Mathematik hört da auf, wo das Rechnen anfängt (und umgekehrt)
(, 21./22.2.04)
Die überschrift dieses Essays, die den allermeisten "echten" MathematikerInneN ganz selbstverständlich sein wird, wird wohl den allermeisten Nicht-MathematikerInnen genauso unverständlich sein:
"Was eigentlich tun die MathematikerInnen den lieben langen Tag,
wenn sie doch angeblich nicht rechnen???"
"»Begeistert er sich immer noch so für Mathematik?«[...] |
Ab und zu treten (und auch das ist nicht neu) in Fernsehsendungen "Rechenkünstler" auf, die in irrwitziger Geschwindigkeit mit wahnwitzig großen Zahlen hantieren können:
"Echte" MathematikerInnen aber
haben im besten Fall Respekt vor den GedächtnisKünsten solcher Menschen - und interessieren sich höchstens für die oft äußerst simplen Rechenverfahren solcher "Rechenkünstler",
verachten letztlich solch schnöde Rechnerei als Gerade-eben-keine-Mathematik (denn schließlich kann das auch jeder Taschenrechner);
bzw. statt Verachtung empfinden MathematikerInnen da wohl eher Mitleid mit solch extremer Einseitigkeit (beispielsweise können angeblich oftmals Autisten besonders gut rechnen).
Zu Beginn meines Mathestudiums sagte ein Professor mal:
"Den Taschenrechner können Sie zu Hause lassen, denn eigentlich rechnen wir hier gar nicht mit konkreten Zahlen, sondern sagen einfach: »sei n irgendeine natürliche Zahl«. Und wenn wir dann [zur ersten Veranschaulichung] doch mal konkrete Zahlenbeispiele brauchen, nehmen wir der Einfachheit halber ganze Zahlen zwischen 0 und 10 [das kleine Einmaleins], wofür man keinen Taschenrechner braucht."
Und in der Tat war mein Taschenrechner nach dem Studium mangels Benutzung kaputt.
MathematikerInnen interessiert immer das Grundsätzliche
nicht der Einzelfall. |
Zum Einzelfall
(und jede Rechnung mit konkreten Zahlen ist ein Einzelfall)
sind sie zu faul.
Ein Beispiel:
MathematikerInnen interessieren sich insbesondere für Dreiecke, weil man sämtliche geradlinig begrenzten Figuren (Vier-, Fünf- ... -ecke) aus Dreiecken zusammensetzen kann.
An Dreiecken interessieren sie insbesondere bzw. eigentlich überhaupt nur Aussagen, die für
ausnahmslos alle Dreiecke
(Winkelsumme 1800 bei ebenen Dreiecken;
vgl. )
oder zumindest doch eine unendlich große Teilmenge der Dreiecke
(Satz des Pythagoras für rechtwinklige Dreiecke)
gelten.
Im selben Augenblick aber, in dem allgemeine Gesetze hergeleitet sind, interessiert eineN MathematikerIn doch nicht mehr der Einzelfall (die Anwendung auf konkrete Zahlen, also das Rechnen).
All das heißt ja nicht, das MathematikerInnen gar nicht mehr rechnen können (müssen). Sie brauchen das Handwerkszeug des Rechnens durchaus, aber doch nur noch auf dem Weg hin zum allgemeinen Beweis.
Beispielsweise muss man natürlich bei die simpelsten Rechenregeln beherrschen.
Man könnte die überschrift sogar noch radikaler machen:
Mathematik ist (überhaupt nur) dazu da, das schnöde Rechnen zu vermeiden. |
Genauso, wie es in der Physik einen uralten Streit gibt, wer denn nun eigentlich der "richtige" Physiker sei:
der theoretische
("die haben alle zwei linke Hände, und spätestens die String-Theorie hat rein gar nichts mehr mit der überprüfbaren Wirklichkeit zu tun, ist also eher Theologie")
oder der Experimentalphysiker
("Bastler"),
ist es auch in der Mathematik.
Bei aller gegenseitigen Herablassung sind letztlich beide Seiten aufeinander angewiesen und haben sich immer wieder gegenseitig "befruchtet".
Und doch: einE "richtigeR" MathematikerIn verachtet doch letztlich das, was heute neueste Mode in Schulen ist
(und ganz offensichtlich - unter dem derzeitigen Diktat der Ökonomie - von NichtmathematikerInneN eingebracht wurde):
"Anwendungsaufgaben". Bzw. sie/er interessiert sich nur dafür, insofern
aus ihnen allgemeine Erkenntnisse zu ziehen sind,
diese Anwendungen (sozusagen als Krücken) Innermathematisches veranschaulichen.