„Okay, der Song beginnt und er bekommt ein Thema.
Und dieses Thema, es ist
Holz.“
bzw.
„sei x eine natürliche Zahl“
Ziel all meines
Schreibens hier auf meiner Internetseite ist es zu zeigen, dass eine
Verbesserung der Schule im Allgemeinen und des Mathematikunterrichts im
Besonderen
nicht durch einsame kultusministerielle Beschlüsse
(z.B. die Einführung eine bundesweiten Zentralabiturs)
erreicht werden kann
(solche Beschlüsse sind nur purer
Aktionismus und
sogar kontraproduktiv; allerdings bedürfte es eigentlich tatsächlich
enormer
"struktureller" Reformen, die weit über das hinausgehen
würden, was die
Kultusbürokratie zu denken fähig ist),
sondern an den 100 000 Details des
alltäglichen Unterrichts ansetzen muss
(wozu es allerdings nötig
ist, Schule frohgemut neu zu denken, statt sie resigniert oder stumpf als
unveränderbar bzw. bereits „beste aller möglichen [pädagogischen] Welten“
hinzunehmen).
Man muss also bei den konkreten 100
000 Unterrichtssituationen und -themen ansetzen, und
Verbesserungsvorschläge haben sich dort zu bewähren.
Und so versuche ich
(natürlich
aussichtslos)
seit Jahren, die 100 000 Details
(und es werden
immer neue deutlich)
abzuarbeiten.
Dabei ist mir kein scheinbar
nebensächliches Detail zu klein - also auch nicht das Wörtchen „sei“ in „sei x
eine natürliche Zahl“.
Es hat allemal Vorteile, ab und zu über den Tellerrand
der Mathematik hinaus zu schauen:
bietet die sonstige Realität
massenhaft Veranschaulichungsmöglichkeiten für mathematische Sachverhalte,
bringt einen die sonstige Realität
(im Folgenden ein
Popmusiktext)
manchmal überhaupt erst
(und sei‘s durch freie
Assoziation, also scheinbar umlogisch)
auf Gedanken zur Mathematik.
(Bzw. dem Mathematiker ist alles [also
auch ein Popmusiktext] potentieller Anlass für Mathematik. Z.B. sieht
der Laie in vielleicht "nur"
Schönheit, der Mathematiker
aber auch [!] eine logarithmische Spirale - und damit den mathematischen
Grund für die
Schönheit?
[... aber noch nicht den biologischen: wie die Nautius-Schnecke ihr Haus so spiralförmig baut,
nämlich immer um ihr bisher bestehende Haus herum und gleichzeitig immer
- zum Wachstum der Schnecke passend - größer werdend.])
Sicherlich müssen in der Schulmathematik auch außermathematische Anwendungen der
Mathematik durchgenommen werden, denn der eine oder andere Schüler wird
ja vielleicht später ein Studium in dieser Richtung aufnehmen. Aber vor
lauter modischer Anwendungsorientierung kommt mir derzeit doch oftmals
das „Herz“ der Mathematik, nämlich der allgemeingültige Beweis, zu kurz.
Und selbst
wenn im
Unterricht ab und zu etwas bewiesen wird, wird doch
(vielleicht abgesehen von
Leistungskursen)
fast nie eine explizite
(wenn auch sicherlich noch
sehr vereinfachte)
„Beweistheorie“ erarbeitet:
wie kommt man zu Vermutungen,
was sind und welche Aussagekraft haben eine
Vermutung und eine Behauptung,
was ist ein Beweis und eine Widerlegung,
was bedeutet „sei x eine natürliche Zahl“ (!) und wo taucht dieser
Satz üblicherweise auf (s.u.),
welche Beweis- und Widerlegungsverfahren gibt es,
was ist ein mathematischer "Satz"?
