Heiliger Wagenschein, bitte für uns!
Martin Wagenschein, 1896 - 1988
V: Gott Sohn, Erlöser der Welt. - A: Erbarme Dich unser.
V: Gott, Heiliger Geist - A: Erbarme Dich unser.
V: Heilige Dreifaltigkeit, ein einiger Gott. - A: Erbarme Dich unser.
V: Heilige Maria. - A: Bitte für uns.
V: Heilige Gottesgebärerin. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Michael. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Gabriel. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Rafael. - A: Bitte für uns.
V: Alle heiligen Engel und Erzengel. - A: Bittet für uns.
V: Heiliger Petrus. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Paulus. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Lukas. - A: Bitte für uns.
V: Alle Heiligen. - A: Bittet für uns.
V: Von allem Übel. - A: Erlöse uns, o Herr.
V: Von aller Sünde. - A: Erlöse uns, o Herr.
V: von einem jähen und unvorhergesehenen Tode. - A: Erlöse uns, o Herr.
V: Von Zorn, Haß und allem bösen Willen. - A: Erlöse uns, o Herr.
V: Wir armen Sünder. - A: Wir bitten dich, erhöre uns.
V: Dass Du uns verschonest. - A: Wir bitten dich, erhöre uns.
V: Dass Du uns zu wahren Buße führen wollest. - A: Wir bitten dich, erhöre uns.
V: Dass Du uns die Früchte der Erde geben und erhalten wollest. - A: Wir bitten dich, erhöre uns.
"Reformpädagogik"?
War das nicht mal so'ne Modekrankheit erst in den 20er, dann vielleicht noch mal in den 70er Jahren (des 20. Jahrhunderts, also vorvorgestern)?
Wer von uns hat in seiner (Hippie-)Studienzeit nicht von ihr geschwärmt - und dann später doch rein gar nichts von ihr umgesetzt?
Gab es da nicht eben doch auch (nicht bei Wagenschein, aber einigen anderen Reformpädagogen) teilweise peinliche Kontakte mit dem Nationalsozialismus - wodurch alles korrumpiert wäre?
Haben die "Reformpädagogen" nicht unter idealen, also völlig unrepräsentativen Voraussetzungen gearbeitet (Landschulheime, Kinder aus sogenannten "besseren Familien")?
Ist das alles nicht also Schnee von vorgestern, wahrhaft nicht mehr richtungsweisend für eine PISA- und TIMSS- und Leistungs- und Wissens- und Informationsgesellschaft "im Zeitalter der Globalisierung"?
Eins ist klar: die grundlegenden Prämissen der meisten Reformpädagogen sind tatsächlich nicht in völlig kultusbürokratisch vorstrukturierten öffentlichen Schulen umsetzbar - wodurch diese Prämissen dort oftmals zu methodischem Schnickschnack verkommen
(ein bisschen Montessori hier, ein bisschen exemplarisches Lernen da, insgesamt aber der ewig gleiche mainstream: "wann, bittschön, ist die nächste Klassenarbeit?"):
"die" (um mal so pauschal zu sprechen) reformpädagogischen Vorstellungen lagen schon immer und liegen auch heute noch vollends quer: ihre Umsetzung würde keine (verharmlosend:) Reform, sondern eine Revolution der Struktur öffentlicher Schulen, aber auch der gesellschaftlichen Vorstellungen von "Leistungs"-Erziehung erfordern. Bzw. letztlich ist ja
|
Da solch eine Revolution aber nicht absehbar ist, sind und bleiben reformpädagogische Ansätze
(wobei dringend zu ergänzen ist: in den "normalen" Schulen läuft ja nicht alles schlecht),
Und dennoch:
Und doch wird man - wie Wagenschein in seinen späteren Jahren - im System arbeiten müssen
("der durch die Institutionen"),
immer in der Gefahr, wie viele der ehemals ach so linksradikal bewegten 68er (die enorm wichtig waren!) von ihm gefressen zu werden und
entweder immer mal wieder daran zu verzweifeln bzw. zu zerbrechen
oder aber (wie die meisten) alle Grundsätze zu verraten, ohne es überhaupt noch zu bemerken.
Positiv gesagt: vielleicht kann man sehr wenig bewegen - aber immerhin.
