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"old, new, borrowed and blue" ist ursprünglich eine "Gebrauchsanweisung" für ein Brautkleid, an dem eben immer etwas Altes, etwas Neues, etwas Geliehenes und etwas Blaues sein sollte:

Ergänzen möcht ich da nur eine andere Bedeutung von "blue", nämlich

blue   1. blau; umgangssprachlich:  melancholisch, traurig, schwermütig [...]

Übersetzungswörterbuch Copyright C. Langenscheidt KG Berlin und München 2000.


Ich aber möchte "old, new, borrowed and blue" als Metapher für Vorgänge in den (Natur-)Wissenschaften benutzen.

Immer wieder sind mir bei der Lektüre von Büchern über die Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften

(insbesondere in Bild Bild )

typische "Effekte" aufgefallen:

"Man erfindet nichts, es ist alles da."
(Joan Miró)

  1. Wenn eine Person B etwas "neu" entdeckt hat, lässt sich meistens ein Vorläufer A finden, der dasselbe auch schon erkannt hat

(wobei es völlig unerheblich ist, ob B von A wusste oder nicht).

  1. Es gibt in der Wissenschaftsgeschichte massenhaft Parallelentdeckungen, also etwa durch eine Person A und eine Person B, die gleichzeitig dasselbe entdeckt haben, ohne voneinander zu wissen

(woraus dann oftmals ein unerquicklicher bis geradezu gehässiger "Prioritätenstreit" der Entdecker selbst oder auch ihrer Anhänger folgte, den ich für überflüssig halte: dadurch, dass A und B etwas gleichzeitig und unabhängig voneinander entdeckt haben, wird doch das Verdienst keines der beiden geschmälert).

1. und 2. scheinen mir zu beweisen, dass oftmals mit den Fragen auch schon die Lösungen "in der Luft lagen" und es "nur" noch eines klugen Kopfes bedurfte, der das Problem urplötzlich klar erkannte und die Lösungsansätze in einem großen Wurf "zusammen bringen" konnte.

Dabei schmälert das "nur" keineswegs die Genialität solcher "Zusammenschauer"

(also z.B. von Newton oder Einstein).

Mit 1. und 2. wird aber auch klar, dass kein Genie völlig unabhängig von den historischen Verläufen ist.

  1. Die wirklich großen "Geister" waren vor allem jung und dadurch unvorbelastet: es gibt einen uralten "Gag", dass sich ein Naturwissenschaftler mit 30 Jahren fast "beerdigen" lassen kann, weil er ab dann kaum mehr wirklich revolutionäre Neuerungen entdecken wird.

  2. Das ist nicht nur bei Mathematikern und Naturwissenschaftlern so, sondern vermutlich "allgemeinmenschlich":

im Nachhinein

(und insbesondere, wenn "man" erst mal berühmt ist)

scheint einem alles zwangsläufig, und dann vergessen die großen Entdecker selbst ebenso wie die "Öffentlichkeit", mit welchen Schwierigkeiten, Unwägbarkeiten, aber auch Zufällen der Weg zum Erfolg gespickt war

(wir erfahren ja meist nur von jenen, die "Glück" hatten, nicht aber von jenen, die vielleicht genauso "gut" waren, aber "gescheitert" sind, sei's, dass sie den letzten Schritt nicht geschafft haben, sei's, dass sie diesen Schritt sehr wohl tun konnten, er aber nie bekannt wurde).

  1. Die allermeisten großen "Geister" haben nur eine einzige Chance im Leben

(und sie dann auch genutzt):

Einstein mit erst der speziellen und dann zehn Jahre später

(also mit 36 Jahren!)

der allgemeinen Relativitätstheorie ist da die absolute Ausnahme.

  1. Die großen Genies haben oftmals die enormen Konsequenzen ihrer eigenen Entdeckungen nicht verstanden - und damit letztlich diese Entdeckungen selbst nicht (oder zumindest nicht vollständig). Sogar sie konnten noch nicht völlig aus dem alten Denken herausspringen.

Gerade die größten Genies waren sich ihrer eigenen Sache 

(weil sie sie selbst nicht ganz durchschaut hatten?)

keineswegs so sicher, bzw. ihre Sache ist nie ganz "eigen" geworden:

(sondern in einigen Äußerungen durchaus - Gott bewahre! - Lamarquist),

  1. Irgendwann - und da wird's dann endgültig "blue" im o.g. Sinne - wurden viele Genies von Jüngeren abgehängt und manchmal sogar (wissenschaftlich) reaktionär

(oder Wissenschaftsbürokraten).

So einige alternde Genies haben sogar

(vielleicht weil nach einem Gipfel nur noch Täler kommen können, d.h. die Zeit nach einem großen [dem letzten] Erfolg fast genauso bitter ist wie gar kein Erfolg? - nur stinkt mir diese Vermutung bzw. Unterstellung

- wie scheinbar dieser ganze Text? -

doch wieder allzu sehr nach Neid und daraus reflexhaft folgend Missgunst der Erfolglosen)

alles daran gesetzt, jüngeren Nachfolgern mit deren neuen Entdeckungen das Leben schwer zu machen.

Ein alternder Naturwissenschaftler bzw. Mathematiker

(so G.H. Hardy mal resigniert bis geradezu depressiv; vgl. Bild Bild A Mathematician's Apology; Cambridge University Press)

macht keine Wissenschaft mehr, sondern schreibt im besten Fall "über" sie

(was ich allerdings durchaus auch wichtig finde; für dieses historisierende und einordnende "drüber" sind nämlich junge Wissenschaftler zu blöd, weil es ihnen an Überblick bzw. Lebenserfahrung fehlt).

Und zweifelsohne gab es auch viele Genies, die im fortgeschrittenen Alter ihr Renommee, ihre Verbindugnen und ihre Kenntnisse genutzt haben, um junge Talenten zu fördern.

(Überhaupt kenne ich aus Geschichte und Gegenwart so einige 80jährige, deren Denken offener war bzw. ist als das so einiger schon mit 18 Jahren Bornierter!)


Warum mir all das so bemerkenswert erscheint?:

Keineswegs, um die Leistungen der ganz Großen zu schmälern

(was nur die Rache der Dummen wäre),

sondern weil Wissenschaft damit historisch und menschlich wird.