Projekt "mathematische Denkweisen"
(oder vielleicht doch demütiger: Schule des mathematischen Denkens)
Es ist mein pädagogisches Credo, daß Schule (im besten humboldschen Sinne humanistischer Allgemeinbildung) mit all ihren Fächern zusammen weniger Fakten als verschiedenste Denk- bzw. (durchaus auch praktische) Zugangsweisen zur "Welt" vermitteln soll; auch und gerade, damit SchülerInnen eine freie, differenzierte Auswahl treffen und selbständig an eine offene Zukunft gehen können.
Mathematik ist da ausdrücklich "nur" einer von mehreren, ja, überhaupt erst im Plural wichtigen Zugängen zur Welt, also genauso viel oder wenig "Hauptfach" wie z.B. auch Geschichte, Kunst oder Religion.
Die verschiedenen Zugangsweisen und Perspektiven auf "die" Welt sind sicherlich nicht simpel "ganzheitlich" harmonisierbar, dürfen aber auch nicht völlig unverbunden und damit scheinbar widersprüchlich nebeneinander stehen bleiben. "Die" Welt darf nicht zerfetzt werden (oder genauer: nicht noch zerfetzter, als sie sowieso schon ist). Daraus folgt beispielsweise:
Mathematik + Geschichte = Mathematikgeschichte.
Mathematik + Kulturwissenschaft = Mathematik als Kulturwissenschaft
Viele Menschen, sei´s in ihrer Schulzeit, sei´s lange danach, haben ein ausgesprochen zwiespältiges Verhältnis zur Mathematik:
einerseits bewundern sie das aberwitzige Tun echter Mathematiker,
andererseits beängstigt, ja, beschämt sie Mathematik: "das werd´ ich nie verstehen, dazu bin ich eh zu dumm".
Wie so oft liegen da übertriebene Bewunderung und Beschämung verdächtig nah beieinander.
Dieser doppelte Effekt ist durch das erklärbar, was die Leute für Mathematik halten bzw. (vor allem, ja, fast einzig und allein in der Schule) für Mathematik zu halten gelernt haben.
Und genau bei der Vermittlung dessen, "was Mathematik eigentlich ist", versagt die Schule andauernd bzw. hat sie – bei vielen Leuten, die längst von der Schule runter sind – versagt.
(Warum Schule so versagt und vielleicht – unter äußerem Druck – versagen muß, sei hier mal außen vor gelassen.)
Mathematik, so unterstelle ich mal, ist für die meisten Leute
wüstes Rechnen bzw. Gleichungsumformen bis zum Abwinken (und wenn nur ein Fehler drin ist, ist alles falsch; und mindestens ein Fehler ist immer drin);
ein Wust von 10000 uneinsehbaren und eh nicht merkbaren Regeln
(Kommutativ- und Assoziativ- und Distributivgesetz und Potenzregeln und Satz des Pythagoras und Bruchrechenregeln und und und):
gerade als "Fachmann" und Lehrer muss man sich immer mal wieder klarmachen, was für eine Fülle von (dem Fachmann natürlich selbstverständlich und unbewußt zufließenden) Regeln beispielsweise ein Siebtkläßler parat haben muss, um doch (aber eben nur für Fachleute) als simpel geltende sogenannte Termumformungen durchführen zu können;
völlig abstrakt und uneinsichtig: sie funktioniert (wenn man richtig rechnet und alle 10000 Regeln drauf hat), oder sie funktioniert halt nicht. Weshalb sie aber fallweise funktioniert, bleibt völlig unklar;
eine Sträflingsarbeit aus an den Haaren herbeigezogenen Aufgaben "nur um der Aufgaben [und des Prüfens] willen": Aufgaben, die sich in ewiger Öde immer wiederholen ("das hunderttausendste Koordinatensystem der Schulzeit") und doch immer mindestens eine Hinterhältigkeit enthalten (woran man halt gerade nicht gedacht hat);
ein System aus esoterischen Pseudoproblemen: wen interessiert denn schon das Raumintegral oder die Ortslinie der Wendepunkte, und selbst wenn man sie berechnen kann: was hat man (sogar nur innermathematisch betrachtet) davon?
