liebenswerte Wissenschaftler

 

gütig, grundgütig, herzlich, kordial (veraltet), warmherzig, gut, seelengut, herzensgut, gutherzig, gutmütig, sanftmütig, weichherzig, barmherzig, gnädig, mild, lindernd; entgegenkommend, friedfertig, menschlich, selbstlos, tolerant, willensschwach; gütig sein, eine Seele von Mensch / von einem Menschen [...] sein, nicht nein sagen können; Freundlichkeit, Güte.

(Duden - die sinn- und sachverwandten Wörter)

Könnte es sein, dass uns mit dem Wort "gütig" das ganze Wortfeld und damit vielleicht sogar eine ganze Menschengattung abhanden gekommen ist?

  1. Selbstverständlich sind

streng voneinander zu  trennen: für die "Wahrheit" eines Werks ist es völlig unerheblich, ob sein Schöpfer ein guter Mensch oder eine Sozialratte war:

Die Frage müsste vielmehr lauten:

Zeigen sich die biographischen "Macken" auch im Werk? Also z.B.: hat Picasso Frauen auch entsprechend dem Satz "Frauen sind entweder Madonnen oder Fussabtreter" gemalt. Und da könnte man ja probeweise wirklich mal behaupten, dass er sie (kubistisch) "zerschnitten" hat.

Nur wäre auch damit noch kein endgültiges Urteil über das Werk gefällt, denn dann könnte man ja immerhin noch sagen: Picasso hat wie kein anderer eine bestimmte männliche Sicht auf Frauen auf den Punkt gebracht, seine "Moral" bestand (egal, ob absichtlich oder unfreiwillig) darin, die "Unmoral" festzunageln.

Übertrieben gesagt: das Buch eines Triebtäters kann "künstlerisch wertvoll" sein, wenn es die "Mechanismen" eines Triebtäters aufklärt - und damit vielleicht spätere Triebtäter verhindert.

  1. Immer schon grundfalsch ist der Ansatz, die Welt in

zu unterteilen:

(gleichzeitig ist es aber natürlich völliger pseudofeministischer Quatsch, dass "seine" Relativitätstheorie in Wirklichkeit von seiner ersten Frau stamme).

Deshalb wäre es natürlich nur billig (rachsüchtig!?), den unten genannten "Vorbildern" hier und da doch noch "Macken" nachzuweisen.

  1. Menschliche Liebenswürdigkeit ist nun wahrhaft nicht der einzige Zugang zu Wissenschaft und Kunst

(dann blieben im Sinne von 1. ja ¾ aller Erkenntnisse und Werke ausgeschlossen),

aber sie ist

etwa auch im Sinne von

ein besonders angenehmer.

Es gibt große Menschen, die nicht unbedingt große Künstler waren. Vgl. z.B. die dringend lesenswerte Autobiographie

von Carl Zuckmayer, die doch allemal sein gesamtes künstlerisches Werk überragt.

In der Regel interessiert die (liebenswerte) Persönlichkeit aber doch nur im Hinblick auf bzw. als Einstieg ins Werk. Unten genannte Personen sind doch nur wegen ihrer wissenschaftlichen Leistungen interessant.

In der Tat wäre es aber interessant, wie ihre Persönlichkeit in ihr Werk eingeht, so dass im Extremfall das Werk ganz genauso wie der Mensch ist. Z.B. war bei Niels Bohr (s.u.) die Wissenschaft (Komplementaritätsprinzip) genauso kommunikativ wie er selbst.

