keine Ahnung von
,
aber großen Respekt vor
oder
wie Mathematik
gemacht wird
Wie einen die Bücherpfade so führen:
"Ein belgischer Badeort mit Geschichte und Glanz:
Hier kommen sie alle noch einmal zusammen, die im Deutschland der
Nationalsozialisten keine Heimat mehr haben. Stefan Zweig,
Joseph Roth, Irmgard Keun, Kisch und Toller,
Koestler und Kesten, die verbotenen Dichter. Sonne, Meer, Getränke – es könnte
ein Urlaub unter Freunden sein. Wenn sich die politische Lage nicht täglich
zuspitzte, wenn sie nicht alle verfolgt würden, ihre Bücher nicht verboten
wären, wenn sie nicht ihre Heimat verloren hätten. Es sind Dichter auf der
Flucht, Schriftsteller im Exil. "
(Quelle:
)
"Lwiw, deutsch Lemberg
[...] ist eine Stadt in der westlichen Ukraine mit etwa 730.000 Einwohnern."
(Quelle:
)
"Moses Joseph Roth (* 2. September 1894
in Brody [ca. 80 km von Lemberg entfernt], Ostgalizien, Österreich-Ungarn; † 27.
Mai 1939 in Paris) war ein österreichischer Schriftsteller und Journalist.
[...]
Nach seiner Matura (Abitur) im Mai 1913 übersiedelte Roth nach Lemberg,
in die Hauptstadt Galiziens, wo er sich an der Universität Lemberg
immatrikulierte.
[...]
Die Atmosphäre Lembergs war damals geprägt von sich
verschärfenden Spannungen, nicht nur zwischen den Nationalitäten (an der
Universität kam es zu Kämpfen zwischen polnischen und ruthenischen Studenten),
auch innerhalb des Judentums gärte die Auseinandersetzung zwischen Chassidismus,
Haskala (Aufklärung) und der immer stärker werdenden zionistischen Bewegung.
Inwieweit Roth tatsächlich in Lemberg studiert hat, ist nicht klar.
[...]
[Irmgard] Keun begleitete Roth auf seinen Reisen, unter anderem bei seinem
Besuch in Lemberg zu Weihnachten 1936
[...]
Die [nächste] Reise nach Polen
erfolgte im Februar/März 1937; er [= Joseph Roth] hielt auf Einladung des
polnischen PEN-Klubs eine Reihe von Vorträgen. Er unternahm bei dieser
Gelegenheit einen Abstecher ins damals polnische Lemberg, um seine Verwandten zu
besuchen, die alle Opfer der Shoa wurden.
[...]"
(Quelle:
)
Am Inhalt des Buchs ist zweierlei bemerkenswert:
Trotz 1. interessiert mich hier aber nur 2., also die kreative Atmosphäre
(... wobei im Folgenden der Holocaust durch Einfügungen dennoch immer präsent bleibt).
Die kreative Atmosphäre lässt sich in Lemberg (wie in Wien) gut an Cafés festmachen:
"In fast allen Memoiren über das Lemberg jener Zeit
taucht das legendäre »Zalewski« auf, wo es angeblich das beste Süßgebäck in ganz
Polen gab. Auch
[Hugo] Steinhaus
liebte das gediegene Teehaus, in dem er schon als junger Student viele Stunden
verbracht hatte. [...] Im Zalewski traf sich der Mathematiker gern mit
Kazimierz Twardowski
, dem Grandseigneur
der Lemberger Geisteswissenschaften.
[...]
Dass sich Steinhaus und
Twardowski im Teehaus Zalewski und nicht in ihren Büros trafen, hatte seine
Gründe. An die eminente Rolle der Cafés für das akademische Leben erinnert sich
der polnische Physiker
Leopold Infeld
, der zu Beginn der
1930er Jahre an der Universität Lemberg lehrte: »Die meisten meiner Kollegen
schliefen in ihren Wohnungen, arbeiteten an der Universität und lebten in Cafés.
