mathematische Unanschaulichkeit
(und Berechenbarkeit)

das Problem
       Unanschaulichkeit
       Berechenbarkeit
Lösungsversuche


das Problem

Unanschaulichkeit

"[...] in der Wissenschaft geht es vor allem darum
[d.h. das ist zwar nicht gerade ihr Sinn,
aber doch der einzige Ausweg aus der Klemme],
etwas, das man sieht
- zum Beispiel das Fallen eines Apfels oder das Blattgrün -,
durch etwas zu erklären, das man nicht sieht
- zum Beispiel das Schwerefeld der Erde
bzw. die molekularen Bestandteile der Pflanzen (Chlorophyll),
die das Licht der Sonne selektiv festhalten können
und nur die Wellenlängen zurückwerfen,
die wir als Grün erkennen.
"
(Ernst Peter Fischer)

"Wir haben die Bereicherung des Geistes
mit der Entsinnlichung des Kosmos bezahlen müssen."
(Leo Nitschmann)

"Die Mathematik wird vom menschlichen Geist
in einem Akt der Selbstentfremdung geschaffen.
Dieser Geist kann sich in der Mathematik nicht wiederfinden."
(Giovanni Battista Vico)

"Schon der Versuch,
ein Bild [der Elementarteilchen] zu entwerfen
und über sie in anschaulichen Begriffen zu denken,
bedeutet, sie vollkommen falsch zu verstehen."
(Werner Heisenberg)

"Der Physiker hat gelernt,
die Welt, wie sie unseren Sinnen erscheint,
als Illusion zu betrachten [...]
Aber das beunruhigt ihn nicht übermäßig,
weil er sich seine eigene Welt geschaffen hat,
die er mit einer sehr schönen und kraftvollen Sprache beschreibt:
mit der Sprache der Mathematik,
die ihm alles sagt,
was er über das Universum, das ihn umgibt,
weiß und jemals hoffen kann zu wissen."
(Arthur Koestler)

"Ich sehe es wohl,
aber ich glaube es nicht."
(Georg Cantor;
vgl. )

"Meine These lautet, daß das abstrakte Denken
tatsächlich durch die Herstellung visueller Muster geschult wurde [...]"
(Barbara Maria Stafford)

Sigmund Freund hat auf die "drei Kränkungen der menschlichen Eigenliebe" aufmerksam gemacht

(und damit natürlich - wenn auch als "Kränker" durchaus zwiespältig - mächtig sich selbst in den Vordergrund gedrängelt):

„Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur hinwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische [also Freuds eigene!] Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vor sich geht.”

Nun kann man sich streiten, ob es da nicht noch einige andere Kränkungen oder zumindest doch fundamentale Verunsicherungen gab, nämlich z.B. die Reformation (die Spaltung des vorher einheitlichen Glaubens), die Französische Revolution (dass die schlichte Abschaffung der "gottgewollten" politischen Ordnung denkbar wurde) oder auch die Relativitäts- und Quantentheorie. Zu weiteren denkbaren Kränkungen siehe auch Gerhard Vollmer: "Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen" (und Vollmer bringt es da ja sogar auf neun Kränkungen).

Nur eine mögliche weitere Kränkung sei hier ausdrücklich erwähnt - und vielleicht die letzte (?) und abgründigste:

Vollmer: [...] Bald werden nicht nur die Hirnforscher einsehen müssen, dass es die traditionelle Willensfreiheit überhaupt nicht gibt.
Spektrum: Sie meinen die Vorstellung, dass wir dauernd in freien Entscheidungen zwischen mehreren Möglichkeiten bewusst oder unbewusst auswählen.
Vollmer: Ja - das ist eine Illusion, wenn auch eine sehr nahe liegende. Der „Wegfall" der vermeintlichen Willensfreiheit wird nicht nur Philosophen, Theologen und Juristen bis ins Mark erschüttern. Wir werden so viel über den Menschen herausfinden, dass wir wieder einmal von uns selbst enttäuscht sind. Die letzten „Kränkungen" des Menschen - wenn ich Sigmund Freuds Ausdruck an dieser Stelle bemühen darf - stehen ins Haus. Denken Sie nur an die vorhin beschriebene Möglichkeit, das Ich zu reproduzieren. Das ist doch nichts anderes als die Erkenntnis, dass ich als Person ersetzbar geworden bin.
Roth: Ich glaube auch, wenn mir gesagt wird: „Es gibt hundert Exemplare von dir, auf dich kommt es nicht mehr an", das wäre schon eine schlimme Kränkung. Aber von Maschinen gesagt zu bekommen: „Auf euch Menschen kommt es überhaupt nicht mehr an", das wäre die ultimative Kränkung.
[...]
Roth: Wir treten in der Hirnforschung gerade in eine Phase ein, wo wir uns mit den Gefühlen, mit dem Unbewussten befassen - experimentell, mit Bildgebung und so weiter. Ich denke, wenn klar ist, was die Menschen antreibt, auch unbewusst, dann weiß man auch ungefähr, warum sie tun, was sie tun. Ich glaube, spätestens in zehn Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es Freiheit etwa im Sinne einer subjektiven Schuldfähigkeit nicht gibt.

(Gerhard Vollmer und Gerhard Roth, zitiert nach: Spektrum der Wissenschaft; Dossier 2/2002; Grenzen des Wissens)

Bemerkenswert daran ist immerhin, dass Vollmer und Roth nicht gerade Kaisergeburtstagsdichter des Fortschritts und durchaus ausgewiesene Fachleute sind.

Man mag bezweifeln, dass solche Horrorvisionen eintreten werden: die Willensfreiheit ist schon so oft totgesagt worden, und Todgesagte leben länger.
Aber man muss die Denkbarkeit dieser Vision überhaupt erst mal akzeptieren.
Interessanter scheint mir aber die Frage, ob die eventuelle Entdeckung solch eines natürlichen Mechanismus überhaupt ein "Horror" ist und sein kann. Der Mensch würde ja nicht fremd-, sondern aus seinen eigenen "Tiefen" gesteuert. Und das schlichtweg Geniale unseres Bewusstseins bliebe ja, dass es uns die Illusion der Willensfreiheit vorspielt - und weiterhin vorspielen wird. D.h. diese Theorie bzw. Wahrheit bliebe uns genauso unanschaulich wie etwa die Relativitätstheorie.
Das Fehlen von Schuldfähigkeit könnte man probeweise aber sogar als echte Befreiung verstehen - und nur Idioten werden jetzt in ethischer Hinsicht sagen: "anything goes".

Und es ließe sich auch trefflich darüber streiten, ob hier überhaupt Kränkungen vorliegen

(beispielsweise hat Rémi Brague in seinem Aufsatz "Geozentrismus als Demütigung der Menschheit" den Spieß umgedreht und eben, wie der Aufsatztitel besagt, nicht im Helio-, sondern im Geozentrismus [die Erde als tiefste Verkommenheit direkt vor der Hölle] eine Demütigung und somit im Heliozentrismus eine Befreiung [eine Annäherung an den "äußeren" Gott] gesehen).

