mathematische Germanistik

Was ich unten exemplarisch anhand des aristotelischen Dramas vorführe, ist überhaupt bei Literatur (also auch Nicht-Dramen) sehr zu empfehlen: dass man die Beschreibung von Funktionsgraphen in der Mathematik

(und diese Beschreibung ist da erheblich wichtiger als die Berechnungen!)

auch im Deutschunterricht einsetzt, um "Spannungsverläufe" und "Fieberkurven" herauszustellen und zu veranschaulichen.


Das aristotelische Drama
[...]
Der pyramidale Bau des Dramas nach Gustav Freytag
[...]
2. Akt, Steigende Handlung mit erregendem Moment [...]
3. Akt, Höhepunkt:  Die  Entwicklung  des Konflikts erreicht ihren Höhepunkt, der Held/die Heldin steht in der entscheidenden Auseinandersetzung, in der sich das weitere Schicksal entscheidet, das heißt, der Wendepunkt (die Peripetie) zu Sieg oder Niederlage, zu Absturz oder Erhöhung wird herbeigeführt.
4. Akt, Fallende Handlung mit retardierendem Moment: Die Handlung fällt jetzt auf das Ende zu; dennoch wird die Spannung noch einmal gesteigert [...] Der Held/die Heldin scheint doch noch gerettet zu werden [...]“

(aus: Texte, Themen und Strukturen; Deutschbuch für die Oberstufe; Cornelsen Verlag; S. 186; Unterstreichungen von mir, H. St.)

Die unterstrichenen Begriffe sind natürlich alle auch mathematische Begriffe. Vermutlich wird die Umgangssprache da den Prioritätenstreit gewinnen: erst war die Umgangssprache, und dann hat die Mathematik

(- wegen einer gewissen zufälligen Ähnlichkeit der Außenwelt einerseits und mathematischer Probleme andererseits: Funktionsgraphen sehen „nur“ aus wie Gebirge;

- oder weil die Mathematik ursprünglich aus Alltagsproblemen abstrahiert wurde: „wie kann man ein Gebirge mathematisch erfassen?“)

bei der Umgangssprache die Begriffe entlehnt.

Bei solch einer Übernahme in eine Fachsprache werden Begriffe oftmals umgedeutet und manchmal auch ganz anders gefüllt, so dass Missverständnis zwischen Laien und Fachleuten geradezu vorprogrammiert sind

(„ist nun ein mathematisches »oder« gemeint, bei dem beide Fälle - und zwar eventuell sogar gleichzeitig - eintreten können, oder ein umgangssprachliches, das üblicherweise einander ausschließende Alternativen meint?“).

Manchmal sogar werden Begriffe der Umgangssprache zwar äußerlich in eine Fachsprache übernommen, dort aber völlig sinnentleert: „irgendwie muss man ein wissenschaftliches Abstraktum ja nennen, weil aber die Bezeichnung letztlich völlig willkürlich ist [eh nichts mit der Sache zu tun hat], nennen wir´s halt mal »normal« oder »Familie« oder »beschränkt«.

(In der Mathematik gibt´s tatsächlich den - nur von außen gesehen urkomischen, weil so um die Ecke ein erhellendes Schlaglicht auf reale Familien werfenden - Satz  „alle normalen Familien sind beschränkt“.)

Fast schon tragisch oder nur unfreiwillig komisch ist, dass den Wissenschaftlern (die ja im Privatleben „auch nur Menschen“ mit Umgangssprache sind) die vermeintlich längst abgelegte umgangssprachliche Bedeutung dann eben doch immer mal wieder in die Quere kommt und oftmals den Erkenntnisfortschritt massiv behindert. Aber das ist wohl unvermeidlich: mit dem Vorteil der anschaulichen Analogie handelt man sich eben auch Nachteile ein.


Schauen wir uns dazu an, was die oben unterstrichenen Begriffe in der Mathematik bedeuten (wobei ich dennoch bewusst umgangssprachlich, also nicht immer fachterminologisch korrekt spreche):

  1. Ein Höhepunkt H (Maximum) liegt vor, wenn H der höchste Punkt in seiner Umgebung ist, das Gelände (der Funktionsgraph) also

(Ausdrücklich ausgenommen seien hier [wie beim Tiefpunkt, s. 2] a) Spitzen wie etwas das Matterhorn [für uns sind alle Berge oben flach] oder eben auch im Dramendiagramm oben und b) Hoch-[bzw. Tief-]ebenen.)