Und last but not least: es ist doch überaus erstaunlich und
faszinierend, dass die Mathematik (als einzige Wissenschaft) überhaupt Beweise
für unendlich viele (alle) Fälle in relativ kurzer (endlicher!) Zeit führen kann.
Die Kritik an Popmusiktexten, sie bestünden nur aus
(unglücklichem) Verliebtsein und Tralala, greift natürlich zu kurz:
sind das nunmal die brennenden Themen der Haupt-Zielgruppe, nämlich von
Jugendlichen,
wird mit solcher Kritik verkannt, dass die menschliche
Stimme in Liedern oftmals „nur“ als Melodie- und (insbesondere im Hip Hop)
Rhythmus-Instrument ganz eigener Art eingesetzt wird, der gesungene Text also häufig
herzhaft egal ist und genauso gut
„Wop bop a loo bop a lop bom bom!“
lauten
könnte
(die Jungs von ABBA haben mal gesagt,
an einem Song-Text sei sowieso nur der bis zum Erbrechen beim
ohrwurmhaften Kehrvers wiederholte Song-Titel wichtig: dieser
Titel müsse leicht verständlich sein [z.B. „Dancing Queen], damit
auch noch der hinterletzte Non-native-english-speaker ihn im
Plattenladen aufsagen könne; und wenn einem gar nichts mehr
einfällt, wählt man z.B. den Song-Titel „Chiquitita“
[man muss ja wahrhaft nicht wissen, dass „Chiquitita“ auf
Spanisch „meine Kleine“ bedeutet]).
Ab und zu versteigen sich Popmusik-Texte aber doch zu geradezu
goetheschen Höhen. Drei Beispiele:
„der Steinbock hätte fast den festen Stand verlorn,
er
dachte fürn Moment, er wär am Matterhorn
[...]
der Auerhahn weiß heut'
noch, wie's gewesen ist,
als du mich erst aufs Auge, dann aufs Ohr
geküsst“
„Ich
träume immerzu von einem Liebeslexikon, [...] es läuft nichts in der
Richtung, deshalb träum ich ja davon“
„Unverständlich, warum heutzutage
Nicht jeder Besitzer eines
wunderbaren Exemplares Holz sein will“
Am letztgenannten Lied von den 257ers interessieren mich nun aber nicht die
soeben zitierten Zeilen, sondern sein Anfang
„Okay, der Song beginnt und er bekommt ein Thema [...]
Und das
Thema heute, es heißt Holz“.
.
(Schade, dass der Kehrvers „ich und mein Holz“ schon
vorher gesungen, das Thema „Holz“ also schon vorweg verraten
wurde.)
Hier geschieht etwas, was zwar durchaus
öfters in moderner („Hoch“-)Literatur vorkommt, aber meines Wissens bislang
nicht in der Popmusik:
der Sänger
singt nicht nur einen
Text,
sondern spricht gleichzeitig über diesen Text, und zwar sozusagen
in Echtzeit:
im selben Augenblick, in dem der Text beginnt,
sagt der Sänger auch, dass der Text beginnt.
Der Songtext
„handelt“ also anfangs von sich selbst
(„die Katze beißt sich in den
eigenen Schwanz“),
und sowas nennt man hübsch abgehoben
„selbstreferentiell“.
(Nebenbei: es gibt wohl nur eine
[allerdings eher unwahrscheinliche]
Möglichkeit, dass der Song-Anfang
[was für eine schnöde Vorbedingung für Kunst:]
realistisch ist - oder genauer war:
die Band [oder das „ich“ = der spätere Sänger?] hatte in einem ersten Schritt die Song-Melodie
[noch ohne den Text]
schon fertig geschrieben
und musste dieser Melodie dann in einem zweiten Schritt noch einen Text verpassen.
Da dann mag sich der [einzelne?]
Textautor [das „ich“ = der Sänger?] tatsächlich gedacht und dann auch
in den Song-Text geschrieben haben:
„Okay, der Song beginnt und er bekommt ein Thema [...]
