(Titel-Vorschlag meines Sohnes für meine Nachhilfepraxis)
Benjamin Schulz schreibt derzeit (2016) im "Spiegel"
unter dem Obertitel "Gesägt, getan" eine herrlich selbstironische
Artikelserie
über Freuden & Leiden des Do-it-yourself-ers
bzw. einfach über "das Kind im Manne":
Der Artikel
ist dabei besser als drei Stunden üblicher
Satz-des-Pythagoras- oder überhaupt Mathematik-Unterricht!
Das Problem ist nämlich, dass sonst der rechte Winkel allzu selbstverständlich ist: unsere Welt ist randvoll mit fertigen rechten Winkeln, wozu also noch darüber nachdenken?!
(Im üblichen Mathematikunterricht spielt der rechte Winkel eine enorme Rolle
[vgl. nur etwa das Koordinatensystem, den Satz des Pythagoras und die Trigonometrie],
es wird in diesem üblichen Mathematikunterricht aber nie darüber nachgedacht, warum der rechte Winkel außermathematisch so "wirkungsmächtig" ist.)
Sogar die Natur "kennt" den rechten Winkel, denn z.B. wachsen Bäume in der Regel senkrecht zum Boden
(Ausnahmen gibt's [insbesondere in
windigen Gegenden] immer:
.)
Aber warum eigentlich wächst ein Baum normalerweise senkrecht zum Boden?: weil sonst der Schwerpunkt des Baums nicht über der Wurzel liegt
und somit der Baum umkippen würde oder zumindest doch die Wurzeln immer eine "Schrägkraft" aushalten müssten:
Viel mehr noch als in der Natur herrscht der rechte Winkel aber in der kulturellen und industriellen Welt: eine omnipräsente Herrschaft, die man schon fast als "Diktatur des rechten Winkels" bezeichnen könnte
(die insbesondere an der grauenhaft einfallslosen gegenwärtigen Investoren-Architektur deutlich wird:
).
Auch in der menschengemachten Welt ist selbstverständlich
(wie bei den Bäumen)
die Statik einer der Hauptgründe für die Dominanz des rechten Winkels
(vgl. nur die
Probleme mit ).
Ein weiterer Grund für die
"Rechtwinkligkeit der
Welt"
wird anhand einer typischen Zuschneidestation in einem Baumarkt deutlich:
Alle Bewegungen solch einer Kreissäge sind rechtwinklig
,
weshalb man in vielen Baumärkten überhaupt nur rechtwinklige Zuschnitte erhält.
Das Gerät, mit dem üblicherweise Bretter geschnitten werden, nämlich die Kreissäge, ist im Grunde euklidische Geometrie in Reinkultur: die alten Griechen hielten den Kreis und die Gerade für die einzigen vollendet gleichmäßigen Gegenstände und haben deshalb in der Geometrie überhaupt nur Konstruktionen mit Zirkel und Lineal zugelassen. Und eine Kreissäge ist sowohl Kreis als auch Gerade:
von der Seite gesehen ein
Kreis
(es ist nicht allein der Name "Kreissäge", der für ein kreisförmiges Sägeblatt sorgt, sondern ein kreisförmiges Sägeblatt ist [neben der Stichsäge, s.u.] die einzig mögliche Konstruktion),
von oben gesehen eine
Gerade, was automatisch dafür sorgt, dass ein Kreissägeblatt
fast schon paradoxerweise nur geradeaus
sägen kann:
(hier wird der gerade Schnitt noch
dadurch erleichtert, dass das Brett an einem Parallelführung
entlang geführt wird; eine andere Erleichterungsmöglichkeit ist der
parallel zum Sägeblatt verschiebbare
Schlitten:
)
Ein echtes Problem sind schon Schrägschnitte, d.h. zwar immer noch gerade Schnitte, aber schräg durch ein (rechteckiges) Brett:
Freihand etwa mit einer Handkreissäge
schafft man das kaum, sondern da bedarf es schon
spezieller Gehrungsvorrichtungen wie etwa
.
Eine Stichsäge
funktioniert fast umgekehrt zur Kreissäge:
wegen ihres schmalen
geraden Sägeblatts
kann man mit ihr paradoxerweise kaum geradeaus sägen
(es sei denn, auch bei ihr benutzt
man einen Parallelanschlag:
; aber dann kann man ja - wenn man hat - gleich eine für
gerade Schnitte viel besser geeignete Kreissäge benutzen),
dafür ist es aber wegen ihres schmalen
Sägeblatts und daraus folgend kleinen "Wendekreises" relativ einfach, entlang krummer Linien zu sägen und
(allerdings auch mit entsprechendem Zubehör)
insbesondere Kreise:
.
Das Sägen krummer Formen ist mit Stichsägen aber eben nur "relativ einfach" möglich: abgesehen von Kreisen ist mir mit einer Stichsäge noch nie ein genauer krummer Schnitt gelungen, was daran liegt, dass eine hübsch krumme Kurve von Punkt zu Punkt eine andere Richtung (mathematisch gesagt: eine andere Steigung) hat. Damit ist
die Stichsäge Sinnbild der Mathematik ab der 9. Klasse (quadratische und andere krumme Funktionen),
die Kreissäge hingegen Sinnbild der Mathematik der 7. und 8. Klasse (lineare Funktionen).
