die Nachtseite Bild der Wissenschaft

Völlig vernachlässigt ist, was Gotthilf Heinrich Schubert

(in typisch romantischer, wichtiger und gleichzeitig auch gefährlicher Aversion gegen die neue, naturwissenschaftliche Welterklärung)

schon 1808 in seinen Vorlesungen und seinem Buch "Ansichten über die Nachtseite der Naturwissenschaft" gesagt und jüngst der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer in seinem Buch "Die aufschimmernde Nachtseite der Wissenschaft" wiederholt und erweitert hat.

Dabei ist unbedingt gleich zu ergänzen, daß "Nachtseite" keineswegs negativ (dunkel, "mystisch") gemeint ist, sondern auf eine gewisse - nur im Vergleich mit der üblichen Wissenschaft - "irrationale", bisher sträflich vernachlässigte

(weil allemal enorm schwierig zu untersuchende, deshalb aber doch noch lange nicht blödsinnige)

Seite anspielt. Ja, diese "Nachtseite" kann geradezu gleißend hell sein, wenn da etwa Geistesblitze eine Rolle spielen.

Der Begriff "Nachtseite" soll wohl auch an "die dunkle Seite des Mondes" erinnern, die ja keineswegs (immer) dunkel, sondern nur für uns (von der Erde aus) nicht sichtbar ist. Vgl.

 

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Fischer geht es vor allem darum, woher Wissenschaftler (bzw. die wirklich großen, innovativen unter ihnen) eigentlich ihre neuen, revolutionären Erkenntnisse nehmen: eben nicht aus logischen, "rationalen" Erwägungen, sondern aus Eingebungen, Bildern bzw. dem "Blick auf den Grund der Welt bzw. [nach C.G. Jung] der Archetypen"

(ich weiß, das sind - etwa bei "Grund der Welt" - erstmal nur geschraubte, also leere Worte).

Die Forschung nach der "Nachtseite" sucht vielleicht nach "Irrationalem", ist aber keineswegs anti-rationalistisch:

  1. muß der "irrational" entstandene Geistesblitz sich dann ja wissenschaftlich einpassen lassen,
  2. wird ja meist nur demjenigen ein Geistesblitz geschenkt, der lange sehr "rational" an einer Sache gearbeitet hat.

Die Erforschung der "irrationalen" Seite könnte sogar rationalitätsfördernd sein, weil vielleicht nur so die eigentlich erkenntnisleitenden, -fördernden, aber auch -behindernden Ursprünge klar werden.

Als Beispiel führt Fischer da an, wie produktiv der zahlenmystische Glaube an die Drei für Kepler und wie (anfangs) behindernd er für den Physiker Pauli war.

Fischer betont, daß heutige Wissenschaft 

(also z.B. die schiere Erkenntnisfreude von Grundlagenforschern, daraus folgend aber oft auch ihre Blindheit für eventuelle fatale "Anwendbarkeiten" ihrer Erkenntnisse)

sich überhaupt nicht verstehen läßt, wenn man ihre "irrationalen" Ursprünge nicht kennt.

Ja, die  Aversion gegen bzw. das  Unwohlsein des "Durchschnittschnittsbürgers" bei (Natur-)Wissenschaft (und allemal Mathematik) rührt eben gerade daher, daß immer vorgeheuchelt wird, sie entstehe eiskalt "rational"; bzw. daher, daß überhaupt ihre Entstehung (im Kopf eines Menschen "wie du und ich") ganz grundsätzlich geleugnet wird, sie also erscheinen muß, als sei sie wie ein Betonklotz  vom Himmel gefallen.

Die "irrationalen" Eingebungen großer Wissenschaftler lassen sich nur bedingt (an SchülerInnen) vermittelt:

  1. erschien es diesen Wissenschaftlern ja schon selbst wie ein Geistesblitz, eine (göttliche oder was auch immer) Eingebung, ja, fast hätte ich gesagt: wie ein "Musenkuß". Und weil nichtmal sie selbst die Geburt ihrer Ideen "verstehen" konnten, haben sie nachher grenzenlos drüber gerätselt oder sie halbwegs zu "rationalisieren" versucht;
  2. ist dieser Geistesblitz nicht wiederholbar: er war nur eine individuelle "Gnade";
  3. sehe ich ein ganz erhebliches Problem darin, daß das ehemals revolutionär Neue inzwischen (penetrant) Allgemeinwissen ist;

Von wegen "Allgemeinwissen": es - z.B. die Schwerkraft oder die Heliozentrik - ist allemal (und zwar sogar unter Physikern) unverstandenes Allgemeinwissen, es ist schlichtweg "Glauben" geworden.

Und zwar ein merkwürdig schizophrener Glauben. Nehmen wir nur das Beispiel der Heliozentrik: wir alle "wissen", daß die Sonne im Zentrum wenn schon nicht des Universums, so doch zumindest unseres eben "Sonnensystems" steht - aber wir empfinden doch jeden Morgen wieder: die Sonne geht auf - und die Erde steht still.

Das nämlich halte ich für einen Zentralfehler aller (Allgemein-)Bildung: daß die Heliozentrik nicht als (ausgesprochen nützliche!) Theorie, sondern als Wirklichkeit (mit geradezu totalitärem) Erklärungsanspruch vermittelt wird, daß also Theorie und (nützliche, denkökonomische) Modelle kaum vermittelt werden.

Und doch läßt sich die "Nachtseite" vermitteln und ist es überhaupt enorm wichtig, sie aufzuzeigen: die SchülerInnen müssen - und können an ganz "kleinen" Beispielen - diese Nachtseite, diesen begeisterten "Heureka-Effekt", dieses "ich bin erstaunlicherweise drauf gekommen, ich hab's selbst entdeckt" allemal erfahren, ja,

auf dieses "selbstendeckende Lernen" muß - und kann! - man es bei aller unvermeidlichen, ja, geradezu wichtigen Routine durchaus anlegen.

Ich glaube wirklich, daß das, was Schubert und Fischer gesagt haben, enorm wichtige Anregungen sind, um die - nach wie vor - allzu simpel mathematisch-mechanistische Wissenschaft gründlich zu "cracken".

Anders gesagt: es tut tatsächlich ein gewisser - durch alle positivistischen Zweifel kontrollierter - "Idealismus" not!

Mehr noch: diesen "rückholenden", "reingewaschenen" Idealismus halte ich für "die Not der Stunde"!

Vgl. auch:

Bild Ernst Peter Fischer: An den Grenzen des Denkens; Wolfgang Pauli - Ein Nobelpreisträger über die Nachtseiten der Wissenschaft; Herder spektrum

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ders.: Die aufschimmernde Nachtseite der Wissenschaft; Träume, Offenbarungen und neurotische Missverständnisse in der Geschichte naturwissenschaftlicher Entdeckungen; Libelle
Wolfgang Rößler: Eine kleine Nachtphysik; Große Ideen und ihre Entdecker; rororo