Und das
Thema heute, es heißt Holz“
[Für den Song-Text gab es dann nur eine
rein formale, nicht aber inhaltliche Bedingung: er musste rhythmisch
zur bereits fertigen Musik passen.]
Wir können uns den Text-Autor also am Schreibtisch vorstellen, wie er aus
Lautsprechern immer wieder die fertige Melodie hört und sukzessive den
Text dazu schreibt:
Oder da saß immer mal wieder die ganze Band
zusammen
[vermutlich bei der einen oder anderen Flasche Bier]
und hat
[zur bereits fertigen Melodie]
den Text geschrieben: solch ein Text entsteht ja nicht in einem „Abwasch“, sondern indem immer wieder Ideen
[und im vorliegenden Fall abstruse Einfälle]
„nachwachsen“.)
Es lohnt sich
(im Hinblick auf unser
mathematisches Thema, also „sei x eine natürliche Zahl“!),
den Anfangssatz des Liedes „Holz“ haarklein
auseinanderzuklamüsern:
„Okay“ könnte hier schlichtes
Einverständnis, aber auch „tja“ bedeuten: eine Art Resignation, dass der Song
von selbst (von sich aus) beginnt (Fachbegriff: Vermenschlichung) und dem Sänger
gar keine andere Wahl läßt, als mitzumachen.
„[der Song] bekommt ein
Thema“: das hört sich ein wenig an wie „was kommt, wird gewickelt“, also „wenn
ein neugeborenes Kind da ist, liebt man [?] es auch“. Indirekt wird damit aber
auch gesagt: „ein Neugeborenes braucht Liebe“. In unserem Zusammenhang heißt
das: „[je]der Song braucht ein Thema“: es ist nunmal so, dass Songtexte ein (?)
Thema brauchen, nämlich eben z.B. (unglückliches) Verliebtsein (s.o.). Hier
klingt es aber so, als wenn dieses Thema absolut beliebig wäre
(und
vielleicht auch völlig egal, weil Songtexte ja [s.o.] nebensächlich sind).
Genauso gut hätten die 257ers
aber auch die Themen „Beton“, „Meerrettich“ oder „Freifahrschein“ wählen können.
Dabei kann man sich streiten, ob „Holz“
ein Nonsensethema
ist
(und damit der Schwachsinn vieler Popmusiktexte auf die
Spitze getrieben wird)
oder ein tatsächlich besonders faszinierendes
Material, das endlich auch mal Eingang in die Popmusik erhalten darf / muss
(und ich vermute, dass mit dem 257ers-Song das Material Holz überhaupt zum ersten Mal Thema eines Popsongs geworden ist).
„Und das Thema heute [...] heißt Holz“: „heute wählen wir zur
Abwechslung mal das Thema »Holz«
[gestern hatten wir das Thema »Holland«
,
und morgen wählen wir vielleicht mal das Thema »Desoxyribonukleinsäure«"):
das Kind braucht nunmal einen [beliebigen]
Namen“:
„Es wäre verlogen, dem Wechselbalg [einem neugeborenen Kind]
falsche Elternliebe vorzuheucheln. Lassen Sie es also die ganze Wucht Ihrer
Abneigung spüren [...] Schon bei der Namensgebung können Sie dafür sorgen, daß
seine Existenz zur Hölle wird. Nennen Sie das Kind einfach >Joghurt< [...], das
wird ihm eine Lehre sein [...]“
(Quelle:
)
.
Der Indikativ „heißt“
(wohl besser: ist) hat dabei etwas Apodiktisches:
Mittels Konjunktiv ein
bisschen vornehmer gesagt:
„Und das Thema heute [...] sei Holz.“
(Mit diesem „sei“ bin ich aber schon ansatzweise bei meinem [mathematischen]
Thema.)