Von Mathematik wird (auch in der Schule) immer – und mit Recht! - behauptet, sie sei allüberall anwendbar, ja, geradezu Fundament unserer (technischen) Kultur. Nur wird genau das in all den Aufgaben nie sichtbar. Wenn sie dann mal sogenannte "Anwendungsaufgaben" sind, ist diese Anwendbarkeit an den Haaren herbeigezogen bis geradezu irrwitzig:
"Wenn ich heute halb so alt bin wie mein Vater, wie alt wird meine Mutter dann in 100 Jahren sein?"
(So irrsinnig unlogisch sind die "Anwendungsaufgaben" zwar nicht, aber so kommen sie doch den meisten SchülerInneN vor.)
Und wenn die Mathematik dann tatsächlich mal was mit der Alltagswirklichkeit zu tun hat, verkompliziert sie alles nur unnötig. Dass beispielsweise die Form eines Dings sich nicht ändert, wenn ich es verschiebe, drehe oder spiegele, ist doch jedem (auch nichtmathematischen) Menschen selbstverständlich. Spätestens aber, wenn man die davon sprechenden "Kongruenzsätze" durchgenommen hat, ist es schrecklich kompliziert. Oder genauer: man merkt vor lauter Kompliziertheit nichtmal mehr, daß da von etwas nach wie vor ganz Selbstverständlichem die Rede ist: die Mathematik erscheint als Königsweg, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen (vgl. ).
Ich behaupte aber mal frischweg, dass ausnahmslos alles, was oben als (Schul-)Mathematik angesehen wurde, gerade nicht Mathematik, sondern nur ein Zerrbild wirklicher Mathematik bzw. ein mathematischer Homunculus ist (und ein Bärendienst an der Mathematik).
Ein Gegen- oder "eigentliches" Bild von Mathematik kann man nun aber nicht dadurch erreichen, dass man die konventionelle (Schul-)Mathematik besser vermittelt, sondern einzig und allein dadurch, dass man andere bzw. die "eigentlichen" Aspekte der Mathematik zeigt:
keine einzige Mathematik mehr ohne Eingehen auf die mathematischen Denkweisen (und Zusammenhänge)! |
Sicherlich braucht man in der Mathematik sein Handwerkszeug, und sicherlich muss man sich in dessen Handhabung üben: wie beim Lernen eines Musikinstruments sind langwierige und damit auch langweilige Etüden unvermeidbar: es gibt Dinge, die einem nunmal nur durch oftmaliges "trial and error" ins Blut übergehen. Wenn sie aber erstmal da angelangt sind, dann sind sie auch mit Anschauung verbunden.
Dennoch misstraue ich dem reinen Pauken: da wird etwas (z.B. kurz vor einer Klassenarbeit) sinn- und verstandlos in den Kopf geknallt, dann ebenso sinnlos und auf Teufel komm raus angewandt – und danach natürlich sofort wieder vergessen (oder es bleiben nur halbwahre und damit auch halb falsche Relikte über, die sich dann fort und fort gebähren).
SchülerInnen, so möchte ich mal behaupten, pauken viel zu viele Regeln in sich rein. Beispielsweise mag die doch schon ganz hübsch komplizierte Formel zur Berechnung der Lösungen quadratischer Gleichungen sehr hilfreich sein und den Weg zu den Lösungen (falls überhaupt welche vorliegen, aber selbst das entscheidet sich in dieser Formel) erheblich vereinfachen. Aber wenn man nur diese Formel in sich reinpaukt und nicht ihre Herleitung kennt bzw. verstanden hat, ist man doch schnell völlig aufgeschmissen, sobald man sie vergessen oder auch in nur einem einzigen Detail falsch memoriert hat. Und es reicht auch nicht, die Formel einer Formelsammlung zu entnehmen, weil man dann noch lange nicht weiß, was für p und q einzusetzen ist.
Nein, Regeln und Handwerkszeug müssen anschaulich werden (vgl. "innermathematische Veranschaulichung"). Man muss ein "Gefühl" für ihre Bedeutung entwickeln, was z.B. auch heißt: eine Division durch Null darf einem nichtmal versehentlich unterlaufen, sondern bei ihr muss einem umgehend geradezu körperlich übel werden.
Oder Regeln müssen mit einem Rhythmus, ja, geradezu einer Melodie versehen werden.
Das ist genauso wie mit Zeichensetzung: das Erlernen ihrer Regeln mag ein guter Einstieg sein, man beherrscht die Zeichensetzung aber erst wirklich, wenn man die Notwendigkeit von Kommas in der Satzmelodie spürt bzw. die Abwesenheit von Kommas rhythmisch und sinngemäß/sinnlich vermißt (denn beim Schreiben von Aufsätzen hat man eh keine Zeit mehr und auch keinen Gedanken frei, noch zu überlegen, weshalb wo ein Komma hinkommt).