Der Charme von Lemberg lag in seiner entspannten Atmosphäre, seinen schnellen
oberflächlichen Freundschaften, seinem geistreichen und spöttischen Getratsche,
vor dem niemand sicher war und das niemand zu ernst nahm. Über Jahre trafen sich
dieselben Leute zur selben Zeit am selben Ort in denselben Cafés, die Probleme
und affaires der anderen kennend und die ihrer Kollegen diskutierend, aber
niemals einander nach Hause einladend.«
[...]
An Gesprächsthemen wird es
dem Philosophen Twardowski und dem Mathematiker Steinhaus im Zalewski-Teehaus im
Sommer 1926 [...] nicht gemangelt haben.
[...]
Das wohl legendärste Café im Lemberg der 1920er und 1930er Jahre war das
»Atlas«, wo sich Literaten, Künstler und Musiker trafen. Anders als das
gediegene Teehaus Zalewski, in dem sich bereits ergraute polnische Professoren
wie Steinhaus und Twardowski wohlfühlten, war das Atlas-Café laut, übernational
und politisch eher links. Direkt am Marktplatz gelegen, hatte es fünf große
Räume: den Grauen, den Grünen und den Weißen Saal, wo der Wirt Edzio Talerski
die starken Obstler servierte, die er eigens für seine Gäste erfunden hatte. Im
sogenannten Fasssaal saß man auf Weinfässern und trank aus Bechern, die mit
Ketten an der Wand befestigt waren. Dann gab es den berüchtigten Künstlersaal,
wo sich Gäste nicht nur nächtelang betrinken, sondern auch künstlerisch austoben
konnten, indem sie die Wände bis unter die Decke mit Gedichten und unanständigen
Zeichnungen versahen. War ein Werk besonders gelungen, ließ sich damit die
Getränkerechnung begleichen, aber ebenso zwischenmenschliche Rechnungen, denn
Zielscheibe der oft boshaften Verse und Karikaturen waren andere bekannte Gäste,
die ihrerseits gepfeffert kommentieren durften. Ähnlich wie heute die sozialen
Hetzwerke im Internet, waren die Wände des Atlas die Klatschpresse der Stadt,
niemand kam ungeschoren davon. Doch keine Schmähung währte ewig, denn alle paar
Wochen ließ der Wirt die Wände wieder weiß tünchen, und das Spiel begann von
neuem. Natürlich war es nicht erlaubt, die Spottgedichte und Karikaturen
abzufotografieren und nach draußen zu tragen, denn es galt die Grundregel aller
verruchten Orte: What happens here stays here!
[...]
Am damaligen
Fredro-Platz, auch Platz der Akademiker genannt, gab es in den 1930er Jahren
zwei Kaffeehäuser, das
Schottische Café
und das Café Roma,
die direkt nebeneinander lagen. Im Roma trafen sich Künstler und Schauspieler.
[...] Oft ging es im Roma hoch her.
Da der Lemberger Boheme allerdings nicht die beste Zahlungsmoral nachgesagt
wurde, beschloss der Betreiber irgendwann, fortan nicht mehr anschreiben zu
lassen. Vielleicht war dies der Grund, warum die Mathematiker, die sich zunächst
im Roma trafen, bald ins benachbarte Schottische Café umzogen. Den Trubel
öffentlicher Orte nahmen sie in Kauf, denn ihre Büros in der beengten
Mathematischen Fakultät waren zu klein für Zusammenkünfte. Vom alten
Renaissancegebäude der Johann-Kasimir-Universität war es nur ein kurzer
Spaziergang über den Fredro-Platz zum Schottischen Café, einem idealen Ort, um
bei viel Kaffee, Zigaretten und Wodka über mathematische Probleme zu
diskutieren. Was die Cafés von Montmartre für die Literatur im Paris der
Jahrhundertwende gewesen waren, sollte das Schottische Café für die Mathematik
werden. Nach dem [Ersten] Weltkrieg gab es zwei dominante Mathematik-Schulen,
die französische und die deutsche. In Paris hatte Henri Poincaré einige
Jahrzehnte zuvor die theoretischen Grundlagen für moderne mathematische
Fragestellungen gelegt. Von deutscher Seite hatte David Hilbert von der
Universität Göttingen auf dem Zweiten Internationalen Mathematiker-Kongress in
Paris im Jahre 1900 eine Liste von 23 ungelösten Problemen vorgelegt, die
sogenannten Hilbertschen Probleme, an denen sich Mathematiker in den folgenden
Jahrzehnten abarbeiteten und die zum Teil bis heute ungelöst geblieben sind.
