der Wahrscheinlichkeitskollaps
asdf |
"Wenn ein Ereignis stattgefunden hat, läßt sich häufig nachträglich unter Berücksichtigung der
vor seinem Eintreten zur Verfügung stehenden Informationen die Wahrscheinlichkeit berechnen, daß es auftritt. Diese Wahrscheinlichkeit hängt vor allem von der Genauigkeit ab, mit der wir das Ereignis beschreiben. |
Ja, was denn nun?:
"Wenn ein Ereignis stattgefunden hat, läßt sich häufig nachträglich unter Berücksichtigung der vor seinem Eintreten zur Verfügung stehenden Informationen die Wahrscheinlichkeit berechnen, daß es auftritt."
"Es ist völlig unsinnig, die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses zu berechnen, das bereits eingetreten ist."
(Nebenbei: interessant scheint mir auch der letzte Satz des Textauszuges von Jacquard zu sein, also
"Jede dieser Verzweigungen hat sich so ereignet, obwohl viele andere ebenso möglich gewesen wären; jede hatte eine geringe Wahrscheinlichkeit, und trotzdem mußte eine davon Wirklichkeit werden."
Nehmen wir als Beispiel nur den Münzwurf: am Ende muss eine der beiden Möglichkeiten "Kopf" und "Zahl" Wirklichkeit werden.
Aber gibt es vielleicht auch Prozesse, bei denen nie eine Entscheidung [Verzweigung] stattfindet, die also auf Ewigkeit in der Wahrscheinlichkeit hängen bleiben?)
Eine erhellende Antwort liefert Shimon Malin in seinem Buch (vgl. 11/2003 ).
Dazu muss allerdings vorweg erwähnt werden, dass die übliche Vorstellung von Elektronen als massiven Mini-Kügelchen (Geschossen) laut Quantentheorie völlig falsch ist.
"Ein Elektron bewegt sich auf einen Leuchtschirm zu. Bevor es auf den Schirm trifft, existiert es nicht im Raum, sondern nur als Möglichkeitsfeld. Zum Zeitpunkt des Auftreffens existiert es jedoch tatsächlich; es ist ein elementares Quantenereignis, ein Ereignis in Raum und Zeit, geworden. Durch die Wechselwirkung mit dem Schirm, der eine Messvorrichtung zur Ortsbestimmung darstellt, ist das Elektron von einer potenziellen in eine tatsächliche Existenz übergegangen. Dieser Übergang wird als »Kollaps des Quantenzustands (oder der Wellenfunktion) des Elektrons« bezeichnet."
Was Malin da für den Ort von Elektronen sagt, gilt vielleicht grundsätzlich für Wahrscheinlichkeiten:
Vorher "existieren" alle Möglichkeiten außerhalb von Zeit und Raum, und die (Nicht-)Verwirklichung passiert innerhalb von "Null komm nix".
Bei diesen Vorgängen würden die Mathematiker von Unstetigkeitsstellen sprechen: der Übergang ist
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Um zum Kleidungsbeispiel Jaquard zurück zu kehren:
die Wahrscheinlichkeit der speziellen Kleiderkombination der Anwesenden war vielleicht extrem gering (1 zu 1060 ),
aber im Augenblick ihrer Verwirklichung ist sie dann eben doch zur "Wahrscheinlichkeit" 1 explodiert: alle anderen, vielleicht sogar höheren Wahrscheinlichkeiten (für andere Kleidungskombinationen) sind hingegen urplötzlich vernichtet worden.
Den Kollaps kann man auch als urplötzliches "Zusammenfallen" ansehen - und daher kommt vielleicht der Begriff "Zufall".
(Oder stammt der Begriff "Zufall" von der zweiten Bedeutung des Verbs "zufallen"?: )
Im Unterschied zum medizinischen Kollaps (s.o. die Brockhaus-Definition) gibt es allerdings beim Zufall keinerlei "Vorzeichen [...][:] Gesichtsblässe, kalter Schweiß, Schwindelgefühl und Gliedmaßenzittern." Laut Quantentheorie
ist es zudem nicht so, dass wir (wie so oft im Leben) die warnenden Vorzeichen nur nicht erkennen (können) oder sie übersehen (wollen),
sondern es gibt sie wirklich nicht
(was mir allerdings immer eine höchst gewagte erkenntnistheoretische These zu sein scheint).
