psychologische Physik

"ARISTOTELES: Auch der Wurf eines Steins ist eine erzwungene Bewegung. Zunächst steht der Werfer im direkten Kontakt mit dem Stein, d.h. der Werfer wirkt als ‚motor conjunctus’. Nach dem Abwurf des Steins überträgt der Werfer seine Funktion auf die angrenzende Schicht des Mediums, in dem der Wurf stattfindet, womit die Verbindung zwischen dem Werfer und dem Stein erhalten bleibt. Das dem Medium mitgeteilte bewegende Vermögen, das sogenannte ‚virtus movens’, nimmt bei der Übertragung an die folgenden angrenzenden Luftschichten aber immer mehr ab, so dass die erzwungene Bewegung schließlich aufhört. Und so wie die irdische Welt durch Entstehen und Vergehen gekennzeichnet ist, so kommt auf der Erde – wie die Erfahrung zeigt – alle Bewegung, sowohl die natürliche Auf- und Abbewegung der leichten und schweren Körper als auch jede erzwungene Bewegung nach dem Wegfall des äußeren Bewegungsantriebs, zum Erliegen."
(aus einem fiktiven Gespräch des Aristoteles, zitiert nach )

Alle Klarheiten beseitigt?

Oftmals wird dabei

"Nach dem Abwurf des Steins überträgt der Werfer seine Funktion auf die angrenzende Schicht des Mediums, in dem der Wurf stattfindet, womit die Verbindung zwischen dem Werfer und dem Stein erhalten bleibt."

so verstanden, dass der waagerecht geworfene Stein erst eine lange Zeit waagerecht weiterfliegt.

Und

"Das dem Medium mitgeteilte bewegende Vermögen [...] bei der Übertragung an die folgenden angrenzenden Luftschichten aber immer mehr ab[nimmt], so dass die erzwungene Bewegung schließlich aufhört",

wird das oftmals so verstanden, dass der bis dahin waagerecht geflogene Stein urplötzlich (?) in der Luft innehält - und danach senkrecht nach unten stürzt:

So zumindest hat es dann Aricenna (Avicenna?!) im 11. Jahrhundert nach Christus verstanden (vgl. ).

Angenommen also mal, das Modell tatsächlich von Aristoteles stammt, so springt Gorm, der Feuer gefangen hat, in der Fernsehserie "Wickie"  "aristotelisch" ins Wasser, um das Feuer zu löschen:


Es ist ein Leichtes, nachträglich über Aristoteles herzufallen

(vgl. ),

und dementsprechend ist Aristoteles auch immer wieder vorgeworfen worden, er habe vor lauter "naturwissenschaftlicher" Theorien nie die Natur selbst beobachtet.

Aristoteles hat aber oftmals die Natur sehr wohl genau so beschrieben, wie sie tatsächlich aus menschlicher Sicht aussieht. Z.B. dreht sich aus menschlich-irdischer Sicht die Sonne sehr wohl um die Erde - und nicht umgekehrt. Vgl. .

Ob die Sonne sich um die Erde dreht oder umgekehrt, ist also nicht - je nachdem - falsch oder wahr, sondern

  1. eine Sache der Perspektive (relativ),

  2. abhängig von den Erklärungen, die man für die Himmelsmechanik benutzt

(wenn man die Bewegungen im Sonnensystem mit der Schwerkraft erklären möchte, ist es sinnvoller, von einer festen Sonne auszugehen).

Man kann sich das gar nicht deutlich genug klar machen:

Aristoteles hat mit seiner Himmelsmechanik die direkt einsichtige Erklärung gewählt, Kopernikus und Nachfolger hingegen die unanschauliche: moderne Wissenschaft funktioniert eben oftmals gerade nicht nach dem "gesunden Menschenverstand", sondern widerspricht ihm sogar oftmals regelrecht:

"[...] [der] Elan, der dem Gedanken die Fähigkeit gibt, von dem, was naheliegt und plausibel ist, abzugehen. Umso klarer zu sehen, je weniger man den eigenen Augen traut. Der Geist muss den Mut haben, sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen."
(Zitat aus )
 

Ein Standardvorwurf beim "aristotelischen Steinwurf" ist: man müsse doch nur ein einziges mal einen Stein, der waagerecht abgeworfen wird, beobachten (!!!), und schon sehe man, dass er sich parabelförmig bewege:

Da frage ich mich nur, weshalb "die" Menschheit so lange gebraucht hat, um das zu sehen.