Ebenso gut könnte man ja (wenn auch arg ganzheitlich) sagen, der Mensch

"Ich will ja nicht übertreiben, aber wir haben die Welt auf den Kopf [oder genauer: vom Kopf wieder auf die Füße] gestellt! Ja, hör zu, jetzt kommt's, jetzt kommt's ... Wir haben den Menschen wieder ins Zentrum des Universums zurückgestellt. Von Anbeginn der Geschichte haben wir uns immer wieder vertreiben lassen. Uns immer wieder freiwillig ins Exil begeben, an den Rand des Geschehens. [...] kaum hatten wir uns in der Renaissance wieder erhoben, kaum war der Mensch, wie Protagoras das formuliert hatte, das Maß aller Dinge geworden, da werden wir wieder beiseite gedrängt, durch die Ergebnisse unseres eigenen Denkens [die frühneuzeitliche Physik]! Wir werden wieder zu Zwergen [...] Bis wir zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kommen und plötzlich wieder gezwungen werden, uns von unseren Knien zu erheben. [...] Es beginnt mit Einstein. Er zeigt uns, daß [...] das Messen kein abstraktes Phänomen ist, das nach universellen Gesetzen abläuft. Es ist eine menschliche Tat, sie geschieht von einem bestimmten Standpunkt aus in Zeit und Raum, von diesem einen ganz besonderen Blickpunkt eines möglichen Betrachters aus. Und dann, hier in Kopenhagen, in diesen drei Jahren Mitte der zwanziger Jahre, entdecken wir, daß es kein genau bestimmbares objektives Universum gibt. Daß das Universum nur als Reihe von Annäherungen existiert. Nur innerhalb der Grenzen, die durch unser Verhältnis zu ihm bestimmt sind. Nur durch das, was im Kopf des Menschen vorgeht."

(der "Niels Bohr" in Michael Frayns Theaterstück "Kopenhagen"; und das ist kein billiger Anthropo- bzw. Egozentrismus und auch keine aussichtslose Nostalgie, sondern gibt dem Menschen "nur" - und jetzt mit höchsten wissenschaftlichen Weihen - seine Würde wieder, verbindet nämlich Seele [!] und Weltall!
Sicherlich bedarf es zu dieser Würde nicht ursächlich der Wissenschaft, also des Umwegs über Unanschaulichkeit. Aber

  1. macht die Wissenschaft da etwas wieder gut, was sie vorher "verbockt" hat,

  2. bestätigt und ergänzt sie da etwas, was wir auch ohne sie erfahren können, nämlich etwa, wenn wir Liebe erfahren oder vom Sternenhimmel angerührt sind.)

Ich halte also folgende Sätze nur noch für ein fast schon gemeingefährlich erniedrigendes Nachkauen einer längst abgestandenen "Weisheit":

"Noch vor fünf Jahrhunderten war die Menschheit fest davon überzeugt, in der Mitte des Universums zu leben. Dann kam Nikolaus Kopernikus: Er verstieß den Planeten Erde auf eine Kreisbahn um die Sonne. Die Verbannung aus dem Zentrum des Weltalls traf das Selbstbewusstsein der Menschheit zutiefst.
Heute läuten die Nachfolger des berühmten Astronomen die nächste Wende ein und erschüttern das bestehende Weltbild noch radikaler. Sie verbannen die Erde an die äußerste Peripherie eines Universums, das wiederum nur eines von unzähligen Universen ist, die wie Seifenblasen ständig neu entstehen und wieder zerplatzen. Im Blick auf das Ganze wird der Mensch mehr und mehr zur Randerscheinung."
(zitiert nach "Die Zeit" vom 29.3.07; zumal die Hypothese der unzähligen Universen halbe Metaphysik ist.)

Und die Masche ist wahrhaft nicht neu: schon Sir James Jeans hat gesagt:

"Wir finden das Universum erschreckend wegen seiner riesigen sinnlosen Entfernungen, erschreckend wegen seiner unbegreiflich langen Zeitstrecken, gegen die die Geschichte der Menschheit nichts ist als ein kurzes Augenzwinkern, erschreckend wegen unserer völligen Verlassenheit und wegen der materiellen Geringfügigkeit unserer Heimat im Raume ... Aber vor allem flößt uns das Universum Schrecken ein, weil es so gleichgültig gegen Leben zu sein scheint, das unserem eigenen ähnelt; Empfindungen, Streben und Vollendung, Kunst und Religion scheinen seinem Plan gleichermaßen fremd zu sein. Vielleicht sollten wir sogar sagen, es scheint Leben wie unserem eigenen in aktive Weise feindlich zu sein."

Da wird arg billig allein der Größe Bedeutung zugeschrieben, und Susan Stebbing hat dagegen schon 1937 den Vorwurf erhoben, das diene allein dazu, den Leser einzuschüchtern.

Unklar muss wohl auch bleiben, ob die "drei Kränkungen" (wenn es denn welche sind) überhaupt im allgemeinen Bewusstsein angekommen sind. Wer hat beispielsweise schon Kopernikus gelesen (lesen können), und gings dann nicht eher zum einen Ohr rein, zum anderen raus (vgl. massenhafte Unkenntnis, also z.B. )? Und z.B. zeigt Carsten Könneker in seinem Buch "Auflösung der Natur Auflösung der Geschichte" zwar, wie massenhaft Relativitäts- und Quantentheorie in den 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts diskutiert wurden (aber eben nur damals), aber eben auch, dass in den Vulgärversionen kaum mehr davon ankam (und bis heute übrig geblieben ist), als dass angeblich "alles relativ" sei, was bestens zur damaligen apokalyptischen Endzeitstimmung passte und vielleicht doch nur deren Rückprojektion bzw. nachgetragene wissenschaftliche Legitimation war

(und heute zu "anything goes" und Einsteins Zunge verharmlost ist?).

Und waren nicht auch spätestens die Relativitäts- und Quantentheorie viel zu (mathematisch; darauf wird zurückzukommen sein) abgehoben, als dass diese Theorien überhaupt noch im allgemeinen Bewusstsein ankommen konnten?

(vgl. auch )

Hier soll es aber nur um die erste, also kopernikanische Kränkung bzw. Wende bzw. Revolution gehen. Bemerkenswert dabei ist, dass schon allein der Titel von Kopernikus Hauptwerk, nämlich "De Revolutionibus Orbium Coelestium", im Nachhinein systematisch falsch verstanden wurde und zu einer ebenso neuen wie dauerhaften Füllung des Begriffs "Revolution" geführt hat: "De Revolutionibus Orbium Coelestium" bedeutete nämlich ursprünglich nur "Über die Kreisbewegungen der Weltkörper". Das neue Weltbild des Kopernikus war also weder als Revolution im heutigen Sinne gedacht, noch kam es vielleicht so an (s.u. die Gedanken Ernst Peter Fischers).

