Kleiderschrank wie ich. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir uns so kleiden würden, wie wir uns tatsächlich gekleidet haben, hätte unser Beobachter gestern berechnen können. Er wäre dabei auf eine Zahl in der Größenordnung von (1/106)10 gekommen, also 1 zu 1060 und damit unendlich viel kleiner als die Wahrscheinlichkeit, drei- oder viermal hintereinander in der Lotterie das große Los zu ziehen. Daraus hätte er schließen können, daß dieses Ereignis praktisch unmöglich sei. Und doch ist es eingetreten. Müssen wir daraus schließen, daß es sich um ein Wunder handelt?
Natürlich nicht. Es ist völlig unsinnig, die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses zu berechnen, das bereits eingetreten ist. Die Entstehung
des biologischen »Lebens«, das Erscheinen der Dinosaurier, das Erscheinen der Menschen ist das Ergebnis einer Vielzahl von Verzweigungen im Verlauf der Prozesse, die auf unserem Planeten vor sich gehen. Jede dieser Verzweigungen hat sich so ereignet, obwohl viele andere ebenso möglich gewesen wären; jede hatte eine geringe Wahrscheinlichkeit, und trotzdem mußte eine davon Wirklichkeit werden."
(Albert Jaquard in
)

Ja, was denn nun?:

(Nebenbei: interessant scheint mir auch der letzte Satz  des Textauszuges von Jacquard zu sein, also

"Jede dieser Verzweigungen hat sich so ereignet, obwohl viele andere ebenso möglich gewesen wären; jede hatte eine geringe Wahrscheinlichkeit, und trotzdem mußte eine davon Wirklichkeit werden."

Nehmen wir als Beispiel nur den Münzwurf: am Ende muss eine der beiden Möglichkeiten "Kopf" und "Zahl" Wirklichkeit werden.

Aber gibt es vielleicht auch Prozesse, bei denen nie eine Entscheidung [Verzweigung] stattfindet, die also auf Ewigkeit in der Wahrscheinlichkeit hängen bleiben?)

Eine erhellende Antwort liefert Shimon Malin in seinem Buch (vgl.  11/2003 ).

Dazu muss allerdings vorweg erwähnt werden, dass die übliche Vorstellung von Elektronen als massiven Mini-Kügelchen (Geschossen) laut Quantentheorie völlig falsch ist.

"Ein Elektron bewegt sich auf einen Leuchtschirm zu. Bevor es auf den Schirm trifft, existiert es nicht im Raum, sondern nur als Möglichkeitsfeld. Zum Zeitpunkt des Auftreffens existiert es jedoch tatsächlich; es ist ein elementares Quantenereignis, ein Ereignis in Raum und Zeit, geworden. Durch die Wechselwirkung mit dem Schirm, der eine Messvorrichtung zur Ortsbestimmung darstellt, ist das Elektron von einer potenziellen in eine tatsächliche Existenz übergegangen. Dieser Übergang wird als »Kollaps des Quantenzustands (oder der Wellenfunktion) des Elektrons« bezeichnet."

Was Malin da für den Ort von Elektronen sagt, gilt vielleicht grundsätzlich für Wahrscheinlichkeiten:

Vorher "existieren" alle Möglichkeiten außerhalb von Zeit und Raum, und die (Nicht-)Verwirklichung passiert innerhalb von "Null komm nix".

  1. von den (evtl. unendlich) vielen Möglichkeiten vorher wird in einem urplötzlichen Kollaps   eine einzige real

(womit der Wahrscheinlichkeitskollaps etwas Zweischneidiges an sich hat wie "die Qual der Wahl":

  • ein einzige der bisher vielen Möglichkeiten gefriert urplötzlich zur Tatsache ,

  • sämtliche anderen Möglichkeiten werden endgültig vernichtet, sind also nicht mal mehr als Möglichkeiten vorhanden,

  • vor allem aber: die Wahlfreiheit selbst fällt weg, die Diktatur und manchmal auch Phantasielosigkeit der platten Realität setzt ein:

"»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie." [Franz Kafka])

  1. die einzige Realität gewordene Möglichkeit mag kurz vorher noch eine geringe Wahrscheinlichkeit gehabt haben (z.B. ), direkt danach ist sie (einzige!) Sicherheit geworden, d.h. ihre Wahrscheinlichkeit explodierte von auf 1 (= Sicherheit);

  2. die Wahrscheinlichkeiten der nicht Realität gewordenen Möglichkeiten kollabieren urplötzlich zu 0 (= ausgeschlossene Existenz): man könnte auch von einem plötzlichen Massensterben sprechen:

Bei diesen Vorgängen würden die Mathematiker von Unstetigkeitsstellen sprechen: der Übergang ist

  • nicht fließend (wenn auch vielleicht sehr schnell):

  • sondern ein Sprung:

Um zum Kleidungsbeispiel Jaquard zurück zu kehren:


Den Kollaps kann man auch als urplötzliches "Zusammenfallen" ansehen - und daher kommt vielleicht der Begriff "Zufall".