  1. Vorweg seien - bei allem Verständnis - exemplarisch auch drei Gegenbeispiele genannt, also Naturwissenschaftler, die


Isaac Newton

*


Jean-Joseph Le Verrier
(einer der beiden Entdecker des Neptun;
und nebenbei ein Mensch, dem auf sämtlichen Bildern,
die ich von ihm kenne, die Verschlagenheit ins Gesicht geschrieben zu sein scheint)

*

"Es ist nicht vorgeschrieben, dass große Wissenschaftler besonders liebenswürdig sein müssen; das gilt für [Louis] Pasteur [...] wie für jeden anderen. Er war nicht gerade ungeheuerlich oder böse, aber doch [...] arrogant und unbarmherzig [...]. Wenn es darum ging, sich selbst ins rechte Licht zu rücken, war er energisch und geschickt; berechnend wählte er aus, welche Beziehungen er pflegte und welchen Bekannten er fallen ließ. Nur widerwillig erkannte er die Leistungen seiner Mitmenschen an, während er die eigene Anerkennung bei anderen sehr entschlossen einforderte. Ungeachtet seiner enormen Selbstsicherheit [?] reagierte er empfindlich auf jede Kritik, hielt damit selbst aber niemals hinter dem Berg [...] Größeren Schaden fügt Pasteurs Biographie die Neigung des Forschers zu, die Geschichte umzuschreiben und Beweise, die seine Theorie stützen, voreingenommen auszuwählen. Trotz alledem aber ist sein überragender Geist nicht zu leugnen."
(Philip Ball in )

Es gibt halt jene Sorte Mensch, die große Erkenntnisse bzw. Werke hervorgebracht hat, mit denen ich aber nicht gerade im Alltag zusammen sein wollte.


Erstaunlich finde ich es (weshalb eigentlich?) schon, in den Wissenschaften bewundernswerter menschlicher Größe zu begegnen:

  1.  

Niels Bohr
(1885 - 1962)

"[...] Bohr's style affected the way physicists think and work, how they individually and collectively strive for answers, how they relate to their mentors, their peers, and their students. In the process of wielding this power, Bohr also became the most loved theoretical physicist of the twentieth century.
Yes, loved. Respect and admiration were feelings young physicists had for all of these greats, but love is something different. Yet it is a term that appears again and again in memoirs when physicists speak of Bohr. Part of this book's scope is to explain why this is so, what it was about Bohr's persona, his behavior, his way of thinking and working, that led others to regard him with such warmth. [...]"
( )

"Ich habe ja wirklich viele besondere Menschen in meinem Leben kennengelernt, aber der Eindruck, den mir Bohr damals und immer wieder gemacht hat, ist doch überwältigend gewesen. [...] Und man brauchte nur mit ihm zu sprechen und einige eiserne Reifen um Kopf oder Herz springen."
(Lise Meitner, 1878 - 1968)

 

"Liebenswert" heißt nicht "saft- und kraftlos" oder "leisetreterisch":