(Immerhin war  Albert von Sachsen im 14. Jahrhundert n. Chr. schon so weit:

[vgl. wieder ])

Die waren doch nicht alle mit Blindheit geschlagen! Anders gesagt: früheren Wissenschaftlern inkl. Aristoteles ist dasselbe zuzugestehen, was man im Idealfall auch SchülerInneN (und sich selbst) zugestehen sollte : dass sie Fehler mit gutem Grund machen und dass Fehler einerseits erkenntnisbehindernd, andererseits aber manchmal auch produktiv sein können

(vgl. vom Richtigen im Falschen ).


Das Problem scheint (nicht erst) mir im Wort "sehen" zu liegen:

"Woher, wenn nicht von den Impressionisten, stammen jene wundervollen braunen Nebel, die durch unsere Straßen ziehn, die Gaslampen verschleiern und die Häuser in ungeheuerliche Schatten verwandeln? Wem verdanken wir die köstlichen Silbernebel, die über unserem Fluss brauen und die die geschwungene Brücke, die schwankende Barke in die zarten Linien vergänglicher Anmut hüllen, wenn nicht ihnen und ihrem Meister? Der ungewöhnliche Umschwung, der während der letzten zehn Jahre in den klimatischen Verhältnissen Londons stattfand, ist einzig und allein einer besonderen Kunstrichtung zuzuschreiben. Du lächelst. Betrachte die Sache vom wissenschaftlichen oder metaphysischen Standpunkt, und du wirst einsehen, dass ich recht habe. Denn was ist die Natur? Die Natur ist keineswegs die große Urmutter, die uns gebar. Sie ist unsere Schöpfung. Es ist unsere Einbildungskraft, die sie beseelt. Die Dinge sind, weil wir sie sehen, und was wir sehen und wie wir sehen, hängt von den Künsten ab, die uns beeinflusst haben. Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Ding ansieht, oder ob man es sieht. Man sieht nichts, solange man nicht seine Schönheit sieht. Dann, und erst dann, wird es lebendig. Jetzt sehen die Leute die Nebel, nicht weil es Nebel gibt, sondern weil die Dichter und Maler ihnen die geheimnisvolle Schönheit solcher Erscheinungen offenbarten. Es hat vielleicht schon seit Jahrhunderten in London Nebel gegeben. Das glaube ich sogar ganz sicher. Aber niemand hat sie gesehen, und deshalb wissen wir nichts darüber. Sie waren nicht vorhanden, bis die Kunst sie erfunden hatte."
(Oscar Wilde: "Der Verfall der Lüge")


Das Problem ist, dass der "waagerechte", in Wirklichkeit aber parabelförmige Wurf

eine zusammengesetzte Bewegung ist:

Keine der beiden Bewegungen ist aber direkt beobachtbar, sondern nur ihre Summe (ein schräger Flug nach rechts unten) ist erkennbar.

Kommt hinzu, dass - wiederum sehr abstrakt - die nach unten gerichtete Bewegung des Steins  immer schneller (seine Geschwindigkeit ist nicht konstant) wird, aber die Beschleunigung konstant ist.


Nach einiger Recherche im Internet bin ich mir gar nicht so sicher, ob sich Aristoteles überhaupt zum waagerechten Wurf geäußert hat oder ob das Modell erst von Avicenna (wenn auch im Sinne von Aristoteles) erdacht wurde.

Allemal klar ist aber, dass sich Aristoteles zum freien Fall nach unten

(man wirft einen Stein nicht seitlich, sondern lässt ihn nur nach unten fallen)

geäußert hat.