Auch polnische Mathematiker, die hauptsächlich an den Universitäten in Warschau
und Lemberg tätig waren, hatten interessante Fortschritte erzielt, doch
international blieb ihnen lange die Anerkennung verwehrt. Erst auf dem
Mathematiker-Kongress in Oslo 1936 gelang der Durchbruch, als
Stefan Banach
in einem plenären
Vortrag sein Konzept der Funktionsanalyse mittels vollständig normierter
Vektorräume vorstellte. So revolutionär war die Entdeckung, dass diese
Strukturen schon bald »Banach-Räume« genannt wurden und Banach zum weltweit
bekanntesten polnischen Mathematiker machten.
[...]
Ulams
Memoiren zeichnen ein lebendiges Bild der Lemberger Schule in den 1930er Jahren.
Darin beschreibt er, wie er noch als Gymnasiast seine ersten Vorlesungen bei
Banach besuchte: »Er erschien mir sehr jugendlich. Er war groß, blond, blauäugig
und etwas füllig. Seine Sprechweise erschien mir als direkt, kräftig und
vielleicht zu simpel (was zu einem gewissen Grade eine bewusst forcierte
Sprechart war, wie ich später feststellte). Sein Gesicht drückte normalerweise
gute Laune aus, gemischt mit einer gewissen Skepsis. (…) Allgemein waren seine
Vorlesungen nicht besonders gut vorbereitet; gelegentlich machte er Fehler oder
ließ Dinge aus. Es war aber höchst stimulierend, ihn bei der Arbeit an der Tafel
zu beobachten, wie er mit Problemen rang und es doch immer schaffte, zum
Abschluss zu kommen. (…) In mathematischen Diskussionen oder in kurzen
Bemerkungen zu allgemeinen Themen konnte man sofort seine große Geistesstärke
spüren.« Banach pflegte einen ungewohnt lockeren, entspannten Umgang mit seinen
Studenten. Hierarchiedenken und Standesdünkel waren ihm fremd. Gern nahm er an
Wanderausflügen in die Umgebung von Lemberg teil und ließ sich auf Teepartys
sehen. Als er einmal auf eine studentische Karnevalsfeier im Ballsaal des Hotel
George eingeladen wurde, überzeugte er mehrere Kollegen mitzukommen. Auch die
Ehefrauen waren dabei und brachten selbstgebackenen Kuchen mit. Bis zum frühen
Morgen wurde getrunken und getanzt. Kein Wunder, dass es auch in Banachs
Vorlesungen nicht immer ernst zuging, wie sich einer seiner Studenten erinnert:
»Banach hatte gerne Spaß (…). In den Mathe-Vorlesungen um acht Uhr morgens
erschien Banach manchmal im Frack, was ihm ziemlich gut stand und wie einen
jungen Diplomaten aussehen ließ. Ein Professor, der blankgewichste Schuhe trug,
während die flatternden Flügel seines Fracks bei jeder Bewegung mehr
Kreidepulver aufnahmen, und dessen glänzend weißes Hemd mit der schwarzen Tafel
kontrastierte, gab zumindest ein einmaliges Bild ab. Manchmal fiel uns auf, dass
der Professor weder sein Haar gekämmt noch sich rasiert hatte.« Solchen
Vormittagen konnten auch schon mal heftige Besäufnisse mit Kollegen
vorausgegangen sein. Wenn das Schottische Café schloss, suchte Banach manchmal
die ständig geöffnete Cafeteria am Bahnhof auf, um seine Berechnungen bis in die
Morgenstunden fortzusetzen. Er liebte es, mit einfachen Arbeitern zu
Fußballspielen zu gehen, und schockierte die Lemberger Bourgeoisie mit seiner
unbekümmerten Art, sonntags gelegentlich im Unterhemd durch die Straßen zu