"Über all die Jahre gingen Bohr und Einstein nicht nur überaus höflich miteinander um, sie bewahrten sich auch ein Höchstmaß an aufrichtiger Hochachtung, Wertschätzung und Zuneigung füreinander.
[...]
»Die Auseinandersetzungen begannen meist schon am frühen Morgen damit, dass Einstein uns zum Frühstück ein neues Gedankenexperiment erklärte, das nach seiner Ansicht die Unbestimmtheitsrelationen widerlegte. Wir begannen natürlich sofort mit der Analyse, und auf dem Weg zum Konferenzraum, auf dem ich [= Werner Heisenberg] Bohr und Einstein meist begleitete, wurde eine erste Klärung der Fragestellung und der Behauptung erreicht. Es wurden dann im Laufe des Tages viele Gespräche darüber geführt, und in der Regel war es am Abend so weit, dass Niels Bohr bei der gemeinsamen Mahlzeit Einstein beweisen konnte, dass auch das von ihm vorgeschlagene Experiment nicht zu einer Umgehung der Unbestimmtheitsrelationen führen könnte. Einstein war dann etwas beunruhigt, aber schon am nächsten Morgen hatte er beim Frühstück ein neues Gedankenexperiment bereit, komplizierter als das Vorhergehende, das nun die Ungültigkeit der Unbestimmtheitsrelationen wirklich demonstrieren sollte. Diesem Versuch ging es freilich am Abend nicht besser als dem ersten ... «
[...]
»Für Bohr bedeutete dies [ein neues Argument Einsteins] einen schweren Schlag. Im Augenblick sah er keine Lösung. Den ganzen Abend war er äußerst unglücklich, ging vom einen zum andern und versuchte alle zu überreden, dass es nicht wahr sein könne, denn es würde das Ende der Physik bedeuten, hätte Einstein Recht. Doch er konnte keine Widerlegung finden. Ich werde niemals den Anblick vergessen, den die beiden Gegner beim Verlassen des Universitätsklubs boten: Einstein, eine majestätische Gestalt, ging ruhig mit einem leicht ironischen Lächeln, und Bohr trottete neben ihm, höchst aufgeregt ... Am nächsten Morgen kam Bohrs Triumph.«
Bohr verbrachte eine schlaflose Nacht, bis er schließlich Einsteins Irrtum entdeckte: Einstein hatte vergessen, einen bestimmten Effekt zu berücksichtigen, der einen wesentlichen Teil der allgemeinen Relativitätstheorie bildete!
Natürlich hatte Bohr seine helle Freude an der Widerlegung des Einstein'schen Gedankenexperiments und besonders daran, dass Einstein ausgerechnet über seine eigene Relativitätstheorie gestolpert war. In Kapitel 3, S. 63, erwähnte ich [= Shimon Malin] einen Vortrag Bohrs, den ich im Mai 1958 in Israel hörte. Das einzige, woran ich mich aus dem Vortrag erinnere, ist ein Dia, das die Messvorrichtung des Einstein'schen Gedankenexperiments zeigte, des letzten Versuchs Einsteins, das Unschärfeprinzip zu widerlegen. Noch 28 Jahre nach dem Ereignis freute sich Bohr über seinen Sieg!"
(Shimon Malin)

Und so naiv bin ich ja auch nicht zu glauben, dass es bei einigen Menschen (also auch Niels Bohr) keinerlei Schattenseiten gebe:

"Bohr konnte sehr überzeugend wirken, selbst wenn er nicht unbedingt die Vernunft auf seiner Seite hatte. Immer wenn er mit Hilfe seiner beeindruckenden, aber unerforschlichen Intuition vor allen Mathematikern und analytisch denkenden Wissenschaftlern die richtige Antwort für ein Problem sah, vermehrte dies seinen Ruhm als Mystiker der Quantentheorie. Jagte er jedoch ebenso unnachgiebig einem Trugschluss nach, konnte er schlicht und ergreifend ein Tyrann sein."
(zitiert nach )

  1.  

Max Planck
(1858 - 1947)

"Wir, die wir Planck haben näherstehen dürfen, haben ihn nicht nur verehrt und bewundert, sondern wie einen Vater geliebt. In ganz seltener Weise vereinigten sich in ihm höchstes Forschertum mit edelstem Menschentum, klarster Verstand mit einer wahrhaft reinen Seele. Wer je seiner bedurfte, war seines verständnisvollen Rates und seiner Hilfsbereitschaft gewiß. Schwerste Schicksalsschläge haben seine auf dem festen Grunde einer tiefen Religiosität ruhende Seele nicht zu brechen vermocht. Er blieb bis an sein Ende ein das Leben bejahender Mensch, der seinen inneren Ausgleich immer wieder in seinem Gottvertrauen, in seiner Wissenschaft, in der Musik und in der Natur fand. Ihm ist das Glück zuteil geworden, auf ein wahrhaft vollendetes Leben zurückblicken zu dürfen. Es schenkte ihm Leistungen, deren auch eine späte Nachwelt noch gedenken wird, und es vergönnte ihm, die Bewunderung und den Dank der Mitwelt für diese Leistungen zu erleben. Zwar ging dieses große Leben nicht leuchtend nieder, sondern eingehüllt in eine dichte Wolke von Leid. Dennoch wissen wir, daß es noch in eine ferne Zukunft leuchten wird."

