reduktionistische Unlogik

"Was andere schreiben und sagen, sollten wir mit einer gewissen Großzügigkeit aufnehmen, sofern wir vorhaben, uns damit auseinanderzusetzen. Lesen Sie also wohlwollend. Bevor wir zu kritisieren beginnen, müssen wir ja wissen, worauf genau sich unsere Kritik zu richten hat. Deshalb sollten Sie auch einmal fragen: Was könnte an der Argumentation stimmen? Was kann ich daraus lernen?"

"Wir haben zwar einen ungefähren Überblick über unser Wissen, nicht jedoch über unser Nicht-Wissen."

(Jürgen August Alt)

  Reduktionismus

der, in der Wissenschaftstheorie die Rückführung komplexer Sachverhalte auf elementare Prinzipien oder Seinsbereiche (z.ÿB. der geistigen Wirklichkeit auf die Materie im Materialismus). Auch kritische Bezeichnung für eine vereinfachende zurückführung wie z.ÿB. im Behaviorismus, der psychisch-geistige Prozesse als durch messbare physische Vorgänge erklärbar ansieht.

(Brockhaus multimedial 2002)

War es Dostojewski, der sinngemäß gesagt hat?:

"Dass nur Kranke Geister sehen können, beweist keineswegs, dass es keine Geister gibt. Vielleicht haben nur [in unserem Sinne] Kranke die Fähigkeit, tatsächlich vorhandene Geister zu sehen."

Und immerhin haben ja ganze Kulturen genau das geglaubt: dass nämlich z.B. Blinde oder Epileptiker einen privilegierten Zugang zu einer anderen, durchaus vorhandenen Wirklichkeit hätten.

(aber bittschön auch keine Romantisierung der Krankheit und des Wahnsinns!)

 

"how can you be so sure?"

Ich habe öfters Anlass, die zu beklagen.

Diesmal ist mir aber (allerdings nur an einer einzigen Textstelle) ein gelernter Philosoph auf die Nerven gegangen, der allerdings ein Buch vor allem über Naturwissenschaften geschrieben hat.

Dabei sei zur (durchaus ernst gemeinten, also nicht nur vorgeschobenen) Entschuldigung vorweg gesagt, dass das Buch

Jürgen August Alt: Das Abenteuer der Erkenntnis; Eine kleine Geschichte des Wissens; becksche reihe

vgl. auch

Im Kapitel "10 Alternatives Wissen?", Unterkapitel "»Der Glaube versetzt Berge« - Wissenschaft und religiöse Weltdeutung" steht da folgende Passage

(... wobei mir im Nachhinein

"Häufig bedienen sich die Mystiker auf ihrem inneren Pfad verschiedener Techniken oder Übungen. Bei den Anhängern des Sufismus - das ist die islamische Variante der Mystik - gehören dazu Fasten, Schlafentzug, rhythmisch gesprochene Formeln, Musik und Tanz, teilweise auch Drogen, wobei die Meinungen über die Bedeutung von Tänzen und Musik auseinandergehen. Die Neurochemie solcher Erlebnisse wird mehr und mehr enträtselt. Neurowissenschaftliche Analysen allein sind noch kein Argument gegen die Hypothesen, die ein Sufi mit seinen Erfahrungen verbindet. Aber die Erfahrungen richten sich, dem Selbstverständnis der Mystiker entsprechend, auf das Absolute. Mystische Vereinigungen mit Gott sind nicht in erster Linie von den Übungen selbst abhängig, sondern von anderen Voraussetzungen, insbesondere der Reinheit des Herzens. Wenn nun die Neurowissenschaftler erforschen, wie solche Erfahrungen tatsächlich zu Stande kommen, und wenn sie hinreichend ähnliche Erfahrungen «künstlich», durch neurochemische Substanzen erzeugen können, dann hat die wissenschaftliche Erkenntnis die mystischen Erlebnisse eingeholt."

Nun sei Alt ein Ausrutscher in seinem Buch ja durchaus gegönnt. Auch ich rede ja viel Stuss, wenn der Tag lang ist.

Vorweg: all meine folgenden, an das Zitat anschließenden Überlegungen sind völlig unabhängig davon, ob man an die Echtheit "mystischer" Erfahrungen glaubt oder nicht

(... wobei ich mit "Echtheit" meine, dass jemand tatsächlich Verbindungen mit einer "anderen" [was immer das sei] Wirklichkeit aufnimmt, es diese "andere" Wirklichkeit also "gibt").

Es geht mir nur um "intellektuelle Redlichkeit" - ein Ausdruck, der mir allerdings schon wieder zu moralisch und meist nur ein (eben moralischer) Totschläger ist. Besser wäre wohl schlichtweg "Logik".

  1. verstehe ich ein Detail des Zitats nicht:

"Neurowissenschaftliche Analysen allein sind noch kein Argument gegen die Hypothesen, die ein Sufi mit seinen Erfahrungen verbindet."

Welche Hypothesen? Etwa die Hypothese, dass der Sufi  meint, einen Kontakt mit einer anderen Wirklichkeit gehabt zu haben? Soll der Satz also indirekt bedeuten?:

"Der Sufi hat sich zwar alles [Hypothesen] nur eingebildet, aber eben die Tatsache dieser Einbildung kann man ihm nicht absprechen."

(Vgl. etwa: Erwin hat in seinen Fieberträumen einige Gespenster gesehen, wobei das Fieber bzw. die Fieberträume durchaus real, die Gespenster aber [natürlich!] irreal waren.)