Es gibt relative Höhepunkte (nur in ihrer Umgebung am höchsten) und absolute Höhepunkte (insgesamt die höchsten):

das Matterhorn ist zwar der höchste Berg in seiner Umgebung, aber nicht der höchste Berg der ganzen Alpen (das ist der Mont Blanc).

Entsprechend liegt

  1. ein Tiefpunkt T (Minimum) vor, wenn T der tiefste Punkt in seiner Umgebung ist, das Gelände (der Funktionsgraph) also

Es gibt relative Tiefpunkte (nur in ihrer Umgebung am tiefsten) und absolute Tiefpunkte (insgesamt die tiefsten):

die sogenannte „Norwegische Rinne“ ist zwar der tiefste Punkt in ihrer Umgebung (der Nordsee), aber nicht der tiefste Punkt aller Weltmeere (das ist der Marianengraben im Pazifik).

  1. Bei Höhe- und Tiefpunkten zeigt sich schon, dass nicht nur die Steigung selbst interessant ist, sondern auch und vor allem, wie sie sich ändert

(diese Betrachtung der änderung macht gerade den Geniestreich von Newton und Leibniz, nämlich die "Differentialrechnung" aus):

es kommt vor, dass ein Gelände nicht gleichbleibend steil ist, sondern

(beim Abstieg wird das Gelände in einer Linkskurve flacher)

(beim Abstieg wird das Gelände in einer Rechtskurve steiler) umgekehrt)

„Immer steiler“ bzw. „immer flacher“ bedeutet dabei, dass diese änderung kontinuierlich verläuft

(wie schon bei Gipfeln und Tälern, lassen wir auch hier mal urplötzliche Wechsel, also Knicke, weg; Knicke und Klippen sind sicherlich heimtückisch; aber auch die langsame änderung ist heimtückisch: man geht frohgemut los und lässt sich durch langsam zunehmende Steigung auch gar nicht irritieren; viel zu spät bemerkt man, dass der Weg längst extrem steil geworden ist, und dann ist der Rückweg genauso gefährlich wie der Weg weiter).

  1. Ein Wendepunkt liegt vor,

der Gipfel ist zwar noch lange nicht erreicht, aber immerhin ist der Anstieg nicht mehr ganz so steil und mühsam wie noch kurz vorher; oder beim Abstieg ist wieder alles andersrum

(beim Abstieg ist wieder alles andersrum: die Talsohle ist zwar noch lange nicht erreicht, aber immerhin ist der Abstieg nicht mehr ganz so schwindelerregend fallend wie noch kurz vorher.)

  1. Denkbar sind auch noch sogenannte Sattelpunkte, also Kombinationen aus Hoch- bzw. Tiefpunkten einerseits und Wendepunkten andererseits:

man befindet sich kurzfristig in einer Ebene (Eigenschaft eines Hoch- bzw. Tiefpunkts; s.o.).

Aber obwohl man meinen könnte, man habe den Gipfel/Höhepunkt (bzw. beim Abstieg das Tal) bereits erreicht, steigt (fällt) das Gelände dann doch nochmals an (aus einer Rechts- [Links-] wird wieder eine Links[Rechts]kurve):

Bzw. obwohl man meinen könnte, man habe den Gipfel (die Talsohle) bereits erreicht, steigt (fällt) das Gelände dann doch nochmals.

Bis hier habe ich die ganze Zeit latent die Metapher einer Bergwanderung benutzt. Und insbesondere bei Sattelpunkten (5.) habe ich mit Erwartungen, ja auch Enttäuschungen gespielt:

man war beispielsweise schon überglücklich, nach großer Anstrengung endlich den Höhepunkt/Gipfel erreicht zu haben - und stellt dann fest, dass es nur ein Vorsprung (Sattelpunkt) bzw. Nebengipfel (relativer Höhepunkt) war und der eigentliche (absolute) Höhepunkt noch lange nicht erreicht ist (man zu ihm vielleicht sogar noch ein Tal durchschreiten muss, also bereits mühsam gewonnene Höhe wieder verliert): man meinte, bereits auf dem Mount Everest zu sein. In Wirklichkeit hat man aber nur einen Maulwurfshügel erklommen. Man dünkte sich als ein zweiter Edmund Hillary - und war doch nur ein Gernegroß.