Wilhelm H.. Westphal

Was ist passiert, dass wir solche Sprache nicht mehr kennen, ja sie pauschal der falschen Heldenverehrung verdächtigen?
Was ist uns angetan worden - oder was haben wir uns selbst masochistisch verkniffen?
Warum können wir nicht mehr ohne Selbsterniedrigung verehren?
Wir haben mit den falschen die richtigen "Götter" entthront, leben in einer heillos "gottlosen" Welt, und als schales Surrogat erhalten wir Stars & Sternchen:

"I´ve got the brains
you´ve got the looks
let´s make lots of money"
(Pet Shop Boys)

"[Plancks] erste Frau, die er innig liebte, starb schon 1909, und der jüngere seiner beiden Söhne kam im Ersten Weltkrieg ums Leben. Außerdem hatte er Zwillingstöchter, die er anbetete. Eine starb bei einer Entbindung. Die zweite kümmerte sich um das Baby und verliebte sich in den Mann ihrer Schwester. Zwei Jahre später heirateten die beiden, und dann starb auch diese Schwester im Kindbett. Im Jahr 1944, als Planck 85 Jahre alt war, wurde sein Haus von einer Bombe der Alliierten getroffen, und er verlor alles: Papiere, Tagebücher, die gesammelten Schätze eines ganzen Lebens. Im folgenden Jahr wurde sein verbliebener Sohn wegen einer Verschwörung zur Ermordung Hitlers verhaftet und hingerichtet."
(Bill Bryson in   )

  1.  


Charles Darwin
(1809 - 1882)

Vorweg: Darwin, also dem vermeintlichen "Erfinder" des später ideologisch so missbrauchten "Kampfes ums Dasein", ja des Sozialdarwinismus, hätte man doch vermutlich am allerwenigsten anrührende Menschlichkeit zugetraut:

  • "In der Formulierung meiner Einsichten war ich stets zurückhaltend, um Andersdenkende nicht zu verletzen. Ich habe mich auch nie so geschmacklos geäußert wie mein lauter deutscher Freund Ernst [Haeckel] oder gegeifert wie meine bischofsfressende Bulldogge."

  • Als ein anderer, nämlich Alfred Russel Wallace , parallel dieselben Gedanken wie Darwin hatte, hat dieser das nie verschwiegen oder unterdrückt, sondern immer ausdrücklich mitgesagt.

  • Darwin kurz vor seinem Tod über seine Frau, die ihn um 14 Jahre überlebte:

"Ihre verständnisvolle Güte mir gegenüber war immer beständig, und sie ertrug mit größter Geduld mein ewiges Klagen über Unwohlsein und über Unbequemlichkeiten [oder genauer wohl: seine Hypochondrie] ... Mich setzt jenes außerordentliche Glück in Erstaunen, daß sie, ein Mensch, der seinen sittlichen Qualitäten nach unermeßlich höher stand als ich, einwilligte, meine Frau zu werden. Sie war mir während meines Lebens ... [auch in wissenschaftlichen Fragen!] ein weiser Ratgeber und heiterer Tröster."

(Ich würde vor Stolz platzen, ja mein Leben hätte sich gelohnt, wenn ich nach langer Ehe so über meine Frau sprechen könnte - und selbst nicht nur empfangen, sondern auch hätte geben können.)

4. (vgl.    2/06)

5. siehe

6., falls man Entdecker auch mitzählen will:

"Gebt mir Scott als wissenschaftlich-geographischen Expeditionsleiter…, gebt mir Amundsen für eine rasche und effiziente Polar-Expedition, aber gebt mir Shackleton, wenn sich das Schicksal gegen mich verschworen zu haben scheint und ich einen Ausweg suche.“
(Apsley Cherry-Garrard, zitiert nach )



(, 12.1.08)