Über die Wirkung des kopernikanischen Weltmodells kann man sich allemal streiten. Selbst bei Galilei scheint es ja nicht ganz sicher, ob er von der Kirche tatsächlich deshalb angeklagt wurde, weil er kopernikanische Ideen vertrat, oder ob das nicht vielmehr ein harmloser Vorwand war, um ihn vor einer viel schlimmeren, tatsächlich theologischen Anklage zu bewahren (vgl. Pietro Redondi: Galilei, der Ketzer).

Spätestens der große Apokalyptiker Nietzsche scheint aber die eigentliche Tat des Kopernikus in o.g. Kränkung gesehen zu haben:

"Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten - er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkt weg - wohin? Ins Nichts? Ins »durchbohrende Gefühl seines Nichts«?"

Und vielleicht ist doch etwas von dieser Kränkung oder Verängstigung übrig geblieben. Vgl. 

Höchst interessant aber ist, dass Ernst Peter Fischer in seinem Buch das Problem und die Wirkung des kopernikanischen Weltbildes ganz woanders sieht (S. 55ff):

"[...] so schön die Kopernikanische Ordnung mit einer kreisenden Erde auch ist und so aufregend ihre Etablierung im historischen Rückblick wirkt - die Zeitgenossen des Kopernikus haben an dem heliozentrischen Schema weder besonderen Gefallen gefunden noch darauf ängstlich abwehrend reagiert. Es hat sie weder gestört noch beeindruckt, und gehalten haben sie sich erst recht nicht daran. Es hörte sich zwar ganz nett an, was der Domherr da vortrug, aber erstens war es nicht neu - bereits in der Zeit vor Christi Geburt hatte jemand namens Aristarch den Gedanken geäußert, dass sich die Erde bewegt, während die Sonne ruht [...]. Zweitens brachte das System des Kopernikus [vor den Korrekturen durch Kepler] keine größere Genauigkeit bei der täglichen Arbeit oder der Vorhersage von Planetenbahnen, und drittens war das, was er behauptete, mindestens in einer Hinsicht (offen)barer Unsinn. Es widersprach jeder Sinneserfahrung. Wir alle sehen am Morgen mit unseren eigenen Augen, wie die Sonne aufgeht, und wir alle sehen am Abend in gleicher Weise, wie sie untergeht. Wir erleben und genießen doch Sonnenauf- und Sonnenuntergänge - und warum sollen wir uns die von Kopernikus nehmen lassen? [vgl. auch   ]

Die Kopernikanische Konsequenz

Damit ist die entscheidende und bis heute unverdaute Konsequenz des Kopernikanischen Weltbilds benannt, und ich halte sie für so wichtig, dass ich wünschte, der Ausdruck »Kopernikanische Konsequenz« käme dafür in Gebrauch und würde die wesentlich ungenaueren und nahezu nichtssagenden Ausdrücke ablösen, die als Kopernikanische Wende oder Kopernikanische Revolution sowohl in der Literatur als auch im allgemeinen Sprachgebrauch umhergeistern. Beide Konstruktionen scheinen zwar dasselbe zu meinen, nämlich die Verdrängung des Menschen aus der Mitte der Welt bzw. die Verlegung unseres Ortes im Kosmos aus dem Zentrum in eine Umlaufbahn. Dennoch erfassen beide etwas, das seinerzeit nur wenige Menschen bewegt hat und noch heute kaum jemanden erreicht.

Mir scheint, dass »Kopernikanische Wende« bzw. die »Kopernikanische Revolution« leere Begriffe ohne jede Anschauung geworden sind, wobei das Vertrackte eben darin liegt, dass die Naturforschung seit den Tagen des Kopernikus die sinnlich zugängliche Welt aus den Augen verloren hat. Offenbar muss sich der rational vorgehende Physiker, der die Welt »richtig« beschreiben will, den sinnlichen Zugang zur Welt untersagen, um eine stimmige Weltbeschreibung zu erhalten. Sie ist dann aber, wörtlich verstanden, nicht mehr sinnvoll, und dies ist ein wesentlicher Aspekt der Kopernikanischen Konsequenz.

[...]

Verlor der Mensch seine privilegierte Stellung? Hat der Urheber der Kopernikanischen Wende, der eine (äußere) kosmologische Sichtweise in einen (inneren) philosophischen Gedanken verwandeln wollte, das Bild vor Augen gehabt, mit dem uns der spätere wissenschaftliche Entdecker des Unbewussten Angst einjagen will? Die Antwort lautet Nein. Der Erfinder der Kopernikanischen Wende wollte nämlich das genaue Gegenteil. Sein Name ist Immanuel Kant, und er hat mehr als 200 Jahre nach Kopernikus und mehr als 200 Jahre vor Freud einen nachhaltigen Standortwechsel im Bereich der Philosophie vorgeschlagen und sich um Fragen der Erkenntnis bemüht. Er brach in seiner Kritik der reinen Vernunft mit der alten Vorstellung, dass sich unsere Erkenntnis nach den Gegenständen richtet, und er probierte es stattdessen mit der Idee, dass sich umgekehrt die Gegenstände nach dem menschlichen Erkenntnisvermögen richten. Es stimmt nicht, so stellte er fest, dass wir die Gesetze aus der Natur gewinnen. Es ist genau anders herum: Wir schreiben der Natur die Gesetze vor. Und Kant illustriert diesen wahrlich revolutionären Gedanken an Kopernikus. Er schreibt 1787 (in der zweiten Auflage der Kritik):

»Es ist hiermit ebenso als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er die Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen.«

Mit anderen Worten: Die Kopernikanische Wende hat nichts mit der Frage zu tun, ob die Sonne oder die Erde (und mit ihr der Mensch) im Zentrum des überschaubaren Universums steht. Sie hat vielmehr mit der anderen Bewegung der Erde zu tun, die Kopernikus einführt, also der Drehung unseres Planeten um sich selbst. Dies aber heißt, dass - im Verständnis von Kant - Kopernikus den Menschen gerade nicht aus der Mitte geholt, sondern im Gegenteil, gerade dorthin gestellt hat, und zwar deshalb, weil es ihm so gefiel.

Alles andere ergäbe auch im Hinblick auf die nachfolgende Geschichte keinen Sinn. Wie sollte denn bei Bacon und seinen Zeitgenossen der Mensch den Mut finden, als stolzes Subjekt einer objektiven Natur entgegenzutreten, die er für sich nutzen will, wenn er vorher durch seinesgleichen erniedrigt und beleidigt worden wäre? Wie sollten Menschen plötzlich aus sich heraus den Mut finden, nach Naturgesetzen zu suchen, wenn sie nicht schon lange mit dem Gefühl lebten, sie bei sich und in sich finden zu können?