Mein Bild von Mathematik besagt schlichtweg, dass man gar nicht so viel rechnen und Regeln beherrschen, sondern typisch mathematische Denkweisen erkennen und erlebt haben muß:
Mathematik ist ein (lockeres) System aus Denkweisen, nicht aus Regeln. |
Die Regeln sind "nur" erstaunliche Folgen dieser Denkweisen und danach Mittel, diesen Denkweisen einfacher nachzugehen.
Und erst die Denkweisen (z.B. grundsätzlich die Suche nach Verallgemeinerungsmöglichkeiten) führen zu innermathematischem Fortschritt.
Ein Mathematiker rechnet eh nie, das ist ihm zu schnöde, weil immer nur Einzelfall: dass 2 · 3 = 6 ist, ist also völlig uninteressant; hingegen ist die Folgerung daraus, dass nämlich jede Zahl, die durch 2 und gleichzeitig durch 3 teilbar ist, automatisch auch durch 6 teilbar ist, allgemeingültig - also Spezialgebiet für Mathematiker.
Um typische mathematische Denkweisen soll es im folgenden gehen: sie werden vorerst nur locker aneinandergereiht, und ich vertraue darauf, dass sie sich schon von selbst zu einem lockeren Gesamtbild von "Mathematik" zusammensetzen werden.
Dreierlei ist mir dabei wichtig:
, daß Mathematiker meist keineswegs "schlauer" als "Normalsterbliche" sind, sondern
oftmals genauso "dumm", nur daß sie sich ihre Dummheit eingestehen und gerade deshalb etwas aus ihr machen können
oftmals "gesunden Menschenverstand" nur besser systematisieren;
notgedrungen aber manchmal auch andere, auf den ersten Blick abstruse Wege gehen.
Mein Ziel ist es also, immer zu zeigen, wie naheliegend mathematische Probleme oft sind und auf welch oftmals erstaunliche Wege sie fast notgedrungen führen.
versuche ich, die Denkweise immer an einigen wenigen möglichst einfachen, naheliegenden und aussagekräftigen Problemen vorzuführen. Dazu reicht simpelste Schulmathematik, ja, was Mathematik eigentlich "ist", kann man bereits in der 7. Klasse mit SchülerInneN erarbeiten. D.h. auch, dass die mörderische Stofffülle der Schulmathematik überflüssig ist, ja, vom eigentlich Wichtigen eher ablenkt.
Dabei ist klar, dass wenige Beispiele keine Einübung ermöglichen.
werde ich bewusst mit (wenn auch möglichst einfachen) Zahlen und Formeln arbeiten, also dem, was nunmal bestes Hilfsmittel der Mathematik ist (und sie dennoch nicht ausmacht). Ich halte es für einen echten Fehler, dass viele populärwissenschaftliche mathematische und physikalische Bücher absichtlich auf Zahlen und Formeln verzichten, weil diese angeblich – so immerhin Stephen Hawking –nur abschreckend seien und für eine minimale Auflage sorgen würden. Könnte es gar sein, dass Zahlen und Formeln aus Minderwertigkeitskomplexen der Mathematiker verschwiegen werden, als hätte diese formale Sprache etwas Anrüchiges?
Nein, man kann und darf nicht eins der zentralsten und genialsten Hilfsmittel der Mathematik verschweigen, zumal Zahlen und Formeln vieles erheblich vereinfachen (was seinerseits zu zeigen sein wird). Das ist wie mit Illustrationen (in der Mathematik Planskizzen und Funktionsgraphen): viele "seriöse" Autoren auch anderer Fächer meiden sie wie der Teufel das Weihwasser. Aber die sinnvolle Einbindung von Illustrationen (sie erklären den Text und letzterer wiederum erstere) ist doch nicht zu verwechseln mit einem Illustrierten-Journalismus, der alle echte, also Hintergrunds-Information durch Bilder ersetzt bzw. abwürgt.
Außerdem verkaufe man die Menschen doch nicht für dümmer, als sie sind. Einfache Zahlen und simple Formeln kann jeder verstehen, wenn sie nur gut eingeführt, begründet und erklärt werden.
