Mathematik hört da auf, wo das Rechnen anfängt (und umgekehrt)

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(, 21./22.2.04)

Die überschrift dieses Essays, die den allermeisten "echten" MathematikerInneN ganz selbstverständlich sein wird, wird wohl den allermeisten Nicht-MathematikerInnen genauso unverständlich sein:

"Was eigentlich tun die MathematikerInnen den lieben langen Tag,
wenn sie doch angeblich nicht rechnen???"


 

"»Begeistert er sich immer noch so für Mathematik?«[...]
»Allerdings, Sir. Er ist ein rechter Mathematikgelehrter, denn ich sah ihn schon ohne Feder und Papier Quadratwurzeln bis auf sieben Stellen ziehen.«
»Ich sah schon ein Pferd siebenmal mit dem Huf scharren [...] Aber ich glaube nicht, dass es Mathematiker war.«"
(Philip Kerr)

Ab und zu treten (und auch das ist nicht neu) in Fernsehsendungen "Rechenkünstler" auf, die in irrwitziger Geschwindigkeit mit wahnwitzig großen Zahlen hantieren können:

"Echte" MathematikerInnen aber


Zu Beginn meines Mathestudiums sagte ein Professor mal:

"Den Taschenrechner können Sie zu Hause lassen, denn eigentlich rechnen wir hier gar nicht mit konkreten Zahlen, sondern sagen einfach: »sei n irgendeine natürliche Zahl«. Und wenn wir dann [zur ersten Veranschaulichung] doch mal konkrete Zahlenbeispiele brauchen, nehmen wir der Einfachheit halber ganze Zahlen zwischen 0 und 10 [das kleine Einmaleins], wofür man keinen Taschenrechner braucht."

Und in der Tat war mein Taschenrechner nach dem Studium mangels Benutzung kaputt.


MathematikerInnen interessiert immer das Grundsätzliche

(man könnte auch sagen: Mathematik ist die Wissenschaft vom Grundsätzlichen),

nicht der Einzelfall.

Zum Einzelfall

(und jede Rechnung mit konkreten Zahlen ist ein Einzelfall)

sind sie zu faul.

Ein Beispiel:

Im selben Augenblick aber, in dem allgemeine Gesetze hergeleitet sind, interessiert eineN MathematikerIn doch nicht mehr der Einzelfall (die Anwendung auf konkrete Zahlen, also das Rechnen).


All das heißt ja nicht, das MathematikerInnen gar nicht mehr rechnen können (müssen). Sie brauchen das Handwerkszeug des Rechnens durchaus, aber doch nur noch auf dem Weg hin zum allgemeinen Beweis.

Beispielsweise muss man natürlich bei Bild die simpelsten Rechenregeln beherrschen.


Man könnte die überschrift sogar noch radikaler machen:

Mathematik ist (überhaupt nur) dazu da, das schnöde Rechnen zu vermeiden.

Genauso, wie es in der Physik einen uralten Streit gibt, wer denn nun eigentlich der "richtige" Physiker sei:

ist es auch in der Mathematik.

Bei aller gegenseitigen Herablassung sind letztlich beide Seiten aufeinander angewiesen und haben sich immer wieder gegenseitig "befruchtet".

Und doch: einE "richtigeR" MathematikerIn verachtet doch letztlich das, was heute neueste Mode in Schulen ist

(und ganz offensichtlich - unter dem derzeitigen Diktat der Ökonomie - von NichtmathematikerInneN eingebracht wurde):

"Anwendungsaufgaben". Bzw. sie/er interessiert sich nur dafür, insofern