Der Konjunktiv „sei“ erinnert aber an „Und Gott sprach, es
werde
Licht“:
Das „sei“ bzw. „werde“ ist also ein
Schöpfungsakt: im selben Augenblick, in dem Gott „es werde Licht“
sagt, entsteht auch das
Licht, d.h. die Zukunft in „werde“ tritt sofort ein.
Übertragen auf
die Wissenschaft (und damit auch Mathematik) heißt das: die Wissenschaft
ent-deckt nicht nur die bereits fertige Realität, sondern sie
erschafft sie auch
bzw. geradezu gottgleich
(und Wissenschaft ist manchmal ja wirklich
arrogant:
[das
mathematische Fachchinesisch auf diesem T-shirt sind die maxwellschen
Gleichungen des Elektromagnetismus‘])
Der
Konjunktiv „sei/werde“ ist also auch ein Befehl und hat gleichzeitig etwa
Herablassendes an sich:
Des weiteren ist es bemerkenswert, dass der Sänger „Und das Thema heute, es ist Holz“ statt bloß
„Und das Thema heute ist Holz“ singt: beim Einschub „ , es“ scheint er ein wenig
zu zögern, also noch zu überlegen, welches der vielen
möglichen Themen er wählt
- und dann erst entscheidet er sich plötzlich für das Thema „Holz“
(vielleicht also für das Erstbeste, was ihm durch den Kopf geht,
z.B. weil er gerade auf die hölzerne Schreibtischplate schaut).
Im
selben Augenblick, in dem die Menge aller möglichen Themen rabiat auf das
eine
Thema „Holz“ eingegrenzt wurde,
sollte (fast) nur noch von Holz die
Rede sein (eine enorme thematische Eingrenzung),
ergeben sich aber
innerhalb dieses einen Themas „Holz“ potentiell
unendlich viele Freiheiten bzw.
(hier offensichtlich halb-ironisch gemeinte)
Gesichtspunkte
(auf die man ohne die thematische
Eingrenzung wohl nie gekommen wäre; die Festlegung eines Themas bzw.
Aspekts ist also Fluch und Segen zugleich):
„Holz sieht sehr schön aus, Holz ist vielseitig [...]
Du kannst es verbrennen, du kannst es sägen [...]
Ja, wenn du es verbrennst, dann spendet es Wärme [...]
Aber wenn du es sägst, dann nicht [...]“,
„weil man es
sich wunderschön ins Wohnzimmer stellen kann, nein
Man kann es auch
lackieren“,
„Mit Holz kann man 'n voll guten Staudamm bauen
Und wenn der Staudamm bricht, ihm auch vertrauen
Denn das ist crazy,
dieses Zeug rettet nämlich [als Holzboot] Leute“,
„Let us take some Holz for
Gebrauchsgegenstände“
„Es beginnt ein neues Leben, wenn ein Baumleben
endet“.
Bemerkenswert ist zuguterletzt das immer wiederkehrende
„ich und mein Holz“
(vgl. die unbescheidene Reihenfolge „ich und
Einstein“):
Da ist das Ich der Hexenmeister des Holzes („mein“)
(allerdings wird an anderer Stelle -
sicherlich ironisch - fast schon eine Liebesbeziehung zum Holz
angedeutet: "hdgdl" = hab dich ganz doll lieb; dazu passend erhält das
Holz dann auch den Kosenamen "Holzi").
Übertragen auf „x sei eine natürliche Zahl“ heißt das:
so wie ein
Popsong ein Thema braucht,
ist auch der Mathematiker an Vorgaben gebunden: er
kann
(jetzt allerdings anders als die Popmusik) nicht irgendwas
definieren (erschaffen),
sondern seine Wahl erfolgt in den Grenzen von zwei
Vorbedingungen:
darf er nur mathematische „Gegenstände“ benutzen
(also z.B. nicht Holz),
muss seine Festlegung (hier
„natürliche Zahl“) zu seinem bereits vorhandenen jeweiligen
Thema passen: wenn
er „sei x eine natürliche Zahl“ definieren will, will er anscheinend irgendeine
Eigenschaft der natürlichen Zahlen
(also von 1, 2, 3, 4, 5 ...)
beweisen.