Wir verlassen uns heutzutage auf die Perfektion der industriellen Produkte:
ein gekaufter Spielwürfel ist garantiert (fast) "laplace-verteilt", d.h. all seine Seiten tauchen beim Spiel mit derselben Wahrscheinlichkeit auf;
eine gekaufte Wasserwaage wird garantiert eine (fast) exakt Horizontale anzeigen
(ich habe damit aber schon böse Überraschungen erlebt, als ich allzu spät bemerkte, dass solch eine gekaufte Wasserwaage eben doch ein Gefälle als angebliche Horizontale anzeigte);
eine gekaufte Rechter-Winkel-Schablone wird doch garantiert einen (fast) exakten rechten Winkel anzeigen!?
Genau da setzt aber Benjamin Schulz mit seinem Text
an: er hatte das Pech, eine aus zwei Teilen zusammengesetzte
Rechter-Winkel-Schablone gekauft zu haben, die an der Gelenkstelle
wackelig war und deshalb
anzeigte.
(Bevor man das bemerkt, hat man aber schon ein Arbeitsstück versaut - und kann nochmal von vorne anfangen: "man trifft sich im Leben immer zweimal".)
Schulzens eigentliches Problem lag aber weniger an ungeeignetem Werkzeug
("wenn der Bauer nicht schwimmen kann, liegt's an der Badehose", d.h. es sind immer die anderen bzw. die "Umstände" [gerne auch "die Gesellschaft"] schuld),
sondern an seinem selbstironisch eigestandenen eigenen
Unvermögen: wenn man nicht gerade eine teure
besitzt, ist es nämlich gar nicht so einfach, einen
halbwegs exakten rechten Winkel zu sägen
(und zwar auch dann, wenn er durchaus exakt vorgezeichnet wurde).
Genau da fangen die Probleme nämlich überhaupt erst an: wenn man keine industrielle Hilfe hat, sondern selbst einen rechten Winkel herstellen soll: dann befindet man sich sozusagen wieder in der Steinzeit - und muss sozusagen das Rad doch wieder neu erfinden
(und genau das, also die eigene Herstellung eines rechten Winkel, sollte man Schülern im Matheunterricht mal "antun").
Angenommen mal, man möchte für einen neu anzulegenden Garten sehr große rechte Winkel anlegen
(es soll ja schließlich alles hübsch akkurat aussehen, denn was sollen die Nachbarn denken?!):
Da hilft keine noch so genaue Rechter-Winkel-Schablone aus dem Baumarkt, sondern kann man froh sein, dass wir doch schon aus der Steinzeit heraus sind - und dass man in der Schule den Satz des Pythagoras durchgenommen hat
(daher die Überschrift
, die Pythagoras so schön als
Schutzheiligen
anruft):
→
(für den Garten natürlich größer)
Rechtwinkligkeit ist eine selbsterfüllende Prophezeiung bzw. eine Katze, die sich in den eigenen Schwanz beißt:
wenn
rechtwinklig ist, sind es auch die daraus gebauten Häuser
, in die dann am besten rechtwinklige Möbel
passen;
wenn die Möbel rechtwinklig sind, müssen auch die Häuser rechtwinklig sein, in denen die Möbel stehen.
Der rechte Winkel
ist
also vor allem eine enorm hilfreiche Standardisierung der technischen Welt,
aber auch ein Korsett , gegen das sich viele verzweifelt gewehrt haben
und dem sie dennoch Tribut zollen mussten.
Und dann gibt es noch knochentrocken humorlose und lieblos verständnislose Klugscheißer, die auf den Artikel von Schulz z.B. antworten:
"Gut, ich kenne auch einige Hobbyjournalisten, die,
mit Verlaub, nicht zu den besten ihrer Zunft gehören, aber
Hobbyhandwerker, die ihr gymnasiales Vorwissen in eine Form bringen
wollen, geht schon echt zu weit. Traurig ist, dass das eigene
Unvermögen, einen Winkel anzuhalten, nur geringfügig zur Selbstkritik
führt. Ja, es ist durchaus einfacher, dem bereitgestellten seelenlosen
Arbeitsmaterial die Schuld zu geben, dieses aber, mit einem billigen
Schulwinkelmesser auch noch Nachdruck zu verleihen, grenzt ja schon an
Recherchepraktiken ala Führertagebücher. Handwerker kommen im
Schadensfall sicher gerne zu ihnen, nicht. Einen solchen Kunden hat man
gerne: "Also, wie Sie das machen, das steht aber anders in meinen Buch
für Allrounder" Antwort: "Lassen se mich mal machen (GedankenEffe)."
Und wie der Kommentar 1. sehr treffend sagt, ist 3:4:5 der genaueste
rechte Winkel. Mit seinen Vielfachen (6:8:10 etc.) wird er selbst bei
mäßigen Zeichenkünsten noch genauer. Mach lieber eine Reportage über
Schlüsseldienste, füllt das Sommerloch und ist immer für Aufreger gut."
(Quelle:
)