Und letztlich glaube ich ja sowieso:
man kann als LehrerIn nur
ein ganz klein wenig (immerhin!) bewegen: es mag ein wenig kollegiale Zusammenarbeit geben - letztlich ist man EinzelkämpferIn
(Die Kraft hole man sich woanders: bei gleichgesinnten FreundInnEn und durch ein neugieriges "Privatleben". Amen.) |
"Kann man zugleich lieben und Physik [Mathematik] treiben?" "Ich vergesse nicht, wie nach einer (wie ich meinte - hinreichenden) Aussprache über die Fallgesetze, eine junge Frau aufstand und mit entwaffnendem Ernst »noch eine Frage« stellte: »Aber, wie ist das mit den Vögeln?« - Ich verstand erst gar nicht, und niemand sagte etwas. Es war ein bedeutender Augenblick in meiner pädagogischen Ausbildung." |
Um in Wagenscheins Denkwelt hinein zu kommen, sei dringend empfohlen (kaufen, kaufen, kaufen!):
Martin Wagenschein: Erinnerungen für morgen; Eine pädagogische Autobiographie; Beltz |
Erst war ich versucht, hier massenhaft Zitate aus diesem Buch zu bringen:
auf wirklich jeder Seite steht ganz ungeheuer Wichtiges bzw. einfach ein Volltreffer! |
Ich habe das aus drei Gründen aufgegeben:
1. wären es hunderte von wichtigen Zitaten geworden,
2. liest es sich im (biografischen) Zusammenhang des Gesamttextes doch besser,
3. hätte es da vielleicht Copyright-Probleme gegeben.
In diesem Buch (und in anderen von ihm auch; s.u.) gibt mir Wagenschein massenhaft
Trost
(ich bin nicht der einzige, der "so" denkt und sich am "System" reibt, und meine Ideen sind weder spinnert noch neu; die Welt war schon immer verrammelt mit Kleingeistern und Unpädagogen, es gab aber schon immer auch denkfähige Menschen),
Ermutigung
"und sie [die Schulmathematik] bewegt sich doch!"
(ein sehr alter Mann zeigt einem, dass man aushalten kann),
"Arschtritte"
Wacht auf! Verdammte dieser Erde
Die stets man noch zum [pädagogischen und mathematischen] Hungern zwingt.
Das Recht [auf wirkliche mathematische Bildung], wie Glut im Kraterherde,
Nun mit Macht zum Durchbruch dringt!
Reinen Tisch macht mit dem Bedränger,
Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger!
Alles zu werden, strömt zu Hauf!
Völker hört die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
("fange wieder an mit dem, was du schon immer irgendwie gewusst hast [denn schließlich lese ich nicht zum ersten Mal Wagenschein], was dir unter den Systemzwängen des pädagogischen Alltags aber oftmals abhanden gekommen ist, wo du phantasielos geworden bist bzw. wo du resigniert hast").
Das Bewundernswerte an Wagenschein ist, dass er - durch sein hohes Alter damals beglaubigt -
naiv
und doch nicht naiv ist.
Naiv, indem er noch wie Kinder fragen kann (und genau das machte alle großen Forscher aus!).
Keineswegs naiv, weil er weder (etwa seine Zeit in der Odenwaldschule) glorifiziert noch unrealistisch im Hinblick auf die Regelschule ist - und sich dem Kampf für die "kleinen" Verbesserungen gestellt hat.
Wenn ich hier, wie gesagt, einen Zitatwust vermeiden will, kann ich nur ganz knapp wiedergeben, worin ich mich (Satz für Satz und seitenweise) wiederfinde:
im exemplarisch-genetischen Prinzip
(vgl. bei mir:
wenn er das Pseudowissen gerade vermeintlicher Fachleute zeigt,
in wunderbaren Einsprüchen gegen nur scheinbare Selbstverständlichkeiten
("[Der Leiter der Odenwaldschule, Paul Geheeb] hospitierte nie. Er hielt es für eine Indiskretion. Unterricht, je besser er gelingt, ist ja ein intimer, und damit ein nicht fassbarer Vorgang. Ohnedies wüßte er über alle Mitarbeiter Bescheid aus dem, was die Kinder natürlicherweise aus dem Unterricht mitbrachten.": das mal gegen heutige Versuche, Unterricht und Lehrer öffentlich zu sezieren und zu "messen".),
in vor-fachlichen Fragen (und einer anfangs bewusst auch vor-fachlichen Sprache)
(nicht als - wie ihm oftmals unterstellt wurde - windelweicher Ersatz für das Fachliche, sondern als Einführung in dieses),
in der Kritik am reinen (unpädagogischen) naturwissenschaftlich-mathematischem Fachlehrertum
(die meiste Kritik erfuhr er durch Gymnasiallehrer - und meterdicke Zustimmung beispielsweise durch Carl-Friedrich von Weizsäcker und Max Planck;
und die Kritik kam vor allem von Lehrern, also Männern: "Der ganze gegenwärtige Mathematikunterricht ist auf Männerlogik aufgebaut.")
in der Kritik am Fachleiteramt
("[...] diese Institution war und ist [als er es viel später aufschreibt] wohl das versteifteste aller Gelenke in der Fachlehrerausbildung", und da hat sich seit seiner Fachleiterzeit kurz nach dem 2. Weltkrieg nichts geändert!!!)