Dennoch hat „sei x eine
natürliche Zahl“ die oben gezeigte Arroganz eines Schöpfungsakts: der
Mathematiker zitiert sich „eben mal kurz“ sämtliche natürlichen Zahlen herbei -
und sondert alle anderen Zahlen aus
(also die [nicht-natürlichen] Brüche, irrationalen Zahlen
sowie die [nicht-natürlichen] komplexen Zahlen).
Das hat etwas von „divide et impera“:
„Divide et impera (lateinisch für teile und herrsche) ist eine Redewendung (im
lateinischen Imperativ); sie empfiehlt, eine zu besiegende oder zu beherrschende
Gruppe (wie z. B. ein Volk) in Untergruppen mit einander widerstrebenden
Interessen aufzuspalten. [Nicht mehr zur Mathematik passend:] Dadurch soll
erreicht werden, dass die Teilgruppen sich gegeneinander wenden, statt sich als
Gruppe vereint gegen den gemeinsamen Feind zu stellen.“
(Quelle:
)
Und es erinnert an das
biblische „Jüngste Gericht“, an dem die guten Menschen (hier die natürlichen
Zahlen) von den schlechten (hier allen anderen Zahlen) getrennt werden
und danach die Guten in den Himmel, die Schlechten
in die Hölle kommen:
(links die
natürlichen, rechts alle anderen Zahlen).
(Theologische
Parallelen seien bei einem mathematischen Thema doch arg weit hergeholt
oder gar völlig unangebracht? Auf diesen Einwand reagiere ich aber
einfach mit dem großen Mathematiker
:
„Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist [alle anderen Zahlen sind] Menschenwerk.")
Die Wahl
des Mathematikers
unterliegt also einerseits gewissen
Einschränkungen und schränkt ihrerseits noch weiter ein („nur die natürlichen
Zahlen“),
eröffnet andererseits aber auch enorme Möglichkeiten, denn
„sei x eine natürliche Zahl“ bedeutet ja „sei x eine beliebige natürliche Zahl“.
D.h. mit dem kurzen Satz „sei x eine natürliche Zahl“ werden
sämtliche
natürlichen Zahlen aufgerufen, und davon gibt es bekanntermaßen unendlich viele:
Mit dem so harmlos wirkenden kurzen Satz „sei x eine natürliche
Zahl“ beginnt also ein Beweis für unendlich viele Fälle (s.u.).
Und es
ist doch wirklich fast schon anmaßend gottgleich, dass die Mathematik als
einzige
Wissenschaft etwas für unendlich viele Fälle beweisen kann
(und zwar in
endlicher Zeit)!
Es ist
(nebenbei gesagt)
auch
bemerkenswert, dass die Mathematiker
nicht in korrektem Deutsch „x sei eine natürliche Zahl“ (also
Subjekt "x" - Prädikat "sei")
sondern ein wenig verdreht „sei x eine
natürliche Zahl“ (also Prädikat "sei" - Subjekt "x")
sagen.
Mit dem vorgezogenen „sei“ wird sofort
signalisiert, dass im Folgenden etwas definiert bzw. eine Auswahl getroffen
wird.
Ein typischer
(und wohl der kürzeste)
Mathematikerwitz lautet deshalb
„sei ε <
0“ (also "sei e
kleiner als 0")
Wenn ein Witz darauf beruht, dass eine Erwartung enttäuscht wird, ist das witzig (?),
weil e (= epsilon) in der Mathematik immer größer
als Null ist.
Schauen wir uns noch genauer an, wo das „sei“ in der Mathematik auftaucht:
manchmal fallen einem in der Mathematik gewisse (tatsächliche oder
scheinbare) Regelmäßigkeiten auf.