Solche Erwartungen und Enttäuschungen auf einer Bergwanderung implizieren, dass man noch gar nicht den ganzen Wanderungsverlauf kennt. Vorstellbar wäre etwa (das sorgt für zunehmende Dramatik und lässt Überlegungen zur Steigung überhaupt erst bedeutsam erscheinen), dass man im Nebel wandert und daher immer nur die direkte Umgebung sieht, aber kaum 10 m weiter (d.h. auch: in die Zukunft) sehen kann.

(Nochmals: aus bestimmten mathematischen Gründen lassen wir hier mal die - gerade im Nebel - noch erheblich dramatischeren Spitzen und Zacken sowie schroffen Klippen, über die man urplötzlich in einen Abgrund stürzen könnte, weg.)

Oder anders gesagt: alles kann noch erheblich besser/schlimmer kommen, als man gemeint hat.

Mathematisch gesagt: der Funktionsgraph ist nicht, wie in der Mathematik üblich, fix und fertig und vor allem ganz vorgegeben (z.B. ergibt sich aus der Gleichung y = x2 schnuppdiwupp eine Parabel), sondern er entsteht überhaupt erst langsam beim „Wandern“. Der Wanderer erschafft sozusagen erst den Berg, bzw. zumindest für den Wanderer tut sich hinter jeder Kurve und jedem Vorsprung eine ganz neue Wirklichkeit auf.

Mir kommt die Mathematik mit all ihren endgültigen Erkenntnissen manchmal vor wie ein Kubikmeter Stahlbeton, der vom Himmel herabklatscht - und einen erschlägt.

D.h. auch „innermathematisch“ (nämlich bei der Behandlung der „Ableitung“/Steigung in der 11. Klasse) scheint es mir sinnvoll, die „Funktionsgraphen“ erst mal langsam entstehen zu lassen (also anfangs noch ohne Funktionsgleichungen zu arbeiten; bzw. zumindest ohne solche, deren kompletter Verlauf - wie die Parabel - den SchülerInnen sowieso schon bekannt ist).

Mit dem langsamen, sukzessiven Entstehen eines Funktionsgraphen (immer von links nach rechts) erledigt sich zudem schnell ein typisches Problem von SchülerInnen: dass sie den Graphen falschrum (von rechts nach links) "gehen". Denn in der Tat ist ein Graph mathematisch ja immer für wachsende x-Werte (also von links nach rechts) gedacht. Nur dann ist es nicht mehr bloße Ansichtssache, ob ein Berg gerade steigt (man ihn gerade erst erklimmt) oder fällt (man bereits wieder herabsteigt).

Dass ein Graph erst langsam entsteht, ist - wohlgemerkt - nicht nur meine Spinnerei (eines unverbesserlichen Fanatikers der „Bewegten Mathematik“), sondern das war immerhin auch die Denkweise bzw. das Patentrezept Newtons!

Und „angewandt“ bzw. „anschaulich“ heißt für mich immerhin, an einem Graphen (wenn schon nicht echtem Gelände) entlang zu gehen.

Die alltägliche Erfahrung ist ja, dass der Weg erst langsam entsteht und man noch nicht in die Zukunft (auf den zukünftigen Weg) sehen kann. „Langsam entsteht“ ist dabei wortwörtlich zu nehmen. Es ist also oftmals nicht so (und da hinkt der Vergleich mit der Bergwanderung im Nebel oben), dass der Weg (das Gelände, der Berg) schon seit Ewigkeiten fertig ist (die Zukunft voraus berechenbar ist) und wir ihn (wegen des Nebels oder unserer Unfähigkeit) nur noch nicht einsehen können.


Nur ein Beispiel:

der Gewinn- und Verlust- bzw. von mir aus auch Aktienverlauf einer Firma:

Es ist eben nicht von vornherein sicher, wie er weiter (in der Zukunft) verlaufen wird. Bzw. wenn das sicher wäre, wäre es auch schon für jeden Aktienkäufer witzlos. Kommt hinzu, dass der zukünftige Weg ja maßgeblich vom Verhalten der „Wanderer“ (ihren [evtl. falschen] Erwartungen und daraus folgenden Aktien[ver-]käufen) abhängig ist.