Die Kopernikanische Spaltung des Menschen

Wer von der Kopernikanischen Wende bzw. Revolution redet und damit den Umzug der Sonne meint, verpasst Wichtiges nur dann nicht, wenn er dabei die Spaltung im Auge behält, die mit dieser kosmischen Konstellation unweigerlich und unvermeidlich einhergeht. Gemeint ist die Spaltung zwischen der sinnlichen und der begrifflichen Erkenntnis, zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt der Theorien, zwischen dem ästhetischen und dem rationalen Zugang zur Wirklichkeit: Ich sehe zwar, wie die Sonne sich dreht, aber ich weiß, dass sich die Erde dreht, und zwar um sich und um die Sonne.

Der letzte Satz müsste eigentlich folgendermaßen lauten: Ich kann wissen, dass sich die Erde dreht. Dieses Wissen ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts möglich, als die astronomischen Geräte so präzise wurden, dass mit Hilfe von optischen Messungen gezeigt werden konnte, dass die Erde zum Beispiel im Frühjahr einen anderen Ort einnimmt als im Herbst. Die Erde dreht sich also, so lernen wir es in der Schule.

Noch immer fällt es aber vielen Menschen schwer, die Erde sich drehen zu lassen, wenn sie gebeten werden, ihre Vorstellung vom physikalischen Himmel zu schildern. In Umfragen, die sich nach dem öffentlichen Verständnis für wissenschaftliche Themen erkundigen, gibt ein hoher Prozentsatz der Befragten auch heute noch an, dass es die Erde ist, die ruht, und dass die Sonne um sie kreist. Verwunderlich ist dies eigentlich nicht, da das Sinneserlebnis uns eine wandernde Sonne zeigt: »Im Osten geht die Sonne auf, im Sünden ist ihr Mittagslauf, im Westen wird sie untergehn, im Norden ist sie nie zu sehn.« Diese Zeilen mussten wir in der Schulzeit auswendig lernen, und sie fallen mir heute noch spielend leicht ein, weil »es so ist« (zumindest auf der nördlichen Halbkugel, auf der sich Europa befindet).

Wie sehr die Sinneserfahrung aber auch darüber hinaus unser Denken beeinflusst, zeigt sich in derselben Umfrage, wenn das Erkunden einen Schritt weitergeht und die Personen, die korrekt die Erde auf einer Umlaufbahn um die Sonne sehen, um Auskunft gebeten werden, wie lange unser Planet für eine Runde braucht. Die richtige Antwort (nämlich: ein Jahr) geben die wenigsten. Die meisten votieren stattdessen für einen Tag, was nichts anderes heißt, als dass sie erneut ihren Sinnen vertrauen.

Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass Kopernikus und die Wahrheit seiner heliozentrischen Ordnung ein Problem mit sich bringen, nämlich, wie ich die Welt des Erklärens - ausgedrückt in den Wissenschaften - und die Welt des Erlebens - ausdrückt in den Künsten - in dem einen Kopf zusammenbringe, den ich habe und der verstehen will. Seit Kopernikus in den Himmel geschaut hat, leben wir in zwei Sphären. Da ist die Sphäre, in der man messen und rechnen kann, und da ist die Sphäre, in der man erleben und werten kann. Das Konzept der Kopernikanischen Konsequenz erfasst diese Zweiteilung, die sich durch die folgenden Jahrhunderte ziehen wird und die bis heute besteht. Leider gelingt es der Dualität nicht, so ins Bewusstsein zu treten, wie sie es verdient hätte. Denn natürlich bringt sie nicht nur Schaden mit sich, sondern auch etwas Neues hervor, und zwar den Menschen, der sich als Subjekt von der Natur trennt, die dabei zu seinem Gegenüber, zu seinem Gegenstand wird. [eine Position, die erst wieder durch die ihrerseits unanschauchlicheRelativitäts- und Quantentheorie überwunden wird] Er kann nun wahr haft objektiv untersucht werden, und zwar mit Hilfe von Experimenten, die methodisch sorgfältig vorzubereiten, und Theorien, die mathematisch abgerundet zu formulieren sind."

(Hervorhebungen - außer den Kapitelüberschriften - von mir, H.St.)

Hier, so scheint mir, liegt in der Tat die eigentliche "Konsequenz" seit Kopernikus:

dass es eine zweite, wissenschaftliche bzw. mathematische Wahrheit neben der ersten, sinnlich-anschaulichen gibt und dass beide weitgehend unvermittelt, wenn nicht gar widersprüchlich bleiben (etwa so, wie Licht mal als Teilchen, mal als Welle erscheint).

(Der Vergleich mit dem Licht ist da durchaus aussagekräftig: Licht ist beides, also sowohl Teilchen als auch Welle, bzw. je nach Versuchsaufbau [nach der Frage, die der Experimentator stellt] ist es mal Teilchen, mal Welle. Was doch immerhin darauf hinweist, dass Licht nicht entweder das eine oder aber das andere ist - und somit auch die beiden o.g. "Wahrheiten" sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern - wie die beiden [nie gleichzeitig sichtbaren] Seiten derselben Medaille - einander ergänzen.

Die Spaltung ist nebenbei auch bei der darwinschen Evolutionstheorie der Fall, die wenn nicht sogar gänzlich, so doch in wichtigen Teilen [z.B. der Artenentstehung] unzugänglich, ja unbeweisbar, also eben "nur" Theorie ist: die Evolutionstheorie handelt von solch unvorstellbar langen Zeiträumen, dass der Inbegriff von Wissenschaft, nämlich überprüfende [oder nach Karl Popper falsifizierende] Experimente, ausgeschlossen zu sein scheint.)

Man mache sich unbedingt klar, dass die "Spaltung" nicht bloß ein Problem "dummer" Laien ist, sondern auch Fachleute ergreift: auch der gewiefteste Astronom denkt im Alltag "die Sonne geht auf (dreht sich also um die Erde)".

Die Frage ist allerdings, ob die beiden Sphären tatsächlich so zwar zusammenhängend, aber doch auch "ungleichzeitig" wie die beiden Seiten einer Medaille bleiben müssen.

Den allermeisten Menschen empfinden die wissenschaftliche Welt als zwar unwidersprechbar richtig, aber eben auch als völlig kalt und abstrakt, was ja nicht unbedingt schlimm sein muss: sie ignorieren sie einfach, und man muss sich in ihr ja auch gar nicht auskennen, und zwar gerade deshalb, weil Mathematik und Physik ja in der Tat unseren ganzen technischen Alltag durchziehen, das aber doch unmerklich: ich muss weder Mathematik noch Physik eines Staubsaugers verstehen, um ihn anwenden zu können, bzw. er könnte genauso gut von Heinzelmännchen angetrieben sein. Eben weil der Laie sie nicht braucht, waren Mathematik und Physik so siegreich.

