das Sekundärstaunen
1. : die Banane ist so schön krumm! 2. Warum ist die Banane krumm?
„Das [Primär-]Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie [der Wissenschaft, des Sekundärstaunens] als diesen.“ eine besonders nette Wortfügung ist doch "Bauklötze[r] staunen |
Mit "sekundär" meine ich nur die Reihenfolge, nicht
(wie etwa die Einordnung von als eine "Sekundärtugend, mit der man auch ein KZ betreiben kann")
abwertend einen Rang: dem "Sekundärstaunen" geht wohl fast immer ein "Primärstaunen" voraus, und mir scheint auch: gerade große WissenschaftlerInnen konnten/können "noch" auf beiden Ebenen, also eben immer auch noch auf der Primärebene, staunen
(und sich noch durch Kinderfragen verunsichern lassen, ja, sie sogar noch selbst stellen. Z.B. hat Einstein bereits mit 16 Jahren das entscheidende Problem seines Lebens gefunden [und später weiter dranrum gestaunt], nämlich "wie wäre es, wenn ich auf einem Lichtstrahl reiten würde?").
Es ist schier unglaublich, dass wir Fiktion glauben!
Darüber, dass Fiktion überhaupt funktioniert, darf und kann man natürlich nicht immer staunen
(überhaupt kann man nicht andauernd über alles durchaus Staunenswerte staunen, denn dann "käme man ja aus dem Staunen gar nicht mehr heraus").
Im selben Augenblick nämlich, in dem man darüber staunt, geht man ja zur Fiktion auf Distanz - und glaubt sie zwischenzeitlich nicht mehr.
Das Primärstaunen bei einem Film besteht dann beispielsweise darin, mit welch schlauen Methoden der Held es schafft, den Bösewicht zu stellen und zu besiegen.
Beim Sekundärstaunen hingegen staunt man darüber, dass wir die fiktive Handlung des Films überhaupt glauben
(und darüber staunen, dass der Held den Bösewicht "kriegt"):
das Sekundärstaunen ist hier also
ein Staunen über das Staunen! Aber es ist eben nicht ein minder eindrückliches Staunen! Und schon gar nicht macht es notwendig das Primärstaunen kaputt, denn damit würde es sich ja seine eigene Basis zerstören
(es hätte ja nichts mehr, worüber es staunen könnte).
Mehr noch: selbst wer mal darüber staunt, dass Fiktion überhaupt funktioniert, und überlegt, warum das so sein könnte, wird doch kurz drauf wieder in die Fiktion abtauchen, also "primärstaunen" können
(so schlau ist glücklicherweise keiner, dass er nicht irgendwann doch wieder auf die Fiktion eines Films oder Buchs reinfiele).
Anders gesagt:
Distanz und das Ergründen von Ursachen/Zusammenhängen/Hintergründen können genauso staunenswert sein wie die Primäreffekte! |
Aber - nochmals - wohlgemerkt nichts gegen das Primärstaunen! - das in Schulen oftmals allzu kurz kommt, ja, häufig sogar zu Unrecht despektierlich ("Kinderkrams!") angeschaut wird
Aber "die" Schule will doch (zusätzlich) etwa anderes bzw. mehr, nämlich (auch) zum Sekundärstaunen (ver-)führen.
(Eine ganz andere Frage ist dabei, ob ihr das gelingt, und wenn nicht, warum nicht. Vielleicht eben, weil sie oftmals das Primärstaunen vergisst bzw. sogar denunziert.)
Ein schönes Beispiel, um das Problem beim Wickel zu bekommen, ist der Gegensatz zwischen
(und auch gewissen neumodischen Naturwissenschafts-"Event-Centern"; vgl. )
einerseits
(... wobei ich beidesmal schwer typisiere bzw. auf Klischees reduziere:
- nur ein Teil der Sendungen sind "wissenschaftlich" eben in Anführungszeichen, während andere nicht "nur" populär, sondern durchaus auch wissenschaftlich sind;
- nicht aller Physikunterricht ist permanent reine Theorie.)