Müsste es nicht vielmehr heißen?:

"Neurowissenschaftliche Analysen allein sind noch kein Argument gegen die Echtheit [s.o.] der Erfahrungen des Sufis."

Wenn Alt aber das gemeint hätte, wäre seine Argumentation hier auch schon zu Ende: neurowissenschaftliche Analysen besagen rein gar nichts über die Echtheit mystischer Erlebnisse, sie können diese weder beweisen noch widerlegen (s.u.).

  1. verstehe ich nicht den Gegensatz, der durch das "Aber" angedeutet wird:

"Neurowissenschaftliche Analysen allein sind noch kein Argument gegen die Hypothesen, die ein Sufi mit seinen Erfahrungen verbindet. Aber die Erfahrungen richten sich, dem Selbstverständnis der Mystiker entsprechend, auf [wieder: was immer das sei] das Absolute."

  1. Wirklich unlogisch wirds für mich jedoch bei

"Wenn nun die Neurowissenschaftler erforschen, wie solche Erfahrungen tatsächlich zu Stande kommen, und wenn sie hinreichend ähnliche Erfahrungen «künstlich», durch neurochemische Substanzen erzeugen können, dann hat die wissenschaftliche Erkenntnis die mystischen Erlebnisse eingeholt."

Wenn die Neurowissenschaftler tatsächlich

"hinreichend ähnliche Erfahrungen «künstlich», durch neurochemische Substanzen erzeugen können",

ist damit doch nur eine Banalität bewiesen: dass man die Erfahrungen, die ein Sufi macht, auch mit anderen Mitteln (durch neurochemische Substanzen) hervorrufen kann. Der Sufi nimmt dann eben nicht mehr sein Naturkraut (oder braucht gar nicht mehr zu tanzen, bis ihm die Endorphine den richtigen Kick geben), sondern ab sofort schmeißt er nur noch eine synthetische Droge ein: eine Tautologie!

Ein Parallelbeispiel: man kann z.B. sowohl durch Regen als auch durch einen Wasserwerfer nass werden. Aber damit ist doch noch nicht mal ansatzweise das Gefühl des "Nasswerdens" verdeutlicht.

Oder wenn ich weiß, dass Wasser (H20) sich aus Wasserstoff (H) und Sauerstoff (0) zusammensetzt

(eine auf anderer Ebene ja durchaus wichtige Erkenntnis!),

so weiß ich noch lange nichts über Ertrinken, Verdursten, Schwimmen im Meer, eine Massagedusche oder eine heiße Badewanne im Winter.

Die Neurowissenschaft würde nur zeigen, dass einer der Schlüssel zu einer anderen Wirklichkeit auch synthetisch herstellbar ist. Aber damit ist doch noch lange nichts darüber gesagt, was hinter der mit diesem Schlüssel zu öffnenden Tür ist bzw. ob da überhaupt was oder eben gerade nichts ist.

Und was heißt schon "hinreichend ähnliche Erfahrungen"? Ist denn der Beweis gegen den Sufismus schon erbracht, wenn die Neurowissenschaften irgendwelche (mystische) Erfahrungen hervorbringen können?

Und wie denn wollen die Neurowissenschaften das hervorbringen, was Alt zwischendurch als die wichtigste Vorbedingung mystischer Erfahrungen einschiebt?: die "Reinheit des Herzens" (auch hier wieder: was immer das sei).

Selbst wenn die Neurowissenschaften bereits so weit sein sollten,

"hinreichend ähnliche Erfahrungen «künstlich», durch neurochemische Substanzen erzeugen [zu] können",

so wäre damit eben noch lange nicht der Schluss legitim:

"dann hat die wissenschaftliche Erkenntnis die mystischen Erlebnisse eingeholt."

(was für eine banale Verwechslung von Erkenntnissen und Erlebnissen; womit ich ja nicht bezweifeln will, dass auch Erkenntnisse Erlebnisse sein können bzw. wirkliche Erkenntnisse sowieso auch Erlebnisse sind!

"einholen" = "überholen"?)

Die Sufis, die ja - so das Klischee - andauernd bis zur Ekstase in der Wüste kreiseln, werden sich denken: "der Hund [Reduktionismus] bellt, die Karawane zieht weiter."

PS:

Ich meine tatsächlich, dass man dem Reduktionismus logisch kommen, ihn also mit seinen eigenen (vermeintlichen) Waffen schlagen muss.

PPS:

Ich bezweifle auch das von Alt gebrachte Searle-Zitat

"Für uns - für die Gebildeten in der Gesellschaft - ist die Welt geheimnislos geworden ... Wir sind über den Atheismus hinaus gelangt zu einem Punkt, an dem das Thema nicht mehr die Rolle spielt, die es für frühere Generationen gespielt hat",

das ich inzwischen schon wieder umdrehen würde:

"Für uns [...] ist die Welt schon wieder geheimnisvoll geworden [oder geblieben?] ... Wir sind über den [sowieso nur blöden] Atheismus hinaus gelangt zu einem Punkt, an dem das Thema schon wieder eine Rolle spielt [...]"

(wobei allerdings

  • die Gretchenfrage bleibt, auf die ein "Gebildeter" natürlich nur stotternd antworten kann,

  • und die Frage, ob man für oder gegen die etablierten Religionen und insbesondere "das" Christentum ist, bereits falsch gestellt ist; denn das weiß doch jeder:

"nothing frightens me more
than religion at my door"

 [John Cale] )

Genau das fehlt den Reduktionisten, die meinen, alles nur wissenschaftlich erklären zu können: das Staunen!