un- und missverständliche Aufgabenstellungen
oder wie man's macht, macht man's verkehrt

Oftmals sind Aufgaben

(nicht nur im Fach Mathematik)

derart unverständlich gestellt, dass SchülerInnen sie beim besten Willen nicht verstehen können oder geradezu missverstehen müssen.

Das geschieht

  1. durch sozusagen "professionelle" Betriebsblindheit der die Aufgaben stellenden LehrerInnen, die sich gar nicht mehr vorstellen können, dass man etwas nicht kapieren kann, bzw. die sich längst ans Fachchinesisch gewöhnt haben,
  2. , weil die LehrerInnen schon vollständig strukturiert denken

(also z.B. auch Signalwörter wie "rechtwinklig" sofort erkennen)

während in den Köpfen der SchülerInnen oftmals noch ein Tohuwabohu herrscht,

  1. , weil die LehrerInnen im Gegensatz zu den SchülerInnen klar zwischen Fach- und Alltagssprache trennen,
  2. ,weil den LehrerInnen ganz selbstverständlich viele Hintergrundinformationen und Assoziationen zur Verfügung stehen, die SchülerInnen noch gar nicht haben (können),
  3.  und die vielleicht einfachste Erklärung: weil die LehrerInnen, die die Aufgaben stellen, in der Regel ja schon deren Lösungen kennen bzw. schon vorweg wissen, was mit den jeweiligen Aufgaben abgeprüft werden soll.

Gegen all diese "Aufgabenstellungs-Fehler" ist keiner gefeit. Da man aber natürlich schneller den "Splitter im Auge des anderen" sieht, einem also eher die "Aufgabenstellungs-Fehler" anderer LehrerInnen auffallen, sollten LehrerInnen die Aufgaben, die sie in Klassenarbeiten stellen, "eigentlich" vorher von KollegInneN gegenlesen lassen: viele un- oder missverständliche Klassenarbeitsaufgaben würden dadurch vorweg vermieden.

"viele", aber nicht alle, da ja die KollegInnEn als Fachleute häufig eben auch betriebsblind sind. Da hilft es manchmal,

Nachher denkt man sich dann oft: "die ursprüngliche Aufgabe hätte ja auch beim besten Willen niemand verstehen können."

Und wichtig ist auch, dass der Lehrer während der Klausur anwesend ist und auf Nachfragen der SchülerInnen reagieren kann. Das gilt auch für zentral gestellte Klausuren, d.h. auch dort muss (müsste) es möglich sein, Un- und Missverständliches klarzustellen! Mehr noch: eine Pädagogik, die während solcher zentral gestellter Klausuren rein objektiv bleibt, also nicht auf subjektive Schwierigkeiten eingeht (eingehen darf), ist keine Pädagogik mehr.


Ein konkretes Aufgabenbeispiel aus einer Klausur zur Wahrscheinlichkeitsrechnung:

  1. Ein geübter Sportschütze trifft mit einer Wahrscheinlichkeit von p = 0,9.
    1. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er bei fünf Schüssen zwei mal trifft?
      Berechne den Erwartungswert und die Standardabweichung.
    2. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er bei fünf Schüssen vier mal trifft?
      Berechne wieder den Erwartungswert und die Standardabweichung.
  2.  Ein weniger geübter Sportschütze trifft mit einer Wahrscheinlichkeit von p = 0,6.
    1. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er bei fünf Schüssen zwei mal trifft?
      Berechne wieder den Erwartungswert und die Standardabweichung
    2. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er bei sieben Schüssen zwei mal trifft?
      Berechne wieder den Erwartungswert und die Standardabweichung.

Die jeweiligen Aufgabenteile

"Berechne [wieder] den Erwartungswert und die Standardabweichung"

suggerieren dabei, dass

in allen vier Fällen A. bis D. die Erwartungswerte und Standardabweichungen unterschiedlich sind.

Da hier aber immer eine Binomialverteilung vorliegt, reduzieren sich die Berechnungen auf

Bemerkenswert daran ist vor allem, dass der k-Wert (natürlich!) gar nicht in die Berechnungen der Erwartungswerte und Standardabweichungen eingeht.

Da sich aber die Aufgabenteilen A. und B. nur bei k unterscheiden,

kommen in den beiden Fällen A. und B. derselbe Erwartungswert und dieselbe Standardabweichung heraus.

Nun beißen sich aber die beiden Aussagen xxx und xxx, was bei SchülerInneN zu heilloser Verwirrungen führen kann;

eine Verwirrung, die man als LehrerIn

Die Frage ist allerdings, ob sie sich überhaupt (vorher/rechtzeitig) verhindern lässt: wie denn sonst soll man aus den SchülerInneN herauskitzeln, dass sich Erwartungswert und Standardabweichung manchmal ändern - und manchmal nicht; bzw. dass beide eben von n und p, aber nicht von k abhängig sind?

(Mal ganz abgesehen davon, ob sowas schon im Vorunterricht durchgenommen wurde.)