Zu 1.:
In solchen Sendungen werden oftmals mit riesigem Aufwand
(wogegen der normale Physikunterricht kaum eine Chance hat!)
nur staunenswerte Effekte vorgeführt, spart man sich aber die Frage, warum sie funktionieren
(hält man das Publikum für zu dumm dazu oder will von Hintergründen ablenken?).
Zu 2.:
Im Physikunterricht beschränkt man sich oft auf die theoretischen Erklärungen und spart man sich die staunenswerten Primäreffekte
(oder betrachtet nur allzu "kastrierte", bereits von der Wissenschaft aus konstruierte "Versuche";
nebenbei: vielleicht sollten Schul"versuche" tatsächlich wieder mehr "Versuche" im umgangssprachlichen Sinne werden).Das aufschlussreichste Beispiel ist da eine Behandlung der Himmelsmechanik (!) im Klassenraum, ohne jemals mit den SchülerInnen zusammen unterm Sternenzelt campiert zu haben
(man kann und darf eben nicht voraussetzen, dass die SchülerInnen letzteres schon mal anderweitig erlebt [!] haben).
Oder um mir - als Deutsch- und Mathelehrer - mal an meine eigene Nase zu fassen:
- entweder im lausigsten Herbst und sowieso im geschlossenen Klassenraum
(was ja nicht grundsätzlich schlecht ist
[denn oftmals reicht ja die Phantasie oder soll sie gerade erzeugt werden],
sondern nur, wenn es andauernd so passiert)
- oder aber, ohne überhaupt noch zu bemerken, dass draußen "rein zufällig" gerade der schönste Frühling tobt.
Dabei kann das Primärstaunen durchaus auch innermathematisch sein, also z.B. daran "Anstoß" nehmen kann, dass alle Winkelhalbierenden sich tatsächlich exakt in einem Punkt schneiden:
"Woher wissen die schon dann, wenn sie gerade erst [völlig unabhängig voneinander, ohne sich also vorab verabreden zu können] in ihren Ecken losdackeln, dass sie alle zu diesem einen Punkt hin müssen?"
Ein typisches Sekundärstaunen in der Mathematik bestünde hingegen darin,
- dass sich das Schneiden der Winkelhalbierenden in einem Punkt tatsächlich beweisen lässt, und zwar - genau das bedeutet "beweisen" - erstaunlicherweise in endlicher Zeit allgemeingültig;
- dass man Spaß an solchen Beweisen (ihren trickreich-eleganten Vorgehensweisen) gewinnt.
Aber auch hier macht das Sekundärstaunen das Primärstaunen keineswegs kaputt:
- kann das Sekundärstaunen oftmals erst aus dem Primärstaunen entstehen
(sonst bleiben [wie oftmals im Unterricht üblich] viele Fragen nur aufgesetzt - und damit auch die Antworten),
- sind Beweise häufig so unvermeidbar abstrakt, dass sie zwar zu einem Sekundärstaunen führen, dennoch aber nicht das Primärstaunen beseitigen oder erklären können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass das Sekundärstaunen das Primärstaunen sogar erhöhen kann, nämlich z.B.
(allerdings kann solch eine Analyse manchmal eben doch auch das Primärstaunen zerstören, wenn man nämlich z.B. merkt, auf was für billige Tricks [inhaltsleere oder ablenkende "special effects"] man anfangs reingefallen ist - und sich dafür fast schämt?);
Da frage ich mich sogar, ob Schule manchmal eben doch mit dem Sekundärstaunen anfangen muss, um überhaupt erst auf diesem Umweg wieder zu einem Primärstaunen zu hinführen: dass eben nicht so selbstverständlich (des Staunens unwert) ist, was man durch pure Betriebsblindheit dafür gehalten hat.