Mathematik verstehen 1

 

Es ist mir natürlich bewusst, dass "Verstehen"

(also ausgerechnet der Kernbegriff meiner gesamten Argumentation)

im Folgenden eine Leerformel ist und bleibt. Auf eine hermeneutische Klärung (?), was Verstehen eigentlich "ist", will ich mich auch gar nicht einlassen, wohl aber später in einem zweiten Essay mit dem Titel "Mathematik verstehen 2" untersuchen, was Verstehen in einem konkreten mathematischen Zusammenhang bedeuten könnte.

Jetzt, nachdem ich frühpensioniert bin, gebe ich vermehrt Nachhilfe

(vgl. )

und zwar

  1. einigen Schülern kontinuierlich,
  2. einigen Schülern

(meinem in Sachen Schule unwilligen Sohn sowie Kindern von Freunden und Bekannten)

immer nur "kurz vor knapp" bzw. "auf den allerletzten Drücker", also am besten am letzten Tag vor einer Klassenarbeit, wenn plötzlich Panik sogar die Faulsten oder Desinteressiertesten aufschreckt.

Das Wort "Nachhilfe" impliziert, dass da immer dem Unterricht hinterher(!)gehechelt wird, und zwar auch im ersten Fall

(kontinuierliche Nachhilfe, aber meistens doch nur einmal pro Woche):

über eine Hausaufgabenhilfe kommt man da kaum hinaus, denn (unverstandene) Hausaufgaben stehen immer an.

Und wenn im zweiten Fall nur einige wenige Nachhilfestunden direkt vor einer Klassenarbeit stattfinden, kann man eh nur versuchen, nach(!)träglich die allerwichtigsten Rechenverfahren einzubläuen, die Schüler brauchen, um immerhin noch eine mittelprächtige Note in der Klassenarbeit zu erreichen.

Von (tieferem) "Verständnis" kann also in beiden Fällen kaum die Rede sein

(und oftmals eben auch nicht in dem Unterricht, dem da nachgeholfen werden soll).


Wegen meiner Nachhilfestunden bin ich von einer ungenannten Person

(Nicht-Mathematiker)

mehrfach dringlich gebeten worden,

(und vielleicht hatte die Person damit ja sogar recht).


Das hörte sich oft so an, als sei

(also auch unabhängig von anstehenden Klassenarbeiten)

unnötiger Luxus bzw. verlorene Liebesmüh'

(wobei noch immer "Mathematik = Rechnen" unterstellt wird; vgl. ).

Auch viele Schüler denken so, und zwar nicht nur direkt vor Klassenarbeiten, sondern auch ganz allgemein über Matheunterricht:

("ich versteh' gar nix mehr" bzw. "ich versteh' das alles nicht"),

(wo sie nunmal schon Mathematik betreiben müssen).

Und gerade die Bienenfleißigen

(die "-Mädchen", die auch nicht an Mathematik, wohl aber an guten Zensuren interessiert sind)

bestehen oftmals auf der Vermittlung eines "Schema F": sie haben nur allzu gut begriffen, was heutzutage wirklich zählt.


Kleines Intermezzo zu "ich versteh' gar nix mehr" bzw. "ich versteh' das alles nicht": ein Eindruck bei Schülern, der beispielsweise bei der Aufgabe

"Vereinfache Bild!"

aufkommen mag.

Weil in dieser Formel

(unnötigerweise, also aus Ignoranz oder Bosheit; Lehrer mögen immer bedenken, dass sie "sowas" auch ungerne rechnen)

sämtliche Schweinereien dieser Welt eingebaut sind, ist sie allemal kompliziert, so dass sie auch schön ín einem (Pseudo-)Mathematikfilm im Hintergrund auf einer Tafel auftauchen könnte:


(aus der Serie )

Da denkt sich doch jeder ehrfürchtig: "Das können doch nur Mathegenies lösen [aber ich nicht]."

Nun ist der Befehl "Vereinfache!"

(das freundlichere "Vereinfache bitte!" wäre wohl verlogen, weil die Schüler es ja vereinfachen müssen)

immerhin auch das Versprechen, dass Bildtatsächlich einfacher gemacht werden kann.

Wenn die Schüler nun aber Bild vereinfachen müssen, fangen viele überall gleichzeitig an

(und machen es dadurch oftmals nur noch komplizierter; oder es wird gnadenlos vereinfacht, denn wirklich einfach ist nur 1).