Hawking kann man nur dreist mit Roger Penrose antworten:
"An mehreren Stellen in diesem Buch habe ich mich unverfroren mathematischer Formeln bedient und damit die häufig ausgesprochene Warnung missachtet, dass jede solche Formel den Leserkreis halbieren wird."
Dennoch
sollte man natürlich Formeln anschaulich machen,
ihre Vorteile ggb. einer umständlichen sprachlichen Umschreibung klar machen,
bin ich natürlich mit Graßmann (der allerdings von der Physik sprach) der Meinung, dass eine Menge Formelkram vermeidbar ist. Für ihn sind Formeln nur das (notwendige!) Gerüst, mit dem ein Bau hochgezogen wird. Wenn der Bau fertig ist, kann man das Gerüst wieder entfernen, ja, muss es sogar, um die Schönheit des Baus zu zeigen und ihn zugänglich zu machen.
D.h., es wird immer nötig sein, das mittels Zahlen und Formeln Erreichte in Anschauliches zurück zu übersetzen. Letzte Frage muss also immer sein:
"schön und gut, diese Zahlen und Formeln, aber was haben wir denn nun eigentlich von all diesem formalen Eiertanz, was bedeutet das Ergebnis und was an ihm ist bemerkenswert im Hinblick auf die gerade behandelte mathematische Denkweise?"
(Die Antworten können dabei erstmal immer "nur" innermathematisch sein.)
Man muß nicht alles können (und gar behalten; nebenbei: Denk- und damit Herangehensweisen behält man besser als Fakten und Regeln), aber
ich halte den Überblick über wichtigste mathematische DENKWEISEN für unverzichtbar in einer immerhin teilweise erheblich mathematisierten Kultur. |
Ich halte sie für unverzichtbar,
damit man die mathematischen (und damit technischen) kulturellen Leistungen würdigen kann (im Gesamtbild der Tradition);
damit man mathematisch "mitspielen" und sich ein Urteil bilden kann;
um sich gegen schleichend falsche und übertriebene Mathematisierung mittels Mathematik wehren zu können. Es wird also auch immer mal wieder um die Grenzen der Mathematik gehen (jenseits dieser Grenzen sind andere "Fächer" zuständig, also z.B. Soziologie, Philosophie, Psychologie und vor allem Kunst).
Wichtiger als Notwendigkeit ("Pflicht") ist mir aber Spaß: wie ich ebenfalls zu zeigen versuchen werde:
unglaublich, aber mathematisches Denken kann hoch ästhetisch, zum Staunen anregend, ungeheuer faszinierend und sehr befriedigend sein! |
Denn echte Mathematiker (also nicht die nur bienenfleißigen Rechenknechte) sind lebensvolle Menschen, nicht bloß verstaubte Professoren im Elfenbeinturm.
Keine Frage: die mir vorschwebende neue "Mathematik der mathematischen Denkweisen" verlangt auch nach neuen Methoden: Denkweisen, wenn sie denn tatsächlich in den Köpfen von SchülerInnen entstehen sollen, vertragen
keinen Frontal- und reinen Tafelunterricht,
kein Einheitstempo für alle,
kein Lernen stramm nach Schulbuch (ein mathematischer Satz wird hingeknallt, und dann werden bis zum Abwinken Aufgaben gerechnet) und
kein simples Abprüfen durch Klassenarbeiten und Klausuren.
Es wäre ein offenerer Unterricht vonnöten, der echten Aufforderungscharakter hat. Gemeint ist also keineswegs bloßes laissez faire:
welche mathematischen Probleme könnten SchülerInnen denn interessieren?
aber auch umgekehrt: welche mathematischen Probleme muSS ich den SchülerInnen zumuten, um gewisse wichtige Denkweisen zu vermitteln?
Arg pauschal sind nötig:
größere Freiheiten in der Problemauswahl (statt durchstrukturierte, verbindliche Stoffülle),
Durchforsten des mathematischen Schul-Bestands hin auf überflüssige Tätigkeiten,
der Lehrer als Anreger und Begleiter,
Projektarbeit
(also z.B. nicht mehr "der Satz des Pythagoras und Höhen- und Kathetensatz und Flächenumwandlung und massenhaft Aufgaben à la »berechne die Länge der Kathete«", sondern "Pythagoras und seine Folgen";
oder: "das Verhalten von Funktionenscharen; Hintergründe über ihre Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten und Anwendbarkeiten";
um kurz bei diesem Beispiel zu bleiben: da muß man eine Menge über innermathematische Logik wissen – und kann einem ein Computer doch unendlich bei der Veranschaulichung und Weiterentwicklung helfen. Beides!)