spazieren. Bürgerliche Konventionen bedeuteten ihm nichts. So festigte sich über
die Jahre der Ruf eines zugänglichen und leicht exzentrischen Mannes, der aber
seine Arbeit sehr ernst nahm und an dessen mathematischem Können nie Zweifel
aufkamen. Beide Seiten seiner Persönlichkeit, das Genie und das Gesellige,
verbanden sich in den vielen Stunden, die Banach mit seinen Kollegen im
Schottischen Café zubrachte. Ulam entsinnt sich: »Er hatte Freude an langen
mathematischen Diskussionen mit Freunden und Studenten. Ich erinnere mich an
eine Session mit
Mazur und
Banach im Schottischen Café, die 17 Stunden dauerte, ohne Unterbrechung außer
für Mahlzeiten. (…) Dabei gab es immer wieder kurze Ausbrüche von Unterhaltung,
einige Zeilen wurden auf den Tisch geschrieben, einige Teilnehmer lachten kurz
auf, gefolgt von langen Perioden der Stille, in denen wir nur Kaffee tranken und
einander leer ansahen. (…) Diese langen Sessions in den Cafés mit Banach, oder
öfter mit Banach und Mazur, waren wahrscheinlich einmalig. Die Zusammenarbeit
hatte ein Ausmaß und eine Intensität, die ich nie übertroffen gesehen habe.«
[...]
Stanisław Mazur, der Dritte im Bunde, hatte bei Banach über
Funktionsanalyse promoviert und führte den vier Jahre jüngeren Ulam in diese
neue Theorie ein. Die beiden Stanisławs wurden enge Freunde. Ein Foto von 1935
zeigt Ulam und Mazur auf einer Lemberger Straße, gekleidet in eleganten Anzügen
und mit hochgebundenen Krawatten. Ulam hat einen Trenchcoat über den Arm
geworfen, Mazur trägt einen breitkrempigen Hut, der ihn wie einen Chicagoer
Gangster aussehen lässt. Selbst beim entspannten Spaziergang wirken ihre
Gesichter hochkonzentriert. Den älteren Mathematikern Steinhaus und Antoni
Łomnicki [am
4. Juli 1941, kurz nach dem deutschen Einmarsch, zusammen mit 25 anderen
polnischen Professoren beim
"Lemberger Professorenmord" erschossen] war das Schottische Café oft zu laut und gewöhnlich. Sie bevorzugten
das Zalewski. Nur gegen Abend, auf dem Weg nach Hause, ließen sie sich blicken
und schalteten sich in Diskussionen ein. Was die Lemberger Schule im Vergleich
mit Paris oder Göttingen ausmachte, war die Beschäftigung mit den Grundfragen
der Mathematik, also dem Wesen und der Bedeutung von Räumen, Masse, Maßen und
Wahrscheinlichkeit. »Wenn man die Mathematik als einen Baum betrachtet«,
schreibt Ulam, »befasste sich die Lemberger Gruppe mit dem Studium sowohl der
Wurzeln und des Stamms als mit Ästen, Zweigen und Laub.« Auf diese Weise
entwickelte sie unter anderem das, was heute als Spieltheorie bekannt ist. Die
Tische im Schottischen Café hatten helle Marmorplatten, auf denen Banach und
seine Kollegen alle Formeln mit Bleistift schrieben, Fehler ausradierten und
Korrekturen kritzelten. Was am Ende des Tages übrig blieb, mussten die Kellner
wegschrubben. Dabei gingen oft komplizierte Lösungen, im Rausch gefunden und am
nächsten Tag nicht zu rekonstruieren, für immer verloren wie verwischte Mandalas
– so etwa der Beweis eines wichtigen Theorems, den Banach, Ulam und Mazur in
ihrer legendären siebzehnstündigen Session führen konnten. Als sich auch der