(Oder stammt der Begriff "Zufall" von der zweiten Bedeutung des Verbs "zufallen"?: )

Im Unterschied zum medizinischen Kollaps (s.o. die Brockhaus-Definition) gibt es allerdings beim Zufall keinerlei "Vorzeichen [...][:] Gesichtsblässe, kalter Schweiß, Schwindelgefühl und Gliedmaßenzittern." Laut Quantentheorie

(was mir allerdings immer eine höchst gewagte erkenntnistheoretische These zu sein scheint).


Wenn der Wahrscheinlichkeitskollaps das eigentliche Kennzeichen von Zufällen ist, so scheinen mir die Bezeichnungen

unsinnig: wenn etwas sowieso schon von Anfang an absolut sicher ist, kann gar kein Kollaps mehr stattfinden, sondern ist der Übergang gleitend, bzw. im Grunde ändert sich gar nichts.

Ebenso kann man nur vor dem Eintreten von einer Wahrscheinlichkeit reden. Danach ist es nicht mehr wahrscheinlich, sondern sicher (oder sicher nicht, also ausgeschlossen).


Allemal interessant ist auch, wann es laut Malin (der da den Physiker Dirac referiert) zu einem Kollaps kommt:

"Wenn die Beziehungen zwischen den verschiedenen Möglichkeiten ein solches Maß an Komplexität erreichen, dass man sie als chaotisch bezeichnet, ist ein kohärentes Interferenzmuster nicht länger möglich und es kommt zum Kollaps."

Wenn ich das überhaupt halbwegs richtig verstehe, geschieht der Kollaps also dann, wenn die Möglichkeiten allzu sehr auseinanderdriften und keinerlei Zusammenhang mehr haben, Die Natur scheint sich zu "denken": "Bevor hier allzu großes Chaos entsteht, verwirkliche ich doch liebe eine Möglichkeit - und würge alle anderen ab."

Malin versucht zudem eine ansatzweise Erklärung dafür, warum wir dem Kollaps bzw. überhaupt dem Zufall nicht "beikommen" können:

"Der Kollaps kann nicht im Rahmen des [alle derzeitigen Naturwissenschaften ausmachenden] mathematischen [!] Formalismus [...] erklärt werden, weil die Natur nicht wirklich objektivierbar ist!"

Da höre ich auch raus: Mathematik (und "Objektivierung") ist das prinzipiell falsche Mittel, um dem Kollaps "beizukommen". Vielleicht, weil MathematikerInnen ganz grundsätzlich nicht mit Unstetigkeiten (s.o.) umgehen können?


 

Manchmal wünsche ich mir, dass Radioaktivität quietschegelb wäre und penetrant stinken würde: nicht nur in Russland, sondern auch in Mitteleuropa wäre die Kraftwerkskatstrophe in Tschernobyl ganz anders wahrgenommen worden, wenn überall zentimeterdick knatschgelber und widerlich stinkender Staub oder Schleim herumgelegen hätte - und noch immer läge.

Das Problem beim Wahrscheinlichkeitskollaps ist, dass man ihn (auch deshalb, weil er keine Zeit in Anspruch nimmt) nicht sieht und spürt.

Was bei solch einem Wahrscheinlichkeitskollaps passiert, kann man sich wohl nur mit den Metaphern extrem schneller Katastrophen klar machen:

(vgl.  10/2003 )

"Caldera, Kraterkessel von bis zu mehreren Kilometern Durchmesser und einer Tiefe von mehreren Kilometern. Eine Caldera entsteht, wenn das Dach einer Magmakammer einstürzt (Einsturz- oder Einbruchscaldera) oder wenn das Dach durch eine Eruption weggesprengt wird (Explosionscaldera)."
(Microsoft Encarta 2003)

Eine andere hilfreiche Metapher für das, was beim Zufall passiert, ist eine Parallelwelt der Möglichkeiten (z.B. die keltische ), die meist unbemerkt neben unserer "realen" Welt existiert, aber doch ab und zu durch Risse in sie eindringt und dort Blasen wirft.

(Vgl. .)