Viel besser wäre es aber, wenn die Schüler den Term Bild vor jeder Rechnung erstmal langsam verstehen (!) würden, indem sie

("dies kann ich nicht - und das kann ich nicht - und jenes kann ich nicht")

klar machen würden:

    1. Brüche und (noch schlimmer) gemischte Zahlen,
    1. ein großer Bruch und viele kleine, die alle an dem großen "dranhängen": ,

(womit schon klar ist: den großen Bruch erledigen wir, falls möglich, erst ganz am Ende),

    1. Bruchdivision,
    1. Klammern und (noch schlimmer) Klammern in Klammern,
    1. Produkt von Klammern,

(ich würde jedem Schüler einige Punkte zuschustern, der nur diese Schwierigkeiten benennt, aber nicht rechnen kann),

(und den vorerst unbearbeiteten großen Rest unverändert neu aufschreiben würden),


Ich bin und bleibe aber fassungslos darüber, dass eine Mathematik ohne Verstehen überhaupt für möglich gehalten und sogar ausdrücklich gefordert wird.

Wieso betreibt man dann überhaupt Mathematik?!

(Nunja, nochmals: Mathematik ist in der Schule ein Zwangsfach.)


Wolfgang Meyerhöfer war nicht der erste, der Dyskalkulie für eine "erfundene Krankheit" gehalten hat

(sondern vgl. etwa auch ).

Aber er hat es doch schön auf den Punkt gebracht:


(Quelle: ).

(Meyerhöfer bezieht sich wohl vor allem auf die Grundschulmathematik: da habe ich [zu?] wenig Ahnung von - weshalb mein Respekt vor Grundschullehrern nur um so größer ist: es scheint mir fast ein Leichtes, Schülern, die schon die Grundrechenarten beherrschen, auch noch das bisschen Gymnasialmathematik beizubringen. Aber wie vermittelt man die ersten und damit gewaltigsten Abstraktionen, nämlich die Grundrechenarten?)

Wichtig an Meyerhöfers Äußerung ist mir aber nicht das Thema Dyskalkulie, sondern dass Meyerhöfer dem puren (unverstandenen) Rechenmechanismus eine Absage zugunsten des Verstehens gibt:

alles fängt mit dem Verstehen an, und der Automatismus ist erst ein später zweiter Schritt.

Ein schönes Beispiel ist da die Bruchrechnung:

Wenn man hingegen gleich zu den abstrakten Bruchrechenregeln

kommt

(und sie in massenhaft Aufgaben üben lässt),

scheitert doch oftmals alles am fehlenden Grundverständnis:

(von Taschenrechnern ausgespuckten)

Dezimalzahlen, also z.B.

Besonders wichtig scheinen mir dabei

(denn das korrekte Ergebnis = ≈ 0,395378690629011553273427471116816 ist doch so oder so unvorstellbar:

(So ganz stimmt es aber nicht, dass das Verstehen vor dem Rechnen erfolgen muss: häufig kommt der Appetit erst beim Essen, will heißen: wenn man einen Mechanismus massenhaft stumpf angewandt hat, ergibt sich oftmals ganz nebenbei und fast unbemerkt eben doch ein Verständnis.)


In Nachhilfestunden kurz vor Klassenarbeiten mag tatsächlich keine Zeit mehr für (tieferes) Verständnis sein. Ansonsten aber bin ich der nostalgischen oder gar reaktionären Ansicht,

dass Verständnis

  • keineswegs bloß die

                 (schöne, aber letztlich überflüssige)

Dessertkirsche auf dem Recheneintopf,

  • sondern unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiches Rechnen ist.

Ich glaube also fest, dass

(also auch - ganz pragmatisch gesehen - bessere Schulnoten in Mathematik einheimst),

(was meist schon bei der kleinsten Variation der Aufgabenstellung schiefgeht - und nach wenigen Wochen schon wieder vergessen ist).

Aber

In Wirklichkeit ist es aber genau umgekehrt:

(viele Mathematiker hassen oder verachten ja das Rechnen; vgl. ).

Nicht das Rechnen, sondern Beweise sind "das Herz der Mathematik" . Aber was ist ein Beweis denn anderes als der Versuch zu verstehen, weshalb ein (neuer) mathematischer Sachverhalt gilt?!

(Vielleicht bedeutet "Verstehen" ja wirklich,

Nebenbei: es gibt eine interessante Ausnahme vom Beweisbedürfnis:


Srinivasa Ramanujan
[*1887 +1920],

ein indischer Autodidakt, der es alleine bis in die abstraktesten Höhen der Mathematik geschafft hat,


PS:
  1. Verstehen scheint mir insbesondere in Zeiten von Zentralklausuren (Zentralabitur), Turbo-Abi (G8) und immer enger gestrickten Lehrplänen zunehmend schwieriger und weniger "gefragt" zu sein

(ich seh's ja derzeit an meinem Sohn, wie rasant inzwischen am Gymnasium im Fach Mathematik durch die Themenbereiche gehechelt wird).

Aber bittschön keine Nostalgie: war's früher denn wirklich besser, oder klonen sich da "nur" die Stumpf(schul)mathematiker seit Generationen fort?

  1. Die Überbetonung des Rechnens gegenüber dem Verstehen scheint mir auch nur Teil der (kapitalistischen?) Fixierung auf als allein sinnvoll angesehene Verwertbarkeit zu sein.