Wenn die (angebliche) "Eiseskälte" von Mathematik und Naturwissenschaften viele Menschen aber eben doch spürbar irritiert hat

(und auch heute noch irritiert: was mir doch einer der Hauptgründe für die massenhafte Flucht insbesondere halbgebildeter Akademiker  [die sich solche Spirenzien und  seelische Wellness "leisten" können] in Esoterik zu sein scheint),

so haben, wie nochmals Carsten Könneker zeigt, gerade die Nazis das gespürt und ausgenutzt:

"Die Elementardisziplin der Physik, die Mechanik, habe in ihrer neuen - relativistischen - Fassung keine natürliche »Konstruktionskraft« mehr und sei zu einem rein formalen Gedankenkonstrukt verkommen:

Sie verschwebt außerhalb aller handfesten Existenz und ist nun glücklich bei der leeren Relativitätstheorie, diesem Gespenst aus Luft und Nichts, angelangt. Das ist die Flucht des Denkens aus der erdhaften Illusion, der Triumph des Gehirns über die Sexualität. Da stehen wir jetzt [...] vor der stummen Impotenz. Eine Katastrophe!

Hier wurden Wendungen vorweggenommen, wie sie wenig später auch in den Reden der sich sammelnden Nationalsozialisten auftauchten. Das »Wesen großer Zeitenwenden besteht ja gerade darin« - so etwa [der Nazi-Chefideologe] Rosenberg -, »daß ein alter wissenschaftlicher Glaube zusammenbricht, daß alle die Standpunkte, von denen aus man früher das Geschehen wertete, praktisch nicht mehr vorhanden sind.« Bei Goebbels heißt es über die neue [nationalsozialistische] Weltanschauung, sie habe das »Denken des deutschen Volkes vereinfacht und auf seine primitiven Urformeln zurückgeführt.« Houston Stewart Chamberlain pries Hitler in diesem Sinne als den großen »Vereinfacher, das gehört zu seiner Wahrhaftigkeit, zu seinem Mut, zu seinem Ernst, zu seiner Liebe.«

Die unermüdlich heraufbeschworene lautere Naivität und Ursprünglichkeit völkischer Gesinnung ist unbedingt als Gegenposition zum »Überwuchern des Verstandes« aufzufassen, das im Urteil der Zeit seinen augenfälligsten Ausdruck eben in der modernen Physik fand. Einfachheit, Bodenständigkeit und ehrfürchtige Naturschau  waren in den 20er und 30er Jahren Schlagworte, die unermüdlich gegen die angeblich zersetzende Überbeanspruchung der Ratio durch verwirrende mathematische Formelspiele angeführt wurden. Die moderne Physik galt als Höhepunkt eines »jüdischen« Generalangriffs auf die Grundfesten des ständig bemühten »gesunden Menschenverstands« und sollte durch Rückbesinnung auf die »wirklichen« [tatsächlich paradoxerweise vollends unhaltbaren] weltanschaulichen Wurzeln: die rassischen, wieder kompensiert werden."

(und das "jüdische" Denken - und da insbesondere die Mathematik und "Berechenbarkeit" - galt ja geradezu als Inbegriff des eiskalt zersetzend-wissenschaftlichen Denkens)

Nun sind solche Nazi-äußerungen ja doppelt einzuordnen:

  1. ist,

(wie ja z.B. auch - als Glied in einer langen Kette gegenseitiger bösartigster Erniedrigungen; vgl. nur Compiègne - die Fixierung auf den "Schandfrieden von Versailles")

zeigt, nicht alles falsch, was Nazis sagen ("nur" ihre Konsequenzen sind es),

  1. verweist die wissenschaftliche Irritation, die die Nazis da bemängeln, allzu offensichtlich auf eine gesellschaftliche.

Wie sich am Beispiel der Nazis

(die ja eben auch ein stumpfes Dummpack, ja der Triumph der Gehirnamputiertheit waren - und bis heute sind)

zeigt, ist aber vor allem jegliche prinzipielle Ablehnung von Intellekt und Wissenschaft potentiell gemeingefährlich (und entsteht sowieso nur aus den Minderwertigkeitskomplexen der Dummen - oder dumm Gehaltenen).

(Was keine Entschuldigung der Intellektuellen sein soll, die oftmals auch auf totalitäre Regime reinfielen [auch nur Menschen waren?] bzw. sie sogar geistig vorbereitet haben, wenn es auch arg simpel ist, wenn Könnecker da sehr pauschal von "Schuld" spricht.)

Sogar Hitler hat ja ausdrücklich (im politischen Testament - und wie so oft in aller Ironie) gesagt:

"Dabei reden wir von jüdischer Rasse nur aus sprachlicher Bequemlichkeit, denn im eigentlichen Sinn des Wortes und vom genetischen Standpunkt aus gibt es keine jüdische Rasse. [...] Die jüdische Rasse ist vor allem eine Gemeinschaft des Geistes."

Und Inbegriff dieses (nur der mörderischen Einfachheit halber "jüdisch" genannten?) Geistes war ja die mathematische Abstraktion, mittels derer ja in der Tat überhaupt erst Relativitäts- und Quantentheorie möglich ist (ohne den es aber vielmehr überhaupt keine Physik gibt).

Man kann es den ewig Gestrigen überhaupt nicht deutlich genug sagen: das Ende der überragenden wissenschaftlichen und künstlerischen Stellung Deutschlands fand nicht erst 1945, sondern 1933 statt. Hitler (auch ohne Judenverfolgung und Krieg: also sozusagen der "Adolf") war nicht der Höhepunkt, sondern der Todesstoß des Geistes, also auch so gesehen das Schlimmste, was (wenn man schon national-nostalgisch argumentieren wollte) der deutschen Nation passieren konnte.

Und mir scheint auch: seitdem wird "Geist" in Deutschland nicht mehr geachtet (und ist Deutschland zur Drittklassigkeit verurteilt).

(Damit hier aber kein falscher Ton aufkommt: die eigentlichen Opfer waren nicht irgendwelche Intellektuellen oder ein arg schwammiger "deutscher Geist" [zumal er, sobald er spezifisch "deutsch" gedacht wurde, eher Täter als Opfer war], sondern die Opfer waren vor allem ganz reale Juden.)

Bemerkenswert an o.g. Zitat

("Houston Stewart Chamberlain pries Hitler in diesem Sinne als den großen »Vereinfacher [...]«")

scheint aber vor allem, dass die Menschen (und insbesondere damals die Nazis) schlichtweg die (weltanschauliche und gesellschaftliche) Kompliziertheit bzw. - was für mich noch lange nicht dasselbe ist - Komplexität nicht mehr ertrugen und in Hitler einen "Vereinfacher" suchten.