Gruppenarbeit
(über unterschiedliche statt allgemeinverbindliche Aspekte; und hinterher käme alles wieder ins Plenum),
Erstellung von Jahresarbeiten, Ausstellungen (jawohl, über Mathematik!) und anderen Präsentationen (u.a. im Internet; da aber nicht "irgendwo" [wo es sowieso nur auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde], sondern auf einem zentralen Fach-Server),
eigenständige Materialsammlung (in Bibliotheken und Internet),
dringend: Öffnung der Mathematik auf Kulturgeschichte hin, weil sie selbst eine Kulturwissenschaft ist.
Weil ich beim "Projekt Mathematische Denkweisen" gleichzeitig aber auch an Populärwissenschaft für Erwachsene denke und da wiederum etwa an ein Buch
(etwa für jemanden, der lange Zeit nach seinem mathematisch eher frustrierenden Schulbesuch durch irgendeine neue Anregung abends doch nochmal Einblick in diese gar nicht so uninteressante Wissenschaft bekommen möchte),
wäre auch zu überlegen, wie eine schriftliche Form dieses Projekts aussehen könnte.
Ist aber ein Buch nicht immer und unvermeidbar frontal, weil da nunmal der Autor einseitig dem Leser was "predigt"?
Nun, aus Erfahrungen mit "guten" (wirklich populärwissenschaftlichen) Büchern kann ich mir durchaus etwas anderes vorstellen:
ein Autor, der den Leser "bei der Hand nimmt" (weil er dessen Fragen und Zweifel sehr wohl noch kennt),
das Buch könnte übersichtlich "gestaffelt" sein: der Leser liest nur seinem Interesse und Erkenntnisstand entsprechend. Meine These ist ja sowieso, dass die meisten mathematischen Denkweisen unabhängig voneinander erfahrbar sind (und doch irgendwann zu einem Geflecht zusammenwachsen), aber letztlich auch kaum Vorwissen verlangen;
die "Staffelung" könnte auch in einem "intelligenten" und offenen Verweissystem bestehen: nicht wie in einem (Hyperlink-)Lexikon "von Höcksken auf Stöcksken", so dass man sich hinterher nur noch im Kreise dreht und nichtmal mehr weiß, wo man herkommt; sondern vielleicht doch auf einer "intelligenten" Computer-CD zwar ohne allen Multimedia-Schnickschnack, aber mit einem Verlaufs- und Erinnerungsprotokoll.
(Wie immer bei Computern: ihr Einsatz bringt nur dann was, wenn sie nicht [u.a. durch neue – und schnell vergängliche? - technische Faszination] die "Sache" verstellen, sondern auf ihre ganz eigene Weise zu ihrer Ergründung beitragen können [etwa so, wie ich Mathematikprogramme nur für solche Probleme geschrieben habe, die nunmal weder zeichnerisch noch mechanisch erfaßbar sind].
Eine Computer-CD [und auch das Internet] hat nämlich auch einen immensen Nachteil: wer liest schon [gründlich] vorm Computer? Da ist ein Buch zum gemütlichen Schmökern im Sessel oder Bett doch noch eine erheblich "benutzerfreundlichere Schnittstelle". Und nach wie vor kann man [oder zumindest ich] sich auch in einem Buch besser zurechtfinden, ist es übersichtlicher.
Ein Computer kann einem viel Arbeit abnehmen, aber ich befürchte gleichzeitig, dass er – gerade mathematisch – auch von Wichtigem [eben "mathematischen Denkweisen"] ablenken kann; und dass durch ihn eben auch die klassischen mathematischen Grundfertigkeiten [und sei´s Termumformung] abhanden kommen können.
Zudem verführt ein Computer schnell zu Hochkompliziertem
[am allerhübschesten in vielen Matheprogrammen sind die Fraktalmodule:
sie sehen toll aus, sie können allemal auch zu einer bildreicheren Mathematik verführen; aber die dahinter stehende Mathematik ist erstmal abschreckend schwer – wenn man sie überhaupt zur Kenntnis nimmt],
statt mit dem ganz Simplen anzufangen.)