Ein Beispiel:
1 • 1 = 1
11 • 11 = 121
111 • 111 = 12321
In den bisherigen drei Fällen ergibt
sich also bei natürlichen Zahlen, die nur aus 1er-Ziffern bestehen, eine erst im
Einer-Abstand auf- und dann wieder absteigende Ziffernfolge.
Bei nur drei
Beispiele ist es aber eine bislang nur sehr schwache „Vermutung“, dass das immer
so sein wird, also z.B. auch für das nächste Beispiel 1111 • 1111. Schwach ist
diese Vermutung, weil die vermutete Regel schon bei 1111 • 1111 nicht mehr
gelten, also z.B. 1323512 herauskommen könnte.
Wenn man aber nachrechnet, ergibt sich 1111 • 1111 = 1234321, wodurch die Vermutung auch im
vierten Beispiel bestätigt wird.
Und wenn man (mit einem
Taschenrechner) bis zum neunten Beispiel weiterrechnet, ergibt sich
Nach inzwischen schon neun Beispielen, die allesamt die Vermutung
bestätigen,
wird man wohl schon eher glauben (!), dass die Vermutung immer (also auch für
alle weiteren Beispiele) richtig ist.
Inzwischen wird also wohl geneigt sein, die Regel nicht mehr nur zu
vermuten, sondern sogar die Behauptung aufzustellen, dass sie
immer gilt.
(... wobei es letztlich eine
subjektive Entscheidung ist, nach wie vielen
Beispielen aus einer Vermutung eine Behauptung wird).
Nun sind die
Mathematiker aber eisern: man
darf nichts einfach nur behaupten,
sondern muss es
auch beweisen,
und bis zum allgemeingültigen Beweis bleibt es doch immer nur eine
Vermutung.
Wenn es nun aber an den Beweis der Behauptung
geht, findet endlich unser „sei“ seinen Platz:
einschränkende
Voraussetzung: „sei x eine natürliche Zahl, deren Ziffern ausnahmslos Einsen
sind“
zu beweisen ist dann die
Behauptung: „wenn man solch eine Zahl mit sich selbst multipliziert, enthält das
Ergebnis nur erst im Einer-Abstand auf- und dann wieder absteigende Ziffern“.
Zu einem Beweis-Versuch (und damit zum „sei“) wird man wohl auch
dann übergehen, wenn man das Rechnen mit immer größeren Zahlen satt hat
(und zwar selbst dann, wenn man einen Taschenrechner benutzt - oder wenn dieser
zu wenige Ziffern anzeigt: z.B. passt das Ergebnis von 111111111 • 111111111,
nämlich 12345678987654321, längst nicht mehr auf einen normalen Taschenrechner;
und überhaupt rechnen
[entgegen allen Klischees]
Mathematiker
ja sehr ungern und sind sie sogar oftmals sehr schlechte Rechner.)
Nach dem „sei“ kann nun beim Beweisversuch dreierlei passieren:
: man findet tatsächlich einen Beweis für alle Fälle
(erstaunlicherweise, obwohl man natürliche nicht
alle, also unendlich viele
Fälle durchrechnen kann, denn damit würde man ja in alle Ewigkeit nicht fertig;
nebenbei: im selben Augenblick, in dem eine
Vermutung bewiesen wird, ist sie
eben keine Vermutung mehr,sondern
ein mathematischer „Satz“),
: man findet (mindestens) ein Gegenbeispiel oder kann die Behauptung anderweitig
widerlegen
(es hört sich vielleicht sehr
einfach an, ein Gegenbeispiel zu finden;
aber angenommen mal, eine
Vermutung gilt für alle, also unendlich viele natürliche
Zahlen - außer für eine einzige, gigantisch große Zahl,
diese einzige Ausnahme bringt dann die Vermutung zum Einsturz - nur kann man
Pech haben, dass man diese gigantisch große Zahl nie findet;
[und außerdem: wer hat schon Lust, massenhaft Beispiele bis ins
Aschgraue durchzurechnen?]