Cafébetreiber über das tägliche Putzen der Tische beschwerte, besorgte Łucja
Banach im Juli 1935 ihrem Mann ein großes gebundenes Notizheft, das Schottische Buch
, in
das fortan alle Probleme und Lösungen eingetragen wurden. Über Nacht wurde es
hinter dem Tresen des Cafés aufbewahrt. Die ersten 110 Probleme des Schottischen
Buches wurden bis Oktober 1935 eingetragen, alle Lemberger Mathematiker
beteiligten sich als Autoren: Banach, Steinhaus, Ulam, Mazur,
Łomnicki,
Józef Schreier
[Opfer des
Holocausts],
Władysław Orlicz ,
Herman Auerbach [Opfer des Holocausts],
Juliusz Schauder
[Opfer des Holocausts] und
Stanisław Ruziewicz
[beim "Lemberger
Professorenmord" erschossen]. Auch der Warschauer
Mathematiker
Kazimierz Kuratowski
, der von 1927 bis 1934 in Lemberg gelehrt
hatte und noch immer gern zu Besuch kam, schrieb ins Buch. Bis Ende Mai 1941,
als das Buch vor den deutschen Invasoren versteckt wurde, trug Banach vierzehn
Probleme ein, Mazur 22 und Steinhaus neun. Den Rekord hielt Ulam mit vierzig
alleinigen und 22 gemeinsamen Einträgen. Wer ein Problem eintrug, setzte zum
Ansporn der Kollegen auf die Lösung oft eine Prämie aus, zumeist ein Bier oder
eine Flasche Wein, manchmal aber auch ein Mittagessen. Steinhaus, ganz der
Patrizier, lobte einmal 100 Gramm Kaviar aus und ein anderes Mal ein Abendessen
im Hotel George. Für die Lösung des Problems Nummer 153, den Beweis von
Schauderbasen in getrennten Banachräumen, versprach Mazur sogar eine lebendige
Gans. Trotz der verlockenden Prämie blieb alles Grübeln vergeblich. Selbst der
Erfinder der Schauderbasis, der 1899 in Lemberg geborene jüdisch-polnische
Schauder, konnte das Problem nicht knacken. (Es sollte erst 1972 vom
schwedischen Mathematiker Per Enflo gelöst werden, der daraufhin nach Warschau
reiste und sich von Mazur, der den Krieg überlebt hatte und inzwischen im
Pensionsalter war, eine lebendige Gans überreichen ließ.
) Auch ausländische
Besucher, die von der Existenz des Schottischen Buchs erfahren hatten, kamen ab
1936 ins Schottische Café, notierten zu lösende Probleme und versprachen
Prämien. Der Mathematiker
Rolin Wavre lobte ein Fondu à la crème in Genf aus, A.
J. Ward ein Lunch bei Dorothy’s in Cambridge. [...] Der französische Mathematiker
Henri Lebesgue ,
der im Frühjahr 1938 in Lemberg die Ehrendoktorwürde erhielt, wobei Steinhaus
und Banach sicher beide an ihr erstes Treffen in Krakau gedacht haben werden,
ist nicht im Buch vertreten – dafür aber
John von Neumann
[der wohl berühmteste
der hier genannten Mathematiker], der im Juli 1937 ein Problem in deutscher
Sprache eintrug und eine »Flasche Whiskey des Maßes > 0« in Aussicht stellte.
[...] Bei seinem
letzten Aufenthalt im August 1939, so schreibt Ulam in seinen Memoiren,
unterhielt er sich mit Mazur, was im Falle eines Krieges mit dem Schottischen
Buch zu tun sei. Im Falle einer Bombardierung der Stadt, habe ihm Mazur
geantwortet, werde er es in eine Kiste packen und vergraben. »Wir legten sogar
einen Ort fest, nahe einem Torpfosten auf einem Fußballfeld am Rande der
Stadt.«“
(Quelle:
. Die Bilder wurden von mir [H.St.]
eingefügt, um die Mathematik menschlicher zu machen.)