Da aber hatte er klare Vorstellungen:

"Auch war Aristoteles der Meinung, ein Körper bewege sich während des Falles mit gleich bleibender [= konstanter] Geschwindigkeit."
(Quelle:  )

In Wirklichkeit bewegt sich aber der Körper beim freien Fall nicht mit gleich bleibender [= konstanter] Geschwindigkeit, sondern

"Der freie Fall ist eine konstant beschleunigte Bewegung mit der Beschleunigung a = 9,81 m/s2."
(Quelle: )

Die Frage ist nur, ob Aristoteles Letzteres hätte wissen = bemerken können.

Nun kann es hier ja nicht darum gehen, Aristoteles ganz grundsätzlich zu "entschuldigen". Immerhin hätte er sich doch fragen können:

Aber nochmals: warum hat Aristoteles das nicht bemerkt?

Mir scheint, das lag und liegt vor allem daran, dass man die Beschleunigung kaum sieht bzw., wenn man sogar selbst fällt, bemerkt: die üblichen Fallversuche

(auch Galileis berühmt-anekdotische Versuche vom Schiefen Turm in Pisa!)

dauern viel zu kurz, als dass man sie genau beobachten könnte: der Stein bzw. man selbst ist bereits unten, bevor man überhaupt irgendwas beobachten könnte. Und wenn denn Aristoteles sehr anschaulich gedacht hat, so hat er eben gar nichts bemerken können.


All das erklärt aber noch immer nicht

.

Denn selbst wenn der Stein mit konstanter Geschwindigkeit nach unten fallen würde, so würden sich doch die horizontale und die vertikale Bewegung zu einer insgesamt schiefen, aber linearen Bewegung zusammensetzen:

Aristoteles (oder Averroes) hat also den Fehler gemacht, die beiden Bewegungen nacheinander anzuordnen

(die horizontale ist vorbei, bevor die vertikale beginnt),

statt zu sehen, dass beide gleichzeitig ablaufen.

Warum aber hat er diesen Fehler gemacht?

Eine theoretische Erklärung steht - sehr kompliziert - im anfangs zitiertem fiktivem Gesprächsausschnitt.

Hier aber zeigt sich, dass nicht nur eine nette (letztlich überflüssige) Illustration von bereits Bekanntem ist, sondern bei der Erklärung helfen kann.

Die Frage ist doch: waren die Zeichner des Wickie-Films noch genauso "dumm" wie Aristoteles

(und viele Menschen heutzutage denken noch immer stramm aristotelisch!),

oder ist der (dann durchaus bewusste) "Fehler", dass Gorm wie in springt, Absicht?

Versetzen wir uns dazu in Gorm hinein: er hat sozusagen die Wahl zwischen Krebs und Cholera. Und genau das bemerkt er anscheinend knapp nach dem Absprung:

Mitten in der Luft (noch beim waagerechten Sprung) versucht er also das Unvermeidbare (Ins-Wasser-Fallen) doch noch zu verhindern, indem er mit den Armen wedelt und zu fliegen versucht. Als das aber (erwartungsgemäß) nicht gelingt, geht´s stramm mit ihm bergab.

Gorm empfindet den Sprung also annähernd so

(und wer von uns hat ihn etwa beim "Köpper" vom 3-Meter-Brett nicht so empfunden?).

Wenn man genauer hinschaut, fliegt Gorm allerdings doch fast parabelförmig, nur mit einer Pause (Schrecksekunde) mitten in der Luft, also sozusagen "halbaristotelisch".


Man kann - dem Anfangszitat folgend - noch genauer werden: Aristoteles scheint zu meinen, dass die waagerechte Bewegung keineswegs konstant ist, sondern dass sie irgendwann langsam (!) "zum Erliegen" kommt - wie ja auch ein senkrecht fallender Stein irgendwann auf der Erde aufschlägt

Eine unendliche Bewegung scheint für Aristoteles unvorstellbar oder allein dem "unbewegten Beweger" (Gott) vorbehalten gewesen zu sein: Aristoteles hatte ja noch nicht das sehr abstrakte und bis heute nicht ganz verstandene Trägheitsprinzip:

denn ganz erheblich abstrakt ist es ja auch, dass der Stein "im Prinzip" (abgesehen zudem vom Luftwiderstand) konstant und in alle Ewigkeit nach rechts weiterfliegt, nur dass (weil er ja gleichzeitig nach unten saust) irgendwann die Erde im Weg ist.