Wenn der Wahrscheinlichkeitskollaps das eigentliche Kennzeichen von Zufällen ist, so scheinen mir die Bezeichnungen
Wahrscheinlichkeit 1 = absolut sicheres Eintreten,
Wahrscheinlichkeit 0 = absolut ausgeschlossenes Eintreten
unsinnig: wenn etwas sowieso schon von Anfang an absolut sicher ist, kann gar kein Kollaps mehr stattfinden, sondern ist der Übergang gleitend, bzw. im Grunde ändert sich gar nichts.
Ebenso kann man nur vor dem Eintreten von einer Wahrscheinlichkeit reden. Danach ist es nicht mehr wahrscheinlich, sondern sicher (oder sicher nicht, also ausgeschlossen).
Allemal interessant ist auch, wann es laut Malin (der da den Physiker Dirac referiert) zu einem Kollaps kommt:
"Wenn die Beziehungen zwischen den verschiedenen Möglichkeiten ein solches Maß an Komplexität erreichen, dass man sie als chaotisch bezeichnet, ist ein kohärentes Interferenzmuster nicht länger möglich und es kommt zum Kollaps."
Wenn ich das überhaupt halbwegs richtig verstehe, geschieht der Kollaps also dann, wenn die Möglichkeiten allzu sehr auseinanderdriften und keinerlei Zusammenhang mehr haben, Die Natur scheint sich zu "denken": "Bevor hier allzu großes Chaos entsteht, verwirkliche ich doch liebe eine Möglichkeit - und würge alle anderen ab."
Malin versucht zudem eine ansatzweise Erklärung dafür, warum wir dem Kollaps bzw. überhaupt dem Zufall nicht "beikommen" können:
"Der Kollaps kann nicht im Rahmen des [alle derzeitigen Naturwissenschaften ausmachenden] mathematischen [!] Formalismus [...] erklärt werden, weil die Natur nicht wirklich objektivierbar ist!"
Da höre ich auch raus: Mathematik (und "Objektivierung") ist das prinzipiell falsche Mittel, um dem Kollaps "beizukommen". Vielleicht, weil MathematikerInnen ganz grundsätzlich nicht mit Unstetigkeiten (s.o.) umgehen können?
Manchmal wünsche ich mir, dass Radioaktivität quietschegelb wäre und penetrant stinken würde: nicht nur in Russland, sondern auch in Mitteleuropa wäre die Kraftwerkskatstrophe in Tschernobyl ganz anders wahrgenommen worden, wenn überall zentimeterdick knatschgelber und widerlich stinkender Staub oder Schleim herumgelegen hätte - und noch immer läge. |
Das Problem beim Wahrscheinlichkeitskollaps ist, dass man ihn (auch deshalb, weil er keine Zeit in Anspruch nimmt) nicht sieht und spürt.
Was bei solch einem Wahrscheinlichkeitskollaps passiert, kann man sich wohl nur mit den Metaphern extrem schneller Katastrophen klar machen:
der rasend schnellen Kettenreaktion einer Atombombe,
wenn der Herzinfarkt zuschlägt,
die urplötzliche Explosion eines Vulkans
dem Einbruch einer
"Caldera, Kraterkessel von bis zu mehreren Kilometern Durchmesser und einer Tiefe von mehreren Kilometern. Eine Caldera entsteht, wenn das Dach einer Magmakammer einstürzt (Einsturz- oder Einbruchscaldera) oder wenn das Dach durch eine Eruption weggesprengt wird (Explosionscaldera)."
(Microsoft Encarta 2003)
Eine andere hilfreiche Metapher für das, was beim Zufall passiert, ist eine Parallelwelt der Möglichkeiten (z.B. die keltische ), die meist unbemerkt neben unserer "realen" Welt existiert, aber doch ab und zu durch Risse in sie eindringt und dort Blasen wirft.