Hier nur eine erste stichwortartige und unsortierte
Sammlung mathematischer Denkweisen:
der Funktionsbegriff (weit über eigentliche Funktionen hinaus) und seine Grenzen
Funktionen (also eindeutige Zuordnungen) beherrschen ja nicht nur die Algebra (das Rechnen), sondern in erweitertem Sinne auch die Geometrie: da wird beispielsweise durch eine Drehung einem Anfangs- ein Enddreieck zugeordnet
Bedeutung und Aussagekraft von Gleichungen (Abhängigkeit zweier Sachverhalte [Variablen] voneinander, Reversibilität)
Gebrauch von Variablen
Vereinfachung von Rechnungen (Potenzen, Logarithmus, Bruchrechnung)
Möglichkeiten und Grenzen des "Rechenknechts" (Taschenrechners, Computers); also auch: der Unterschied zwischen bloßem "Rechnen" und eigentlicher "Mathematik"
Mathematik als "gesunde" Relativierung des Wahrheitsanspruchs anderer Wissenschaften
Formelsprache (incl. Zahlen)
die Beschränktheit und Weltfremdheit so einiger "Nur-Mathematiker", ihr Klammern an Mathematik als simpler Welterklärung (Wahr-/Falsch-Logik)
der Vorteil der Weltfremdheit der Mathematik:
Mathematik als verständliche, ja, manchmal vielleicht gar not-wendige Flucht bzw. Erholung (vgl. auch Weinheim/Koestler über politisch-konservative Zeitstimmungen und ihren Zusammenhang mit Wissenschaft)
Mathematik also als vielleicht einzige Wissenschaft, die erholsam objektive Erkenntnis jenseits des Subjektiven und der "Leidenschaften" bietet
Überschlagsrechnungen (Zahlen-Analphabetismus)
mathematische Sonden in eine Wirklichkeit, die nunmal ohne Mathematik nicht zugänglich ist (und deshalb notgedrungen auch immer abstrakt bleiben wird; z.B. Relativitäts- und Quantentheorie)
mathematische Voraussagen
Uneinsehbarkeit von Rechnungen und Beweisen (Schopenhauers Vorwurf)
die Dimensionslosigkeit von Mathematik (fehlende Maßeinheiten): es sind überhaupt nur Beziehungen interessant (die Einheit ist eine beliebige Variable)
und schließlich kommt "Rationalität" von lat. "ratio" = Verhältnis; Dinge vorurteilslos (ohne fixen Maßstab) zueinander ins Verhältnis zu setzen und Beziehungen zwischen ihnen nachzugehen (statt nur Einzelfakten zu sehen), ist also vielleicht etwas, was in der Schule von der Mathematik auch in andere Fächer "überschwappen" könnte
Aufbau des "mathematischen Denkgebäudes" (Axiome, Sätze, Beweise) und seine manchmal abstoßend ökonomische "Architektur"
Beweise (Verfahren, logische Schritte, Aussagekraft); also auch: ist der erste Computer"beweis" (nämlich des Vierfarbentheorems) überhaupt noch ein Beweis, wenn kein Mensch ihn mehr nachvollziehen kann?
Mathematik bedeutet Abstrahieren (Verfahren, Vor- und Nachteile jeder Abstraktion und Modellierung sowie aller Gedankenexperimente; Aussagekraft von Planskizzen): Unterscheidung von zentralen und nebensächlichen Eigenschaften
Allgemeingültigkeit
allgemeingültige Strukturen
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diese Unendlichkeit herrscht in der Mathematik allüberall, ist das Grundverlangen der Mathematiker und dementsprechend jenseits der Einzelfälle als Grundprinzip zu zeigen:
es gibt unendlich viele ganze Zahlen,
der Satz des Pythagoras (wie überhaupt jeder Satz) ist für unendlich viele (nämlich alle) rechtwinkligen Dreiecke bewiesen,
Folgen und Reihen sind unendlich,
jeder Limesprozeß spielt mit der Unendlichkeit
Arbeitserleichterung/"mathematisches Faulheitsprinzip"
"das kann ich nicht, das ist mir zu kompliziert, ich kann nur Einfaches, also fange ich mit Einfachem an" bzw. "wer Umwege geht, kommt auch (und merkwürdigerweise nur so) zum Ziel"
Folgerungen als Erleichterung, Äquivalenzen mehrere gleichwertige Ausdrucksformen Vereinfachung