Das sagt sich so einfach, ja das ist mir allzu lebensfern puristisch gedacht, dass "Vereinfacher" doch per se negativ besetzt sei: jemand, der unzulässig vereinfacht und damit Falsches verbreitet ("die halbe Wahrheit ist bereits eine ganze Lüge"). Es ist ja eben nicht nur das "dumme Volk", das sich nach Vereinfachungen sehnt, sondern jedeR verzweifelt ab und zu an der Kompliziertheit der psychischen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Zustände, also des verdammt schwierigen "Lebens", und läuft dann in Gefahr, nach einfachen Rezepten zu schnappen.


Das Unanschauliche (und doch "Existente"!) hat für viele Menschen etwas enorm Beängstigendes, vergleichbar der keltischen "Zwischenwelt", die ja nicht nur, wie viele neualtmodische Mystiker

(die sich ja auch aus der Bibel immer nur das Heimelige raussuchen und  das Widerspenstige und Unliebsame wohlweislich übergehen)

meinen, erstrebenswert ist

"Für die Kelten war das anvisierte Ziel des Lebens Autre Monde, die »Andere Welt«. Die keltischen Druiden beschrieben Autre Monde als einen zeitlosen und raumlosen Ort, wo die Welt der Imagination nach dem göttlichen Plan Wirklichkeit geworden ist. [...] Die Kelten bezeichneten AUTRE MONDE als eine Art Zwischenwelt, eine »Astralwelt«.",

sondern auch (bzw. eher) ein Riss in der Welt, eine Parallelwelt der Widergänger und des Grauens:

"Die Seele eines guten Menschen geht - in den Vorstellungen der einzelnen Religionen - nach dem Tode entweder direkt zu Gott oder sie bereitet sich auf ihre Wiedergeburt vor. Die Seele eines bösen Menschen lebt dagegen noch geraume Zeit in der Zwischenwelt, ehe sie sich auflöst."

Mathematik und Naturwissenschaft sind - so gesehen - in ihrer Unanschaulichkeit und Eiseskälte die lebenden Toten bzw. Zombies.


Berechenbarkeit

Als Mathematiker und Germanisten in Personalunion ist mir natürlich insbesondere der rot hervorgehobene Satz Fischers wichtig:

"Da ist die [naturwissenschaftlich-mathematische] Sphäre, in der man messen und rechnen kann, und da ist die Sphäre [ausdrückt in den Künsten], in der man erleben und werten kann."

Was  also anscheinend die meisten Menschen befremdet, ist

  1. die eiskalte Berechenbarkeit, dessen Wortklang man erst wirklich versteht, wenn man das umgangssprachliche Gegenteil mitdenkt:

"er handelt unberechenbar"

bedeutet doch wohl "launisch, blind zufällig, willkürlich, unvorhersehbar". Inbegriff dieser Unberechenbarkeit ist

Vgl. auch:

"Satan ist ohne jeden Grund böse. Hätte er Motive, müßten wir akzeptieren, daß er nicht ganz so bösartig ist, daß hinter seinem Wunsch, den Kosmos zu beherrschen, eine nachvollziehbare Logik steckt, und gerade deshalb wird ihm beim Jüngsten Gericht sein Hochmut verziehen werden. Geht man dagegen von einem grundlos Bösen aus, können wir sicher sein, es mit einem absoluten Schrecken zu tun zu haben: mit der Unvernunft. Luzifer, der gefallene Engel, würde nicht nur die Hölle regieren. sondern auch [und da sollten gerade MathematikerInnen hellhörig werden:] den Zufall."
(Jorge Volpi in "Das Klingsor-Paradox")

Die Unberechenbarkeit steht für die fundamentale Unsicherheit jedes Lebens, die letztliche völlige Vergeblichkeit all unserer Anstrengungen: das, was uns alle immer mal wieder bis ins Mark ängstigt und mehr meint als "nur" äußerlich-Materielles, nämlich z.B. auch die jederzeitige Gefährdung von Liebe und Freundschaft - also die letzte Einsamkeit.

Da erscheint es immerhin merkwürdig, dass wiederum das glatte Gegenteil der Unberechenbarkeit, also eben die Berechenbarkeit, keineswegs eindeutig positiv, sondern meistens auch negativ besetzt ist:

Durchaus noch positiv gemeint ist

"du kannst mit mir [meiner Freundschaft und Verlässlichkeit] rechnen."

Aber das schwenkt doch nachgerade schon in eine Drohung um, wenn man sagt

"die Herrschenden rechnen mit uns [d.h. mit unserem Gehorsam]"

oder umgekehrt

"die Herrschenden müssen mit uns [unserem Widerstand] rechnen".

Wie negativ "berechenbar" aber eben auch besetzt ist, wird (wie schon bei "die Herrschenden rechnen mit uns [d.h. mit unserem Gehorsam]") überdeutlich, wenn jemand von uns behaupten würde, unser Verhalten sei völlig berechenbar.

Wir würden uns geradezu entwürdigend abgrundtief durchschaut und auf ganz wenige, "billige" Motivationen festgelegt fühlen ("sex & drugs & rocknroll", "Geld", "Karriere" ...). Wir stünden da als Charaktermasken ganz weniger, allzu verlässlicher "Triebe" und nicht mal mehr "Herren in unserem eigenen [geistigen] Haus": die freudsche Kränkung (die heutzutage nochmals durch die Gehirnforschung verschärft wird, wenn sie in ihren dümmsten Ausläufern schlichtweg komplett unsere Willensfreiheit in Frage stellt).

Berechenbarkeit als glattes Gegenteil von Unberechenbarkeit bedeutet also, dass

Genau da wird die abgrundtiefe Angst vor der Berechenbarkeit deutlich: die Angst, dass die Menschen ohne Ansehen der Person nur noch verwaltet und "abgehakt" werden - wozu die Mathematik sozusagen qua Amt massiv beigetragen hat, ist sie doch eben gerade die Abstraktion von allem Individuellen (und handelt von den platonischen Idee hinter der Wirklichkeit):

ihr grandioser Erfolg liegt ja gerade darin begründet, dass sie beispielsweise mit einer Zahl bzw. einem Algorithmus massenhaft Fälle "in einem Abwasch" "erschlagen" kann.

Z.B. abstrahiert Mathematik alles, was auch eine Fünfzahl bildet

zur Zahl 5, und dann ist man eben nicht mehr ein individueller Mensch, sondern nur noch "der Schüler mit der 5 in Mathe" oder "der Blinddarm von Zimmer 5":

 

So gesehen, ist die logische Konsequenz der Mathematik die Nummer, die KZ-Opfern auf die Kleidung genäht oder - noch konsequenter - in die Haut gebrannt wurde.