An diesem Gewinnverlauf lässt sich aber besonders gut veranschaulichen, was o.g. mathematische Ausdrücke eigentlich letztendlich bedeuten, ja, sie gewinnen dann erst eine gewisse Dramatik (!) bzw. sogar Tragik:

laienhaft in Aktien gesagt: der Höhepunkt ist immerhin auch Anlass, umgehend die Aktien zu verkaufen;

wieder in Aktien gesagt: der Tiefpunkt kann immerhin auch Anlass sein, umgehend Aktien zu kaufen. Oder übertrieben: je schlechter es einer Firma geht, desto mehr Aktien sollte man kaufen.

Nun ist das natürlich so einfach auch wieder nicht, bzw. das letztgenannte Rezept ist - so pauschal - geradezu „tödlich“ (obwohl es ja Leichenfledder-Makler gibt, die gerade aus bankrotten Unternehmen enorme Gewinne schlagen). Vielmehr sind vor allem

Allerdings kann der Börsenmakler sich da auch vertun: er hat einen Höhepunkt vorausgeahnt (auf den ein Niedergang folgen würde), der sich im Nachhinein aber als Sattelpunkt herausstellt (der Anstieg setzt sich nach kurzer Verschnaufpause unbeirrt fort). Nur ist der Sattelpunkt ja eben auch der nächste Wendepunkt, auf den der Makler zu achten hat.

Allerdings kann der Börsenmakler sich auch da wieder vertun: er hat einen Tiefpunkt vorausgeahnt (auf den ein Aufstieg folgen würde), der sich im Nachhinein aber als Sattelpunkt herausstellt (der „freie Fall“ setzt sich nach kurzer Erholung nur um so dramatischer fort). Und wieder ist der Sattelpunkt nur der nächste Wendepunkt, auf den der Makler zu achten hat.

Oder anders gesagt: Hoch- und Tiefpunkte verlieren an Glanz bzw. Schrecken, den sie für billig kurzfristige Optimisten bzw. Pessimisten haben, Wendepunkte sind viel wichtiger: sie deuten Höhe- bzw. Tiefpunkte voraus, sie sind Zukunftsorakel, Anlass für Hoffnungen (gezielt Anzustrebendes) und Befürchtungen (gezielt zu Vermeidendes). Bzw. Vorfreude ist schöner als Erfüllung.


Man wird bemerkt haben, dass die ganze Zeit im Hintergrund schon mehr oder weniger deutlich die Metapher des „Lebenswegs“ mitschwang:

Dieser Lebens(hohl-)weg ist - nebenbei - eine der liebsten und hohlsten Metaphern pseudoprogressiver Billigkatholiken

(wenn einem überhaupt keine Metapher [und auch kein Anlass] für einen Gottesdienst mehr einfällt [man sich also rein gar nichts mehr zu sagen hat], greift man zum Weg; ich schlage da als sinnige Alternative doch "DAS Loch" vor);

der Lebensweg kann aber auch so herzergreifend ausgedrückt werden wie in:

Das aristotelisch-freytagsche Tragödie ist aber nichts anderes als der auf entscheidende Punkte komprimierte Lebensweg eines Helden

(mit der offensichtlichen Illusion von „Erzählzeit = erzählte Zeit“: dass Aufstieg, Umschwung und Fall eines Helden tatsächlich in der Aufführungszeit, also ca. drei Stunden, konzentriert seien. Mag ja sein, dass es im Leben ganz entscheidende, endgültige Wendepunkte gibt. Normalerweise vollzieht sich ein Untergang aber langfristig und - vielleicht nur um so gefährlicher, weil uneinsehbarer - schleichend aufgrund verschiedenster, komplexester Wechselwirkungen).

Nun sind - wie oben bereits angedeutet - Umgangs- bzw. germanistische Fachsprache einerseits und mathematische Fachsprache andererseits oftmals nicht ganz kompatibel; d.h., dieselben Wörter haben oftmals verschiedene Bedeutungen.