Ist also die irreführende Suggestivaufgabe (s.o.) überhaupt vermeidbar?

Zuerst habe ich gedacht: leider nein bzw. wie man's macht, macht man's verkehrt.

Dann aber habe ich mir gedacht: die Aufgabenstellung läuft von ihrer Struktur her doch auf Folgendes hinaus:

Offensichtlich (???) soll also untersucht werden, welche Auswirkung die Änderung eines einzigen Parameters

(unter Beibehaltung der beiden anderen Parameter)

hat.

Wäre da nicht eben doch die eindeutigere (Sammel-)Aufgabe möglich gewesen?:

"Untersuche, welche Auswirkungen die Änderungen von n, k und p auf die Erwartungswerte und Standardabweichungen haben."

"Welche" bedeutet meinem Verständnis nach aber nicht, dass immer Auswirkungen vorliegen, sondern lässt die Möglichkeit offen, dass auch mal keine Auswirkungen stattfinden, also der Erwartungswert und die Standardabweichung gleich bleiben (wie eben in A. und B.).

Wäre vielleicht die Aufgabenstellung

"Untersuche, inwieweit sich die Änderungen von n, k und p auf die Erwartungswerte und Standardabweichungen auswirken"

noch neutraler - oder wegen der Gespreiztheit von "inwieweit" erst recht irreführend?

Kaum habe ich's geschrieben, schon schreibt ein Leser im Gästebuch:

"Zitat: »Wäre vielleicht die Aufgabenstellung >Untersuche, inwieweit sich die Änderungen von n, k und p auf die Erwartungswerte und Standardabweichungen auswirken< noch neutraler - oder wegen der Gespreiztheit von >inwieweit< erst recht irreführend?« Wie wäre es, wenn man »inwieweit« einfach durch »ob« ersetzen würde?"

Das aber ist mir - mit Verlaub - auch nicht recht, da das "ob" im Sinne von "ob überhaupt" nun zu deutlich suggeriert, dass es auch keine Auswirkung geben kann.

Und der nächste Gästebuch-Eintrag kommt gleich hinterher:

"Hallo Herr Stauff! Sie liefern hier ein sehr schönes Beispiel einer miss- bzw. unverständlichen Aufgabe. Auch mir passiert so etwas hin und wieder, und ich kann Ihren Vorschlag, Aufgaben grundsätzlich gegenlesen zu lassen, nur befürworten. Trotzdem hätte ich zu Ihren Vorschlägen etwas anzumerken. [...] Leider entgeht Ihnen, warum diese Aufgabe nicht nur unverständlich, sondern schlicht unlösbar ist. Die Aufgabe lautet »Berechnen Sie den Erwartungswert.« Ja, wovon denn? Es wird in der Aufgabe überhaupt keine Zufallsgröße definiert. Die Schüler werden nicht verwirrt, weil »die jeweiligen Aufgabenteile« irgendetwas »suggerieren«, sondern schlicht deshalb, weil sie erstmal erraten müssen, »was der Lehrer von mir will«. Nicht, weil der Verfasser der Aufgabe, wie Sie weiter oben schreiben, »schon vollständig strukturiert« denkt, sondern weil er eben gerade nicht strukturiert gedacht hat. Ihr Lösungsvorschlag »Untersuche, welche Auswirkungen die Änderungen ... haben.« verschlimmbessert die Situation leider noch. Denn erstens enthält diese Aufgabe eine noch viel verwirrendere, weil völlig unsinnige Frage, nämlich: »Welche Auswirkungen hat eine Änderung von k (also der Zufallsgröße!) auf den Erwartungswert (dieser Zufallsgröße!)?« Und zweitens besteht die Aufgabe für den Schüler nun fast ausschließlich aus der Beantwortung der Frage: »Was will der Lehrer von mir?« Was wollen Sie denn hören? Mit der Gleichung µ=n·p ist die Frage »Wie verändert sich der Erwartungswert ...?« präzise und komplett beantwortet. Die entspechende Frage nach der Standardabweichung lässt sich ebenso präzise und vollständig durch die bekannte Formel beantworten. Man kann natürlich auch eine komplette Kurvendiskission der Funktion σ(p) durchführen, oder gleich einen kompletten Analysis-Kurs daran aufhängen, und anschließend noch Vertrauensintervalle und Hypothesentests in diesem Zusammenhang diskutieren oder Beispiele noch und noch anführen. Versetzen Sie sich in die Situation des Schülers, der die Aufgabe bearbeitet. Woher weiß er, wann er damit fertig ist? Die Frage »Habe ich die gestellte Frage beantwortet?« hilft ihm nicht weiter. Statt dessen muss er sich ständig Frage stellen: »Reicht das Herrn Stauff?« Ich weiß, dass derartige »offene Aufgaben« gerade schwer in Mode sind. Plateauschuhe waren auch mal in Mode. Daraus folgt aber nicht, dass man damit schneller laufen kann."