Leider konnte ich nicht herausfinden, weshalb das „Schottische Café“ so hieß. Gab es da besonders guten Whiskey?
Zu einer Kopie des originalen Schottischen Buchs siehe hier:
Noch sehr einfach lässt sich herausfinden, dass polnisch ist und eben "Schottisches Buch" bedeutet.
Schwieriger wird's schon dadurch, dass die Einträge in diesem Buch zwar großteils in Polnisch, aber auch in Russisch (das ich ebenfalls nicht beherrsche) geschrieben sind
(und in einigen weiteren Sprachen).
Aber das ist nicht das eigentliche Problem, denn es gibt ja eine komplette Übersetzung ins Englische durch Stanisław Ulam
(vgl. und darin insbesondere auch Ulams Vorwort).
Nehmen wir nur mal den ersten Eintragung im Schottischen Buch:
polnisch:
englisch:
Selbst im Englischen verstehe ich da nicht, worum es überhaupt geht - und genau das meine ich mit
keine Ahnung von
im Titel: ich habe keinen blassen Schimmer von den diversen Eintragungen im Schottischen Buch, und zwar
nicht nur von den fortgeschrittenen Problemen ("so metrised that it will become complete and compact"),
sondern sogar von den Grundlagen (was ist "a metric space"?).
Dabei ist 1. kein Wunder: wenn nichtmal der große Banach die Lösung des von ihm geschilderten Problems kannte
(und es gerade deshalb ins Schottische Buch geschrieben hat),
wie sollte ich kleiner Mathelehrer da 40 Jahre nach meinem Studium auch nur das Problem verstehen?!
Ich bin mir nichtmal sicher, ob ich es in meinem Studium verstanden hätte - und in diesem Studium immerhin die nötigen Grundlagen ("metric space") durchgenommen habe
(immerhin aber kommt mir der Name "Banach" aus meinem Studium bekannt vor; ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass da das "Schottische Buch" [oder gar seine schnöden "menschlichen" Hintergründe] nicht vorkam[en];
nebenbei: für Leute, die schlauer sind als ich, sei hier kurz auf das Buch verwiesen, in dem auch die Forschungsgeschichte nach Abschluss des "Schottischen Buchs" [inkl. vieler Problemlösungen] dargestellt wird).
Es vergrößert meinen Respekt vor dem "Schottischen Buch" nicht, dass ich es nicht verstehe, aber es verringert meinen Respekt auch nicht: vor großen wissenschaftlichen (im vorliegenden Fall Gemeinschafts-)Leistungen habe ich immer allergrößten Respekt:
großen Respekt vor
Und ich halte es allemal schon für eine große Leistung, fortgeschrittene Probleme
(noch ohne Lösungen)
aufzustellen, weil sie die weitere Forschung anregen.
Genau solchen Respekt vor "unbegreiflichen" großen kulturellen Leistungen habe ich aber Schülern immer mal wieder vermitteln wollen.
Ein Beispiel:
als ein Schüler mal sagte, dass er stolz sei, ein Deutscher zu sein, und ich nachfragte, auf was er denn da z.B. stolz sei, nannte er an erster Stelle Goethe, worauf ich den Schüler gefragt habe, ob er denn irgendein Werk von Goethe kenne. Der Schüler sagte dann, dass er in einem Vorjahr im Deutschunterricht mal den „Erlkönig“ durchgenommen habe. Auf meine weitere Frage, wie er diese Ballade denn finde, antwortete er kurz und knapp: „scheiße“.
Sein Stolz war also kontraproduktiv, da er dann ja auf Scheiße stolz war.
Oder im Grund war es ein leerer Stolz, denn er wusste ja nichts Positives zu sagen, auf das er stolz war.