Z.B. ist der Satz aus der o.g. Dramendefinition

„Die  Entwicklung  des Konflikts erreicht ihren Höhepunkt [...] das heißt, der Wendepunkt (die Peripetie) zu Sieg oder Niederlage, zu Absturz oder Erhöhung wird herbeigeführt [...]“

aus mathematischer Sicht schlichtweg unlogisch bzw. wohl eher unsinnig:

ein Höhepunkt kann nicht gleichzeitig ein Wendepunkt sein, sondern dann war der vermeintliche Höhepunkt eben doch nur ein Sattelpunkt. Schon eher kann ein Höhepunkt einen Wendepunkt herbeiführen

(nach dem Höhepunkt geht´s erst mal steil bergab, aber irgendwann schwächt sich die Talfahrt auch wieder ab; genau das aber ist bei der Tragödie ja gerade nicht gemeint; oder doch nur mit einer kurzfristig-scheinbaren Erholung im 4. Akt [s.o.]).

Aber vermutlich ist in der germanistischen Definition sowieso eine mathematisch kaum erfassbare Gleichzeitigkeit gemeint: der Höhepunkt besteht gerade darin, dass der Wendepunkt „herbeigeführt“ wird.

Natürlich ist solch eine rein mathematische Kritik einfach nur lächerlich. Gibt es überhaupt Dümmeres, als Literatur mit mathematischer Logik zu kommen?! Die mathematische ist eben nicht die einzige Logik

(es gibt z.B. - laut Erich Fromm in „Märchen, Mythen, Träumen“ - eine ganz andere Logik [!], und zwar der Intensitäten und Assoziationen;

genau das aber scheint mir ja so fatal: dass Mathematiker und Naturwissenschaftler oftmals behaupten bzw. unterstellen, zwar nicht die letzte Wahrheit [das letzte Ziel] aber wohl die einzige Logik [den einzigen Weg] zu besitzen; und das so erfolgreich, dass es keinen Plural von „Logik“ gibt. Aber vielleicht ist das Spiel mit dem Plural bzw. das Bestehen auf dem Singular ja nur Begriffsklauberei.)

Ganz offensichtlich wird unter „Wendepunkt“ germanistisch zusätzlich auch etwas verstanden, was im mathematischen „Wendepunkt“ nicht enthalten ist: eine Offenheit, ob es weiter hoch oder erstmals runter gehen wird (wie der „Funktionsgraph“ weiter verläuft).

(Man könnte fast sagen: die Germanisten haben die o.g. Zwiespältigkeit des Höhepunkts [dass er eben nur vermeintlicher Anlass zur Freude ist] viel besser verstanden als die Mathematiker; bzw. die Künstler/Germanisten/Geisteswissenschaftler sind halt die großen Skeptiker im Lande, sie schauen immer schon weiter.)

Genauso ist

„Die Handlung fällt jetzt auf das Ende zu; dennoch wird die Spannung noch einmal gesteigert [...]“

aus mathematischer Sicht nur barer Unsinn:

„was denn nun - »fällt« oder aber »gesteigert«? Beides gleichzeitig geht ja wohl schlecht.“

Immerhin haben die Autoren obiger Definition den (scheinbaren) Widerspruch durchaus erkannt und mittels „dennoch“ (einem völlig un-, ja geradezu antimathematischen Wort) hervorgehoben.

Zudem sei man doch gerecht und genau: da fallen/steigen zwei verschiedene Dinge

(es gibt also sozusagen zwei „Funktionsgraphen“, und ich halte es ja in der Tat für einen Fehler, an eine aristotelische Tragödie immer nur den altbekannten einen, nämlich /\ , zu legen; beispielsweise kann an einem Tiefpunkt der Handlung [ \/ ], nämlich einem „retardierendem Moment“ bzw. in „der Ruhe vor dem Sturm“, die Spannung besonders hoch sein [ /\ ] ).

Wenn ich im Titel von „mathematischer Germanistik“ sprach, so war damit natürlich nicht eine mathematische Kleinkariertheit und Besserwisserei mit höherem Wahrheitsanspruch gemeint, sondern nur, dass

  • mathematische Erkenntnisse (wie etwa die oben) die Germanistik ab und zu beflügeln,

  • auf sie ein neues, zusätzliches (statt korrigierendes) Licht werfen und

  • zu einer genaueren, differenzierteren Klärungder germanistischen Begriffe beitragen können (und umgekehrt?!).

Laut aristotelischer Theorie findet der Umschwung etwa in der Mitte einer Tragödie statt: genau in demselben Augenblick, in dem der Held den Höhepunkt seiner Lebensbahn erreicht, kippt die Handlung und deutet sich der Abschwung bis hin zum Untergang des Helden an.