auf Einfachstes und Allgemeinstes/Übergreifendes reduzieren (anders gesagt: mangels umfassenden Verständnisses bewußt abgenagt und abstrakt)
ein Arsenal typischer Problemlösungsstrategien, das eigentlich in jede Formelsammlung gehört; einerseits sollten diese Problemlösungsstrategien in einem Spiralcurriculum unterrichtet werden (mit Vor- und Rückverweisen auf ähnliche Anwendungsfelder), andererseits könnte ich es mir duchaus vorstellen, ein Halbjahr mal nicht in der Stringenz des Stoffs, sondern anhand von verschiedenen Problemlösungsstrategien aufzuziehen
Lösungen und vor allem Lösbarkeit (wie viele Lösungen sind möglich?), Herkunft von Lösungen
draus folgend auch immer wieder: Nicht-Lösbarkeit (Mathematiker können auch nicht alles)
der Heureka-Effekt beim Lösen einer Aufgabe oder Entdecken eines Beweises
wie Mathematiker auf ihre Ideen kommen (und sich lange oder auch mal endgültig vergeblich an etwas abgearbeitet haben)
Probleme/Grenzen der Mathematisierbarkeit der "Außenwelt"
Pseudomathematisierungen (in anderen Wissenschaften und insbesondere vielen Statistiken)
eine ganz andere Art Mathematik mit einem ganz anderen Wahrheitswert: Wahrscheinlichkeiten
und die Wahrscheinlichkeit ist ja nur das allerbeste Beispiel für all das, was ich sagen möchte: ihre Feinheiten und Irritationen halbwegs zu erfassen und darzustellen, ist doch wahrhaft ein Herkuleswerk:
die "Idee" und "Denkweise" der Wahrscheinlichkeit ist wahrhaft gehirnausrenkend:
- einerseits ist Wahrscheinlichkeit ganz genau berechenbar,
- andererseits bleibt alles (und das ja gerade ist die neue Erkenntnis der Quantentheorie) eben nur "wahrscheinlich", kann also (genauso wie im Lotto) eben auch anders kommen.
Da stehen sich also Schärfe und Unschärfe diametral einander gegenüber:
Ja, was denn nun: das eine - oder das andere - oder (und wenn ja: wie?) beides gleichzeitig?
Man kann diese Problematik der Wahrscheinlichkeit, die unser gesamtes modernes naturwissenschaftliches Weltbild bestimmt und irritiert, nicht so einfach ad acta legen, man muss immer wieder bereit sein, sich selbst dadurch irritieren zu lassen:
z.B.: da sind ja angeblich alle Ereignisse (mathematisch) unabhängig; und dennoch (wie denn?) fügen sie sich letztlich doch zum "(schwachen) Gesetz der großen Zahlen", mitteln sich also letztlich. Ja wie denn das? Letztlich müssen sie also doch voneinander gewusst haben!?
zweiwertige Wahr-/Falsch-Logik und ihre Grenzen/Erweiterungsnotwendigkeit; andere Logiken (z.B. dichterische Logik, "Logik der Gefühle" und Logik von "Märchen, Mythen, Träumen" [Intensität, Assoziation])
falsche Angst vor Zahlen (vgl. etwa Stephen Hawking in seinen populärwissenschaftlichen Büchern)
Erfassung des Raums
Verallgemeinerungen (x, n), auch wenn erstmal keine Anwendung sichtbar ist
Staunen (Pascalsches Dreieck, Schnittpunkt der Winkelhalbierenden)
einfache Anlässe, komplexe Wirkung (Pascalsches Dreieck, Diagonale eines Quadrats)
Eigenleben mathematischer Strukturen
bewußte Nicht-Anwendbarkeit (da der Pythagoräismus schon Anwendung genug ist)
Mathematik-Geschichte: a) Schwierigkeiten, Irrwege, b) Zusammenhang mit "Zeitgeist"
mathematische Kreativität
Grenzen mathematischer Logik (Goedel, Russel)
(vereinfachendes) Handwerkszeug
echte, überzeugende und erstaunliche mathematische Anwendungen
Wunder der Anwendbarkeit von Mathematik
innermathematische Anschaulichkeit
innermathematische Dramatik
Überzeugungskraft von Mathematik
der Limes als Aufbruch ins Unendliche, als Notnagel und als "gehirnausrenkend"
und und und
An dieser Liste finde ich doch zweierlei bemerkenswert:
wie viele Denkweisen SchülerInnen beherrschen müssen,
daß ich noch nie Kollegengespräche darüber, sondern immer nur über den Stoffkanon erlebt habe.