da helfen dann manchmal andere
Widerlegungsverfahren, nämlich z.B. ein Widerspruchsbeweis;
nebenbei:
ein [einziges!] Gegenbeispiel ist ja auch ein Beweis, nämlich der Tatsache, dass
die anfängliche Behauptung nicht allgemeingültig richtig war
[und
derjenige, der da etwas dreist behauptet hat, lieber geschwiegen hätte: „o si tacuisses, philosophus mansisses“]).
: man findet
weder einen Beweis
noch eine Widerlegung,
obwohl
die Behauptung
(was man allerdings nicht weiß)
richtig
oder falsch ist
(
Kurt Goedel hat
gezeigt, dass es sogar mathematische Behauptungen gibt, die man weder
beweisen noch widerlegen kann, und
Alan Turing hat
gezeigt, dass man das diesen Behauptungen nicht vorweg ansehen
kann; eventuell müht man sich also ewig lang mit dem Versuch eines Beweises
oder einer Widerlegung einer Vermutung ab, die grundsätzlich nicht
beweis- oder widerlegbar ist.)
Da kann Mathematik ausgesprochen
frustrierend sein - oder eine faszinierende Herkulesaufgabe.
Bei
unserem 1111... • 1111...-Beispiel könnte man die Frage stellen, wie denn nun
der zehnte Fall aussehen müsste, also
1111111111 • 1111111111 =
123456789?987654321.
Was also müsste an der Stelle des Fragezeichens
stehen, wenn die bisher vermutete Regel auch da stimmen würde?:
Muss da die
nächstfolgende natürliche Zahl (nicht Ziffer), also
10, stehen?:
12345678910987654321
Merkwürdig daran wäre es immerhin schon, dass wir
plötzlich von den Ziffern 1 bis 9 zu der Zahl 10
(die aus den Ziffern 1 und 0 besteht)
übergehen würden. Außerdem wäre
in 12345678910987654321 plötzlich die
bislang vorhandene schöne Spiegelsymmetrie kaputt, da die
10
eben nicht spiegelsymmetrisch ist.
Oder steht in 123456789?987654321 an
der Stelle des Fragezeichens die einzige noch nicht benutzte Ziffer (!), also
die 0 ?:
1234567890987654321
(Wie sähe dann aber das Ergebnis
im elften Beispiel aus?)
Obwohl man noch nicht gerechnet hat, ahnt man also, dass beim
zehnten Beispiel Probleme auftreten könnten.
Und wenn man nun
endlich doch einen Computer bemüht, erhält man
1111111111 • 1111111111
= 1234567900987654321 .
In der Mitte tauchen also zwei Nullen auf
(was die bisher vermutete Spiegelsymmetrie ja nicht stört).
Aber direkt
vor den beiden Nullen steht die Ziffernfolge
79 - und fehlt dazwischen die 8,
womit unsere bisherige Vermutung
(durch ein einziges Gegenbeispiel)
widerlegt ist.
(Erstaunlich finde ich es aber, dass bei diesem
zehnten
Beispiel noch große Reste der bisher vermuteten Regel sichtbar sind. Da könnte
man vermuten, dass diese in den folgenden Beispielen langsam, aber sicher immer
mehr verschwinden. Und in der Tat ergibt sich im elften Beispiel
11111111111 • 11111111111 = 123456790120987654321
So langsam schält sich
immerhin eine andere Vermutung heraus: dass bei den folgenden Ergebnissen am
Anfang immer 12345679 und am Ende immer
987654321 steht und nur in der Mitte
Chaos (?) entsteht.
Hier sei aber
mal dahingestellt, ob die neue Vermutung tatsächlich immer zutrifft.)