In einigen (auch modernen) Tragödien klappt das ganz famos, ja, manchmal lässt sich der Wendepunkt bis auf Seite und Zeile genau in der Mitte festmachen.

Nur kann man doch sagen: hübsch vom Autor konstruiert, aber letztlich doch verlorene Liebesmüh bzw. nur intellektuell-esoterisches Zahlenspielchen, denn es merkt ja keiner (kein Zuschauer bzw. Leser), solange der Autor nicht - wie etwa im Monty-Python-Film „Der Sinn des Lebens“ - eine Warntafel mit der Aufschrift: „Vorsicht! Dramen[Film]mitte!“ aufstellt.

Nun, ganz so ist es ja nicht: der Leser bzw. Zuschauer bemerkt zwar nicht die exakte Mitte, aber eben doch wohl: „ich hab´ das Buch erst etwa halb durch bzw. die Aufführungszeit ist erst etwa halb um, und doch scheint schon alles entschieden“.

(Da mag sogar - wie am Anfang von Hitchcocks "Psycho", als die gerade erst aufgebaute Identifikationsfigur umgebracht wird - eine gewisse Enttäuschung aufkommen: "wir sind erst in der Mitte, und doch ist eigentlich schon alles entschieden. Wofür bezahle ich dann eigentlich einen ganzen Film/ein ganzes Theaterstück!?")

Wenn der Leser bzw. Zuschauer die Mitte also halbwegs bemerkt (und wir mal von Freytags Definition absehen, dass im 4. Akt doch noch mal Spannung aufkommt), so wird der Blick arg intellektuell vom „was“ (dass der Held untergeht) aufs „wie“ umgelenkt (wie er untergeht, wie er sich zu seinem Untergang verhält, wie er ihn vergeblich aufzuhalten versucht und dadurch vielleicht sogar noch beschleunigt).

Mit diesem „wie“ ist das aristotelische Drama erheblich brechtscher, als Brecht geahnt hat oder wahrnehmen wollte.

Oben war gesagt worden, dass die Wende etwa im Höhepunkt stattfinde. Da kann man sicherlich sagen: „Wie banal! Natürlich geht´s nach einem Höhepunkt erst mal wieder bergab!“

Das Problem ist dabei nur: wer so argumentiert, kennt (von der Theorie her oder a posteriori) schon das ganze Drama bzw. den ganzen „Funktionsgraphen“ (s.o.).

Nun kommt zwar ein „normaler“ oder gar „gebildeter“ Zuschauer auch mit einigen Vorerfahrungen und daraus folgenden Erwartungen ins Theater

(„von einer »richtigen« Tragödie kann ich ja wohl noch erwarten, dass sie am Ende mit Pauken und Trompeten den Bach runter geht“).

Aber er kennt noch nicht den genauen Weg.

(Er weiß zwar, dass er gerade dabei ist, den Mount Everest zu besteigen, aber weil die Karten so ungenau sind oder Wetterumschwünge gewisse Standardwege versperren, kennt er noch nicht die Details; und vor allem kennt der Wanderer nicht die [zeitliche] Länge des Weges, bzw. sie erscheint ihm, wenn er erst mal mitten in den Mühen steckt, erheblich länger als etwa in einem Reiseführer angegeben: "mein Gott, das hätte ich mir nicht so schwierig vorgestellt".)

Bzw. der Höhepunkt ergibt sich erst dadurch, dass eine Wende deutlich wird: der Held hätte vielleicht durchaus noch weiter aufsteigen können (der absolute Höhepunkt erst später kommen können), wenn sich nicht eben erste Probleme angedeutet hätten.

Und umgekehrt bewirkt natürlich auch der Höhepunkt den Wendepunkt: im selben Augenblick, in dem Wallenstein zum endgültigen Hochstart ansetzt (Herr beider Kriegsseiten werden will), ist´s sogar für seine besten Freunde "Schluss mit lustig" (also der Freundschaft) und nehmen ausgerechnet sie sich vor, den potentiellen Alleinherrscher umzubringen.