Was vergibt man sich denn eigentlich, wenn man große kulturelle Leistungen anerkennt, auch wenn man sie nicht versteht?
(Mag sein, dass man sogar stolz auf sie sein "darf", obwohl ich nicht ganz verstehe, wie man auf etwas stolz sein kann, das man nicht selbst geleistet hat. Aber gibt es vielleicht einen angeborenen Stolz auf die eigene Gruppe - und deren Leistungen?
Dass Schüler Goethe "scheiße" finden, liegt aber wohl meistens daran, dass sie den ihnen ja ansonsten unbekannten Goethe [bzw. sein Werk] mit seiner oftmals abstoßenden Vermittlung im Deutschunterricht oder gar mit dem schlechten Deutschlehrer verwechseln.
Aber ist es denkbar, dass französische Schüler Molière oder englische Schüler Shakespeare "scheiße" finden?
Allerdings haben die auch [leider?] keine Probleme mit ihrem Nationalstolz.)
Wie oben bereits angedeutet, habe ich beim „Schottischen Buch“
zwar auch Respekt vor den Leistungen der einzelnen Beitragenden,
vor allem aber vor der Gemeinschaftsleistung
aller Beitragenden.
Dabei ist das "Schottische Buch" wohl kaum für die Nachwelt geschrieben worden, sondern war vor allem Kommunikationsmedium innerhalb der lemberger Mathematikergruppe gedacht. Ein wenig mag dabei auch Angeberei im Spiel gewesen sein ("schaut nur, was für esoterische Probleme ich aufzeigen kann"), vor allem aber war jede Eintragung
(schließlich sind wir nicht mehr im 17. Jahrhundert, in dem Mathematiker gerne Probleme ["Denksportaufgaben"] an Kollegen verschickten, für die sie [die Problemsteller] längst eine Lösung hatten),
(was ja immerhin bedeuten könnte, dass der Problemlöser schlauer als der Problemsteller war;
"helfen" könnte z.B. bedeuten, dass jemand ein wichtiges Buch empfiehlt oder eine Idee für einen Zwischenschritt zur Lösung beiträgt).
Aufschlussreich zum Entstehen von Wissenschaft sind folgende Passagen aus :
"Bisweilen gesellte sich auch der junge
Arzt
Ludwik Fleck
[später im Lemberger
Ghetto und danach in mehreren KZs] zu ihnen, der zu
Steinhaus’ engen Freunden gehörte und gern mit Twardowski über philosophische
Aspekte der Medizin diskutierte. Seine Erfahrungen in Twardowskis Zirkel
inspirierten Fleck dazu, eine wissenschaftstheoretische »Lehre vom Denkstil und
Denkkollektiv« zu entwickeln. Darin sinnierte Fleck darüber, wie das soziale und
kulturelle Umfeld eines Naturwissenschaftlers dessen Arbeitsergebnisse
beeinflusst. Anstatt naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie bisher als
objektive Wirklichkeitsdeutungen zu betrachten, erschien es Fleck sinnvoller,
ihre mögliche Abhängigkeit von kulturellen Wahrnehmungen und Herangehensweisen
zu untersuchen. Wie in den Geisteswissenschaften spielten hierbei für Fleck auch
ästhetische Konzepte eine Rolle. Noch war dieser epistemologische Ansatz nicht
ausgereift, doch Jahrzehnte später sollte er Fleck weltberühmt machen.
[...] hatte Fleck sein Hauptwerk, »Die Entstehung und
Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache«
, inzwischen fertiggeschrieben. In dieser Einführung in die Lehre vom Denkstil
und Denkkollektiv, die heute weltweit zur Pflichtlektüre jedes Studenten etwa
der Physik gehört [vgl.