"Figuren, herhören! Ihr habt jetzt eine Nummer. Das heißt, daß ihr nur noch Kreaturen seid. Indem ihr die Nummer habt, seid ihr aus der menschlichen Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Das heißt also, wir können mit euch umgehen, wie wir wollen. Wir haben hier eine richtig harte Disziplin, und wenn ihr euch der Disziplin nicht fügt, dann werdet ihr den Tod als euren Freund betrachten!"
("Begrüßungsappell" im KZ Dachau)

Und die durchaus mathematisch-logische (End-)Lösung ist

16828 -16828 = NICHTS,

also die "VerNICHTung" "unWERTen" Lebens.

(Nebenbei: wenn man das Ergebnis einer mathematischen Aufgabe als "Wert" bezeichnet, vergisst man doch allzu leicht den ethischen "Wert"; etwa so, wie das Modewort "Qualität" u.a. in der pädagogischen Diskussion ja meistens nur "Quantität" bedeutet.)

Und genau dagegen wehren sich viele Menschen, die ganz bewusst (und nicht nur aus Unfähigkeit) nichts mit Mathematik "anfangen" können und wollen: eine Gegenwehr, die eben nicht nur ein aussichtsloses Rückzugsgefecht gegen die angeblichen Tatsachen der Kränkungen, sondern auch bzw. sehr viel mehr eine Betonung der unveräußerlichen, un-berechenbaren Würde des Menschen ist.

  1. bestehen "die" Menschen (um auf obiges Fischer-Zitat zurückzukommen) auf der

"Sphäre, in der man erleben und werten kann"

und die ja in bzw. mittels der Mathematik geradezu ausgeschlossen zu sein scheint.

Das "Unbehagen an der [mathematisch durchdrungenen technisch-administrativen] Kultur" (um einen Freud-Titel abzuwandeln) scheint mir dabei

"Gerechtigkeit in Mathe

von Sabine Etzold

Der Mythos: Zwar gibt es keine absolute Objektivität der Lehrer bei der Beurteilung von Klassenarbeiten, aber die Noten in Mathematik sind viel »gerechter« als die in Sprachen oder Geschichte. Eine Mathematikaufgabe kann nur richtig oder falsch gelöst sein. Daran kann auch eine subjektive Lehrersicht nichts ändern.

Die Wirklichkeit: Mathematikzensuren sind keineswegs immer verlässlich. Noten für Zeichnungen in der Geometrie oder für teilweise richtig gelöste Aufgaben können streuen wie in geisteswissenschaftlichen Fächern. Für die Geometrie belegte dies bereits 1912 eine Studie im US-Bundesstaat Wisconsin. Die Forscher hatten eine Geometrie-Abschlussarbeit an 180 höhere Schulen geschickt und um Benotung gebeten. Die Bewertungen wichen zum Teil extrem voneinander ab. So gaben einige Lehrer Negativpunkte für Rechtschreibfehler, während das andere überhaupt nicht störte. Auch Form, Aufmachung und das äußere Bild der Arbeit führte zu ganz unterschiedlichen Bewertungen. »Die Variabilität der Urteile ist somit keine Funktion des Themas, sondern eine Funktion des Prüfers und der Prüfungsmethode«, folgert die Studie. [...] So hat eine Untersuchung am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck 1989 gezeigt, dass Mathematiklehrerinnen und -lehrer für dieselben Rechnungen mit denselben Fehlern die unterschiedlichsten Noten vergaben. Die einen duldeten nicht den geringsten Fehler, andere waren bereits zufrieden, wenn allein der Rechengang stimmte."
(zitiert nach )

Ich korrigiere prozessorientiert (Folgefehler fallen nicht so sehr ins Gewicht), einige KollegInneN aber ergebnisorientiert (für das richtige Ergebnis  gibt es den größten Batzen an Punkten).


Lösungsversuche

Es wäre allzu billig zu behaupten, man könne die Unanschaulichkeit völlig überwinden.

(Nur esoterische "Ganzheitlichkeit" bietet einen schnellen Königsweg zu solcher Überwindung an und ist somit ideologisch und potentiell gefährlich.)

Es gibt nun mal Dinge zwischen Himmel und Erde, die prinzipiell unanschaulich sind und wohl auch bleiben:

D.h. aber doch, dass sich zu jeder Primzahl eine natürliche Zahl zuordnen lässt (und umgekehrt)

("es gibt zu jedem Pott nen Deckel - und zu jedem Deckel nen Pott" oder zumindest doch zu jedem Ehemann eine Ehefrau - und umgekehrt),

so dass es tatsächlich gleich viele Prim- wie natürliche Zahlen gibt.

"Die Botschaft [des Beweises] hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube",

und sogar Cantor, der "Vater" der Mengentheorie, hat bei sowas gesagt:

"Ich sehe es wohl [verstehe den Beweis - oder genauer: nur jeden Einzelschritt bzw. das Beweisprinzip], aber ich glaube es nicht [bekomme es nicht anschaulich]."

Einige Dinge bleiben also unanschaulich, nur gilt es mit dieser Unanschaulichkeit anders umzugehen, als sie - was oftmals dasselbe ist - entweder zu verdammen oder aber als Herabwürdigung des "dummen" Menschen zu empfinden:

  1. nämlich ist mit Kopernikus darauf zu bestehen, dass all dieses Unanschauliche ja letztlich doch von Menschen "gemacht" bzw. erdacht wurde: der Mensch übertrifft nur sozusagen sich selbst;
  2. ist Unanschaulichkeit ja auch etwas Schönes: es gibt mehr als die primäre, rein mechanistische Realität, also eine Art "Metaphysik" (und Mathematik ist vor allem Ästhetik und Metaphysik).
    Das Unanschauliche ist der Garant dafür, dass wir nicht in der alltäglichen Langeweile und Banalität, in diesem diktatorischen "es ist nur so und nicht anders" stecken bleiben.
    Und da sehe ich sogar eine gesellschaftliche Funktion der Mathematik und Naturwissenschaften: sie können sogar beweisen, dass es "Übersinnliches" gibt, d.h. sie untergraben gerade das falsche Bild von sich selbst, nämlich billigmechanistische Vorstellungen.
    Mathematik und Naturwissenschaften beweisen, dass "esoterische" Phänomene immerhin nicht ausgeschlossen sind.

Die Zusammenhänge sind sogar noch komplexer: oftmals suchen gerade diejenigen, die mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen (und nun den größten Schwachsinn glauben, Hauptsache, er ist eben nicht rational verständlich) nach mathematisch-naturwissenschaftlichen Beweisen ihrer wildesten esoterischen Spekulationen, ja, lehnen  ihre Argumentation überdeutlich an mathematisch-naturwissenschaftliche Vorbilder an ("alles ist relativ" oder der "Schmetterlingseffekt" der Chaostheorie); und überhaupt ist es bezeichnend, wie sehr "Esoterik" oftmals naturwissenschaftliches Vokabular "klaut" (oder zurückholt?; insbesondere das Wort "Energie") - und sich damit ausgerechnet durch ihren größten Feind legitimieren möchte. Was ja alles nur die zweifelsohne schizophrene, vor allem aber doch fundamentale neuzeitliche Durchschlagkraft der Mathematik und Naturwissenschaften beweist.