Das oben mathematisch erarbeitete Konzept des noch nicht fertigen, sondern sich erst langsam ergebenden „Funktionsgraphen“ scheint mir durchaus auch germanistisch hilfreich, und zwar merkwürdigerweise (entgegen aller scheinbaren mathematischen Eindeutigkeit) gerade, um allzu große germanistische Eindeutigkeit zu zerstreuen:

der Höhe- und Wendepunkt ist eben immer auch subjektiv und nicht eindeutig (nur weil das bei Freytag oder - oh heiliger Strohsack! - Aristoteles himself so steht):

  1. bemerkt er auch nicht die ersten negativen Signale (wir alle sind ja bei einer Erstlektüre immer dumm), er stolpert sozusagen Arm in Arm mit dem Helden ins Verderben; oder

  2. hat er die Signale durchaus bemerkt und kann dem Helden nur noch hilflos (ohne Eingreifmöglichkeit) beim blinden Untergang zuschauen.

Im Grunde funktioniert ein Drama immer so, dass

Ob a) oder b): für den Leser/Zuschauer ergibt sich daraus die schmerzhafte aristotelische „Katharsis“ („Reinigung von Furcht und Mitleid durch Furcht und Mitleid“): der Leser/Zuschauer hat sich (im ersten Teil des Dramas) mit dem Helden identifiziert bzw. ihn bewundert, und nun muss er am Helden miterleben, wohin (die eigene!) Blindheit führen unweigerlich führt.

Ziel und Zweck ist da doch, dass der Leser/Zuschauer denkt:

„um Gottes willen, ich bin bzw. wäre gerne genauso (blind) wie der Held; und wenn ich - im Gegensatz zum Helden - nicht noch rechtzeitig meine Augen aufkriege und mein Leben ändere, werde ich - genau das wurde mir ja soeben anhand des Helden eindrücklichst vorgeführt - genauso bitter enden wie der Held.“

Schlicht und einfach Rilkes

"[...] denn da ist [an einem Kunstwerk] keine Stelle,

die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern."

Auch hier ist das aristotelische Drama natürlich erheblich brechtscher, als Brecht es wahrhaben wollte: es zielt ja gerade auf Verhaltensänderung (statt auf simpel sentimentale Identifikation und letztlich nur Konsum).

Brecht hat nur Schattenboxen betrieben, bzw. er hat eine in der Tat oftmals schlimme Tradition mit dem falschen und ungerechten Aufkleber „Aristoteles“ versehen.

Und der Leser/Zuschauer - auch das wusste schon Aristoteles - ist gezwungen, vom Helden, mit dem er sich doch so gerne identifiziert hat, und damit von einem liebgewonnenen Teil seiner selbst Abschied zu nehmen bzw. sich davon zu distanzieren.

Sogar für den Helden gibt es noch mehrere Wendepunkte, nämlich

(und die verschärfte Tragödie besteht dann oftmals darin, dass dann eh alles zu spät ist, die Versuche des Helden, das Schicksal aufzuhalten, also nicht greifen oder sogar alles noch schlimmer/schneller machen);

Natürlich ist die Lage im „richtigen“ antiken Drama noch erheblich komplexer: über Ödipus ist - geradezu in einer Prädestination[1] - von Anfang an der Urteilsspruch gesprochen, er kann ihm eh nicht entkommen - und dennoch erwischt dieser Urteilsspruch nicht irgendwen, sondern genau den richtigen. Ödipus sorgt dafür, dass das unausweichliche Orakel a posteriori berechtigt ist.


Noch kurz zum Einsatz von Funktionsgraphen im Deutschunterricht:

  1. ist zu überlegen, inwieweit literarische von mathematischen Kurven abweichen können, indem etwa in der Literatur auch, anders als meist in der Schulmathematik, auch "unstetige" (Sprünge) und "nicht-differenzierbare" Kurve (Zacken) vorkommen können.
  2. reicht es natürlich nicht, einfach nur Graphen zu zeichnen, sondern sie müssen mit markanten Punkten versehen und diese in einem fließenden Text (am besten mit Bezug auf konkrete Textstellen) erklärt werden.

[1] Prädestination [lat.], Vorherbestimmung; in der Religionsgeschichte eine aus dem Glauben an die absolute Souveränität Gottes resultierende [...] Erwählung oder Verwerfung des Menschen, die vom menschl. Handeln unabhängig ist.

[Genau Letzteres sieht die griechische Tragödie wohl komplexer - oder einfach nur realistischer?: ein Ineinandergreifen der scheinbar widersprüchlichen, einander ausschließenden Mechanismen »Freiheit« und »Schicksal«]

(Duden)