"Mathematik ist die Kunst,
verschiedene Dinge mit demselben Namen zu belegen."
(Henri Poincaré)

Selten ist es so schön gesagt worden, "wozu" Mathematik eigentlich da ist:

"Vor allen Dingen wären glückliche Einfälle und wagemutige theoretische Fantasie zu rühmen, mit denen geniale [Natur-]Forscher die Kluft zwischen den oft mageren empirischen Daten und der tatsächlich vorhandenen reichen nomologischen Struktur der Welt überbrücken. In diesen Entdeckungsgeschichten wissenschaftlicher Theorien würden wir immer wieder Analogien, Bildern und Metaphern begegnen; sie sind offensichtlich der Stoff, der die theoretische Fantasie der Wissenschaftler nährt.

Gerade mathematisch beschriebene Strukturen liefern reichlich von diesem Stoff. Die abstrakten nomologischen Strukturen sind nämlich in der Regel nicht nur auf eine Weise und nicht nur in einem Wirklichkeitsausschnitt realisiert. Das fällt den Wissenschaftlern spätestens dann auf, wenn sie im Wesentlichen ein und dieselbe Mathematik benutzen können, um mit ihr das eine Mal den gesetzmäßigen Zusammenhang von Objekten eines Wirklichkeitsausschnitts, das andere Mal den gesetzmäßigen Zusammenhang von Objekten eines gänzlich anderen Wirklichkeitsbereichs zu beschreiben.

Vereinfacht gesagt, benutzen die Wissenschaftler dieselben mathematischen Gleichungen, nur interpretieren sie die darin vorkommenden Größen jedes Mal anders.

So nutzte Einstein die Tatsache, dass die abstrakte Struktur, in die man empirische Daten über Gravitationsphänomene einbetten muss, derselben Mathematik gehorcht, mit der man auch beliebig verbogene zweidimensionale Oberflächen, etwa einen Pferdesattel, analysieren kann; so nutzten Niels Bohr, Louis de Broglie, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und andere die Tatsache, dass sich ausbreitende Schwingungen von Wassermolekülen, Veränderungen elektromagnetischer Felder und Zustände von Elektronen jedes Mal durch eine Gleichung derselben Form, eben eine typische Wellengleichung, beschrieben werden können. Das heißt aber: In bestimmten Hinsichten verhalten sich Gravitationsphänomene und Sattelflächen oder verhalten sich Wasser, elektrische Felder und Elektronen gleich oder hinreichend ähnlich.

Insofern können die Wissenschaftler von bestimmten Eigenschaften der Sattelflächen auf bestimmte Eigenschaften von Gravitationsfeldern oder von bestimmten Eigenschaften von Wasserwellen auf entsprechende Eigenschaften von Licht oder Elektronen schließen - versuchsweise. Solche Schlüsse sind nichts anderes als Analogieschlüsse. Sie laufen immer nach demselben Schema ab, etwa so: Elektronen scheinen sich in bestimmter Hinsicht genauso wie Wasserwellen zu verhalten; Wasserwellen lassen sich an einem Gitter beugen: Also müssten sich vermutlich auch Elektronen an geeigneten Gittern beugen lassen. So erraten Wissenschaftler strukturelle Eigenschaften der niemals direkt beobachtbaren Elektronen, und so können sie bestimmte Eigenschaften von Elektronen durch entsprechend sichtbare Eigenschaften von Wasserwellen veranschaulichen.

Allgemeiner gesagt: Immer wieder nehmen sich Wissenschaftler gut erforschte Wirklichkeitsausschnitte mit ihrer bereits mathematisch beschriebenen Struktur zum Vorbild, um sich über Analogieschlüsse und Veranschaulichungen an die abstrakte Struktur eines anderen Wirklichkeitsausschnitts heranzutasten."

(Holm Tetens in Bild "Die Grenze")

Etwa mit "nomologisch" ist das natürlich nicht ganz einfach formuliert, und deshalb übersetze ich es mir in einfachere Sprache:

  1. Die eigentlichen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse (oder vielleicht besser: Einsichten) erfolgen oftmals "irrational", nämlich mit Hilfe von "Analogien, Bildern und Metaphern".
  2. Analogien sind aber u.a. bzw. insbesondere durch die Mathematik möglich, weil deren Gleichungen potentiell von einem bereits bekannten auf ein noch unbekanntes Anwendungsgebiet übertragbar sind.

(Man könnte auch sagen: wenn die Mathematik das eine Anwendungsproblem gelöst hat, ist sie ein Versprechen, dass auch das andere gelöst werden kann.)

Das aber heißt doch, dass

  1. die Mathematik, wenn sie auf Anwendungen bezogen wird, nicht bloß bereits Bekanntes "fassbar" macht, sondern oftmals als Analogie-Mittel überhaupt erst zu neuen Erkenntnissen führt;
  2. die mathematischen Gleichungen zwar manchmal anhand von Anwendungen entwickelt werden (und manchmal als Selbstzweck), dass sie aber unabhängig von diesen Anwendungen sind, denn sonst wären sie ja nicht übertragbar.

Die Frage nach der "Anwendbarkeit" der Mathematik ist also falsch gestellt: sie ist gerade deshalb potentiell "anwendbar", weil sie unabhängig von den Einzelanwendungen ist.