  1. Es ist zu unterscheiden zwischen Kompliziertheit (schlichtem Unverständnis) und Komplexität: auch letztere (etwa das Zusammenspiel vieler Kräfte in einem Ökosystem) kann staunenswert schön sein.
  2. Wir Menschen brauchen dringend Bilder (denken sogar eher in Bildern als in Sprache?), und da ist es doch immerhin bemerkenswert und hilfreich, dass es paradoxerweise sogar für die Unanschaulichkeit ein Bild gibt:

Mathematik (und Naturwissenschaft) ist (sind) eine Sonde, ein Endoskop in für uns nicht direkt erreichbare Regionen (vgl. sowie ).

Ich bezweifle also rundweg, dass das Motto stimmt, von dem ich am Textbeginn als Prämisse auszugehen und mit dem ich einverstanden zu sein schien:

"Wir haben die Bereicherung des Geistes
mit der Entsinnlichung des Kosmos bezahlen müssen."
(Leo Nitschmann)

  1. Es gibt aber oftmals nicht nur für die Unanschaulichkeit, sondern auch für das Unanschauliche geeignete Bilder, die das Unanschauliche immerhin in Analogie verständlich und "sinnlich" machen.

So halte ich z.B. den Erfinder des Rosinenhefekuchenvergleichs für fast genauso genial wie Einstein selbst:

"Das vierdimensionale relativistische Weltall verhält sich wie ein Rosinenkuchen beim Backen: das Teigvolumen [das Weltall] wird zunehmend größer, und dabei entfernen sich alle Rosinen [Sterne] von allen."

Solche veranschaulichenden Bilder sind aber das A und O jeder Wissenschaftspädagogik, und deshalb brauchen wir dringend und vermehrt und sehr viel mehr Anschauung als Anwendung.

Dabei bleibt natürlich meistens ein letzter unanschaulicher Rest, aber man sollte so viel wie möglich zu veranschaulichen versuchen (statt allzu leichtfertig vorauszusetzen, dass da eh nicht gehe). Vor allem aber dient Veranschaulichung der Gewöhnung (z.B. an x,  und ), die stattgefunden haben muss, bevor man mit Leichtigkeit, nämlich einfach analogisierend zum prinzipiell Unanschaulichen (z.B. x4, x5 ...) übergeht.

  1. Dieses "mit Leichtigkeit, nämlich einfach analogisierend" sagt sich so einfach - und ist doch so schwierig. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als das, was Fischer an anderer Stelle seines o.g. Buches berichtet:

"Einstein hat einmal in einem Gespräch mit einem Psychologen erzählt, dass sein wissenschaftliches Denken mit Bildern einsetzt, die in ihm weitere Bilder generieren und zu einem Strom werden lassen, den er dann (mühsam) in Worte und Formeln übertragen muss, um sie mitteilen zu können. Diese Erfahrung haben viele Naturforscher gemacht, wie man immer wieder feststellen kann, wenn man sich ihre Lebensgeschichten ansieht.
Der Beitrag der Bilder zum Wissen ist schon bei Einsteins berühmtem Vorgänger Johannes Kepler zu erkennen, der im 17. Jahrhundert nicht nur die drei nach ihm benannten Planetengesetze entdeckte, sondern auch beschrieben hat, wie seinen Erfahrungen zufolge Wissen überhaupt entsteht. Für Kepler kommt Erkennen durch Bilder zustande [...]
Was Kepler sagt, lässt sich auch so ausdrücken, dass wir dann etwas über die Welt wissen, wenn wir sie uns durch Bilder zu eigen gemacht haben, wenn wir sie uns also - im Wortsinn - eingebildet haben. Nun heißt das alte lateinische Wort für diesen Vorgang der Einbildung »informatio«, und es ist unschwer zu erkennen, dass davon zwar der Begriff der Information abgeleitet ist, den sich die heutige Gesellschaft gerne als Vornamen gibt, dass aber die geläufige Verwendung dieses Wortes nichts mehr mit dem Bild zu tun hat, das ursprünglich gemeint war. Wer heute informiert ist, hat vielleicht viele Daten auf seiner Festplatte oder einige Nachrichten auf der Mailbox, aber keine Bilder mehr im Kopf. Informiert im sinnvollen und Wissen anstrebenden Gebrauch dieser Idee ist aber nur der »eingebildete« Mensch.
[...]
Bilder sind eine Wissensform vor den Begriffen, und sie entstehen durch die menschliche Fähigkeit der Wahrnehmung [...] Wissen beginnt mit Wahrnehmung [...] Wahrnehmung verwandelt gestaltetes Außen in Gestalten innen. äußere Formen werden innere und finden dabei das Bild, das unser Wissen wird, weil wir uns daran erinnern können."

"Wenn man normalerweise von Albert Einstein und der allgemeinen Relativitätstheorie hört, dann bekommt man einen Schreck und denkt sofort an irgendwelche komplizierten Formeln. Diese Formeln gibt es natürlich: Natürlich gibt es diese komplizierte Gravitationsgleichung. Aber diese Gleichung war doch nicht das Ziel von Einstein: Diese Gravitationsgleichung ist nur das Fenster, durch das Einstein schaute, um zu sehen, wie der Kosmos durch dieses Fenster, durch diese Gleichung aussieht.
[...]
Heisenberg hatte eine Gleichung auf dem Papier: Das waren nichts als mathematische Zeichen. Aber er sagt ausdrücklich, dass er durch diese Gleichung hindurchschauen kann."

Es sind scheinbar die - sogar von den Genies selbst kaum als eigenes Verdienst, sondern als "Gnade" bzw. "Musenkuss" empfundenen - "Sternstunden der Menschheit", wenn sowas gelingt, und das scheint uns Durchschnittsmenschen allemal verwehrt.

Ich glaube dennoch, dass sich sowas "angewöhnen" lässt: eben nicht nur stumpf zu rechnen, sondern auch Mathematik in Bildern zu denken - und dann später vielleicht auch durch die Mathematik auf die dahinter liegende Wirklichkeit zu schauen.

Mir scheint eben, dass Fischer mit der scheinbaren Ausschließlichkeit

"Da ist die [naturwissenschaftlich-mathematische] Sphäre, in der man messen und rechnen kann, und da ist die Sphäre [ausdrückt in den Künsten], in der man erleben und werten kann."

nur halb recht hatte: Naturwissenschaften und Mathematik lassen sich nämlich durchaus (intern) erleben

(Mathematik kann Spaß machen!),

und dementsprechend bricht ja gerade Fischer am Ende seines Buches eine Lanze für die Verbindung der beiden Sphären mittels Kunst.

Zur Berechenbarkeit bleibt aber nur zu sagen, dass sie

Vgl. auch