PS], legte Fleck dar, wie sehr auch vermeintlich harte
Naturwissenschaften vom sozialen und kulturellen Umfeld eines Forschers abhängen
und dessen Erkenntnisse beeinflussen. Je nach Kontext und vorherrschendem
Denkstil führten die Wissenschaften, als kulturelle Praktiken begriffen, zu
einer Vielfalt von Wirklichkeitsentwürfen. [...] In anderen Forschungsbereichen hingegen könne die
Kooperation innerhalb eines Denkkollektivs verschiedener Wissenschaftler,
angespornt von einer »Stimmungskameradschaft«, erstaunlich positive Ergebnisse
zeitigen. Ähnlich wie Heisenbergs Unschärferelation, die etwa zur selben Zeit
entstand, relativierte Flecks Kontexttheorie die bis dahin gültige Vorstellung
einer objektiven naturwissenschaftlichen Wahrheit. Damit bereitete Fleck den
Boden für die Paradigmentheorie, die dominierende Wissenschaftstheorie des 20.
Jahrhunderts, die der amerikanische Physiker
Thomas Kuhn in den 1960er Jahren
entwerfen sollte . Es ist unschwer zu erkennen, dass sein eigenes kulturell
fruchtbares Milieu Fleck zu diesen epistemologischen Einsichten verhalf. Im
Lemberg der Zwischenkriegszeit tauschten sich Naturwissenschaftler mit
Geisteswissenschaftlern, Literaten und sogar Künstlern ungewöhnlich intensiv und
interdisziplinär aus, wobei viele verschiedene Ideen, Stile, Sichtweisen,
Methoden und Arten der Wahrnehmung zirkulierten. In einem Brief an Hugo
Steinhaus beschrieb Fleck diese Vorgänge einmal so: »Wenn die Menschen
zusammenkommen und anfangen, Worte und Sätze intensiv zu mischen, entsteht dann
vielleicht doch irgendeine neue Kombination, die sich später als nützlich
erweisen wird. Vielleicht erkennt man sie nicht sofort, jemand nimmt sie dann
mit, und sie wird irgendwo und irgendwann reifen.« Aus heutiger Sicht setzt
Flecks Werk der
einzigartigen, kurzlebigen Lemberger Moderne ein bleibendes Denkmal.
[...]
Kein deutscher Mathematiker kam jetzt nach Lemberg, nur Soldaten, Henker und
Schreibtischtäter.
[...]"
All das, so behaupte ich, gilt genauso auch für Mathematiker
(exemplarisch diejenigen im Schottischen Café):
Den Alltag eines forschenden Mathematikers könnte man sich also so vorstellen:
"Genie ist | 1 % Inspiration | und | 99 % Tanspiration." | (Thomas Alva Edison) | |
Cafeteria |
Schreibtischarbeit mit Papier und Stift (Andrew Wiles; s.u.) |
Aber alle Transpiration hilft nicht, wenn es keine Inspiration gibt.
(... wobei Inspiration auch durch einen Geistesblitz / eine Eingebung / einen Musenkuss möglich ist.
Nebenbei:
Ich höre schon den Einwand von Mathematikern, dass ihre Erkenntnisse
(die einzige mir bekannte Ausnahme ist da Andrew Wiles , der einen Großteil seines Beweises von in selbstgewählter Isolation erstellt und doch durch Lektüre [auch eine Art der Kommunikation] auf der Vorarbeit vieler anderer Mathematiker aufgebaut hat),
Wie naiv!
Ansonsten siehe
.
Wann aber erleben Schüler die Mathematik mal als Gemeinschaftsarbeit und eingebettet in die umgebende Kultur?
(... wobei ich mit "eingebettet in die umgebende Kultur"
wechselwirken
[vielleicht macht z.B. eine (arg allgemein gesagt:) veränderte Wahrnehmung der Welt überhaupt erst neue mathematische Sichtweisen möglich.]
Das Problem ist aber wohl, dass solche Wechselwirkungen sehr diffus und multikausal
[hat Descartes wirklich das Fühlen und Denken der heutigen "Durchschnittsmenschen" beeinflusst, ist also zu unserem Irrtum geworden?],
und deshalb sind diese Wechselwirkungen kaum nachweisbar und somit leicht zu übersehen oder sogar zu leugnen.)