Nochmal kurz zurück zu „sei x eine natürliche Zahl“. Das bedeutet, dass im dann
folgenden Beweis x
nur noch eine beliebige natürliche Zahl
und
nichts anderes
(z.B.
oder ein Dreieck)
mehr sein darf.
Paradoxerweise ist in „sei x eine [!] natürliche Zahl“
im Singular nur von
einer (einzigen) solchen natürlichen Zahl die Rede
und sind doch im Plural alle (also
unendlich viele) solche natürliche Zahlen gemeint).
Merkwürdigerweise wird in dem Beweis aber nie eine konkrete
natürliche Zahl
(z.B. 17) für x eingesetzt, denn dann würde alles danach Folgende
nur noch für
die gewählte konkrete natürliche Zahl (eben z.B. 17),
also nur für einen einzigen Fall (17)
und nicht alle natürliche Zahlen gelten.
Eine berühmte, uralte,
aber trotz aller mühsamen Versuche vieler der größten Mathematiker bis heute
weder bewiesene noch widerlegte Vermutung ist die
„Goldbachsche Vermutung“
(vgl. den dringend empfohlenen
Roman :
„Die starke [...] Goldbachsche
Vermutung lautet wie folgt: Jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, ist Summe
zweier Primzahlen. [...]
Die schwächere Vermutung Jede ungerade Zahl, die größer
als 5 ist, ist Summe dreier Primzahlen.“
(Quelle:
)
Sowohl die starke als
auch schwächere Goldbachsche Vermutung ist seit fast dreihundert Jahren weder
bewiesen noch widerlegt worden, obwohl viele bedeutende Mathematiker einen
Beweis versucht - und sich die Zähne daran ausgebissen haben.
Die Goldbachsche
Vermutung gehört in die „Zahlentheorie“, ein Teilgebiet der Mathematik, das sich
nur mit den einfachsten, nämlich den natürlichen Zahlen beschäftigt
(und in dem
deshalb die meisten Beweise mit „sei x eine natürliche Zahl“ anfangen!):
„Die
Mathematik ist die Königin der Wissenschaften und die Zahlentheorie ist die
Königin der Mathematik.“
Carl Friedrich Gauß
(der „Fürst der Mathematik“)
(Nebenbei: es mag Laien
erstaunen, dass es über die natürlichen Zahlen, die in alle Ewigkeit so treudoof
und langweilig im Abstand 1 aufeinander folgen
,
überhaupt viel
zu sagen gibt: o.k., es gibt die geraden und die ungeraden natürlichen Zahlen
und dann auch noch die [unendlich vielen!] Primzahlen, aber was sollte an den
natürlichen Zahlen sonst noch bemerkenswert sein?!
Und überhaupt: wozu braucht
man sowas?)
Auch die Vermutungen der Zahlentheorie sind oftmals sehr einfach:
z.B. versteht wohl schon jeder Sechstklässler die starke Goldbachsche
Vermutung
„Jede gerade Zahl, die größer als
2 ist, ist Summe zweier
Primzahlen“
(und zwar spätestens dann, wenn man ihm einige
Beispiele
vorführt),
und jedem Neuntklässler kann man die vielleicht berühmteste
zahlentheoretische Vermutung, nämlich
„Fermats letzte
Vermutung“, verständlich machen.
Der Haken ist allerdings, dass
einfache Eigenschaften
der einfachsten, nämlich „natürlichen“ Zahlen
oftmals extrem schwer zu beweisen sind,
was man beispielsweise
daran sehen kann, dass
die Goldbachsche Vermutung trotz vielfacher
Versuche noch immer weder bewiesen noch widerlegt ist,
der 1994 geglückte Beweis von
durch
Andrew
Wiles
ihn acht Jahre intensivster Arbeit gekostet hat,
sehr
lang ist
und viele Details aus der modernsten und schwierigsten
Mathematik enthält (vgl.
)