innermathematisches STAUNEN

 

"Alle Wissenschaft fängt mit Staunen an."
(Aristoteles)

"Ein jähes Staunen, das wünsche ich mir. Das gibt es in meinem Alter nicht mehr. Aber nichts wünsche ich mir mehr."
(aus:  )

Oftmals staune ich darüber, dass die anfangs meist abstrakt entwickelte Wissenschaft Mathematik überhaupt (meist nachträglich) doch noch - auf außermathematische, z.B. physikalische Probleme - anwendbar ist. Und dass das überhaupt möglich ist, dass sich also z.B. der freie Fall so hübsch genau nach der relativ simplen, allemal aber allgemeingültigen quadratischen Gleichung s = 1/2 gt2 richtet, hat mir noch keiner überzeugend erklären können. Für mich bleibt es ein höchst unwahrscheinliches Wunder.

Genau um solche außermathematische Anwendbarkeit soll es hier aber gerade nicht gehen. Sondern hier interessiert mich ein ganz anderer, für die Freude an der Mathematik oftmals viel wichtigerer Aspekt: das Staunen über innermathematische Zusammenhänge (weit jenseits und vor aller Anwendbarkeit).

Wer dieses Staunen nicht spürt, wird niemals Spaß an der Mathematik entwickeln können, die nunmal (zwecks Erstellung komplizierterer Erkenntnisse, aber auch zwecks Einübung) oft ermüdend lang innermathematisch bleibt, bevor sie - wenn überhaupt - angewandt werden kann. 

Man fange mit dem Staunen beim Allersimpelsten und (inzwischen) Selbstverständlichsten an, also z.B. – wie Robert Kaplan in seinem Buch „Die Geschichte der Null“ – darüber, dass ein John Napier im 15. Jahrhundert urplötzlich auf die Idee kam, quadratische Gleichungen so umzuformen, dass rechts immer eine Null stand (z.B. x2 – 17 x + 5 = 0), um dann diese Null (d.h. die absolute Nichtigkeit) als zentrales Argument zur Lösung der Gleichung zu benutzen.

Sich das Selbstverständliche wieder als genial einfach (einfach, weil genial) klar zu machen, hat den Vorteil, dass man wieder an die grundlegenden Denkweisen und Probleme der Mathematik (hier die Null) herankommt.

Zweifelsohne kann man auch über mathematische Beweise staunen (ihre Ästhetik, „unglaublich, es kommt tatsächlich raus“), aber man sollte auch weiterhin staunen können, obwohl etwas bewiesen ist.

So lässt sich zwar z.B. beweisen, dass alle drei Winkelhalbierenden eines jeden Dreiecks sich in genau einem Punkt schneiden (der der Inkreismittelpunkt ist). Aber der Beweis läuft über so viele Schritte, dass er zumindest in meinem Kopf nie ganz „zusammen wächst“ und deshalb nie ganz anschaulich wird. Ich wundere mich also noch immer:

Einerseits muss man sich (durch Pauken) an gewisse Dinge gewöhnen, um sie bei übergeordneten Problemen selbstverständlich als Handwerkszeug handhaben zu können. Das ist beispielsweise beim Limesbegriff der Fall.

Andererseits sollte man aber auch wieder blitzartig hinter allzu Selbstverständliches zurückspringen können: dass einem beispielsweise der Limes urplötzlich wieder als

a) gehirnausrenkend,

b) meisterhaftes Konzept erscheint.

Man sollte insbesondere als Lehrer derart zurückspringen können, denn sonst wird man nie verstehen, welche Schwierigkeiten SchülerInnen beispielsweise mit dem Limesbegriff haben.

Grenzenlos staunenswert (obwohl doch grenzenlos abstrakt) ist die Zahlentheorie. Man schaue sich nur an, welche vielfältigen Eigenschaften Hans Magnus Enzensberger in seinem Buch „Der Zahlenteufel“ im Pascalschen Dreieck

1
1   1
1   2   1
1   3   3   1
1   4   6   4   1
1   5   10   10   5   1
1   6   15   20   15   6   1
... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...

gesammelt hat!

Angesichts dieses Pascalschen Dreiecks bin ich wie ein spielendes Kind: so, wie es ganz im Spiel aufgeht und doch gleichzeitig weiß, dass es „nur“ Spiel ist, so wirkt das Dreieck einerseits auf mich lebendig und mit der Fülle seiner Details geradezu weise, weiß ich aber andererseits ganz genau, daß alle Zusammenhänge und Details mathematisch erklärbar sind.

Nur wachsen diese zig (mir zudem weitgehend unbekannten) mathematischen Erklärungen für zig Eigenschaften des Pascalschen Dreiecks nie zusammen.

Das Dreieck selbst erscheint weise, weil beispielsweise Diagonalen in ihm Sinn ergeben, die gerade nicht (oder zumindest nicht einsehbar) konstruktives Element bei der Erstellung des Dreiecks waren. Das Dreieck muß, während es auf der einen (Zeilen-)Ebene noch konstruiert wurde, auf der anderen (Diagonalen-)Ebene schon gewußt haben, wohin es führen wollte, was es vorhatte.

Weil das Pascalsche Dreieck nicht nur eine, sondern zig (auf den ersten Blick voneinander unabhängige) interessante Eigenschaften enthält, erscheint es nicht bloß als ein Lebewesen, sondern als ein ganzer wohlorganisierter, selbstorganisierender Ameisenstaat.

Mehr noch: das Pascalsche Dreieck scheint massenhaft geheime, einander oftmals überlappende Querverbindungen zwischen natürlichen Zahlen zu zeigen, die beim reinen Aufzählen (1, 2, 3, 4 ...) verborgen bleiben: die an sich so langweiligen, dumpf runtergezählten natürlichen Zahlen scheinen selbst inneres Leben zu besitzen.

„Staunen“ heißt also auch, sogar in der Mathematik magisch zu denken, d.h. die mathematischen Gegenstände für belebt (mit Eigenleben jenseits des Mathematikers) zu halten.

Auch da kann man sich mit SchülerInnen treffen, die beispielsweise Gleichungen manchmal für bösartig und beschämend halten: „nicht der Lehrer, sondern die Gleichung selbst will mich fertig machen“.