in der Kritik an einer ganz selten hilfreichen, meistens aber blinden bzw. blindwütigen Kultusbürokratie
(vgl. ),
in seiner Kritik einer (heute ja blind Renaissance feiernden) Berufsvorbereitung statt Allgemeinbildung, d.h. auch
in seinem umfassenden, Natur- und Geisteswissenschaften umfassenden, humanistischen (Allgemein-)Bildungsbegriff,
in der weisen Selbstbeschränkung der Mathematik und Naturwissenschaften
(man setze für "Physik" immer gleichzeitig auch "Mathematik" ein:
"Physik ist, nach der Meinung der heute führenden Forscher, nur einer - wenn auch der mächtigste - der möglichen Natur-Aspekte; nicht voraussetzungslos, sondern von vornherein sich selbst beschränkend auf das mit Maßstab, Waage und Uhr Meßbare, soweit wir so Gemessenes in mathematisierten Strukturen miteinander in Beziehung setzen, einander zuordnen können. Es entsteht so ein besonderes »Natur-Bild«, eine »Denkwelt« können wir auch sagen. [...]
Nach Vergleichen, die von Physikern selbst herrühren, bildet sie die uns umgebende sinnenhafte Wirklichkeit der Phänomene so ab wie eine Landkarte die Landschaft, wie die Partitur eine Symphonie, wie der Schatten seinen Gegenstand.
Dabei aber bildet sie so scharf und so richtig ab, wie eben der Schatten eines Blütenbaumes an der Mauer sich abzeichnet. Nur: der Baum selber kann der Schatten nicht sein wollen. Von nur seiner Struktur, seiner Geometrie, ist etwas geblieben, aber es fehlen Farbe und Duft, Räumlichkeit und das Rauschen seiner Blätter.
Es ist auch gar nicht zu erwarten, daß der Mensch, der ja der Natur angehört, die Frage nach dem »Wesen« der Naturerscheinungen mit rationalen Mitteln definieren, geschweige denn die Antwort finden könne. Es leuchtet ein, daß wir die Antwort nur in der Schwebe wechselnder Aspekte (deren jeder ein beschränkender ist, wie auch die Physik) zu umschreiben vermögen. Ein Geheimnis wird umkreist. Physikunterricht darf von vornherein nicht den Eindruck begünstigen, das Zentrum dieses Geheimnisses sei durch Physik jemals erreichbar.")
in der Kritik an einem einseitigen, pseudoobjektiven (in Zahlennoten ausgedrückten) "Leistungs"-Prinzip, das allein auf Einpauken von Unverstandenem und Ungeliebtem hinausläuft,
in seiner Betonung der Bildlichkeit,
in seinem Verständnis für Nicht-Mathematiker
("Ich habe oft genug erlebt, wie mancher an [dem »Knochenbrecher-Fach« Mathematik] stürzte, nicht wegen Unfähigkeit, sondern weil er als ein bedächtiger Mensch auf den logischen Rolltreppen einmal außer Tritt geraten war, und dann noch Jahre ohne Sinn und Verständnis dasitzen mußte mit seiner sicheren Fünf")
und seiner Vorliebe für diese Nicht-Mathematiker
("Ich ließ mir [...] immer gerade diese »Schmalspur-Mathematiker« oder »-Physiker« [unter den SchülerInnen; heutzutage also Grundkurse] geben, die dann in drei Wochenstunden voraussetzungslose aber darum eben wirkliche Mathematik noch schätzen konnten. [...] Denn hier durfte [schön wär's!] der Lehrer einen exemplarischen Themenkreis ganz frei aussuchen, während er als Leiter einer mathematischen Hauptfach[Leistungskurs]-Gruppe leicht in Gefahr kam, sich der Imitation von Hochschulmathematik zu widmen.")
...
Aber (Negativ-)Kritik bleibt bei Wagenschein nebensächlich. Er zeigt vor allem: es geht tatsächlich anders - und erheblich besser! (Nur die Phantasielosen sind mit dem status quo schon zufrieden - also resigniert.) |
Ich staune nur, wie modern Wagenscheins Pädagogik auch 15 Jahre nach seinem Tod ist:
die großen, aus humanistischer Tradition gewachsenen pädagogischen Fragen bleiben ja eh immer dieselben, und nur Geschichtsblinde meinen, über sie hinaus gewachsen zu sein und völlig neue Antworten zu haben;
Wagenstein würde aber staunen, wie enorm geschichtsblind unsere Zeit (auch und gerade pädagogisch) geworden ist;
ohne schon von Computern und "neuen Medien" gewusst haben zu können, widerspricht Wagenschein mit seinem Bestehen auf den ursprünglichen Phänomenen gleich auch diesen;
alles, was Wagenschein schreibt, lässt sich durchaus als direkte "Antwort" auf lesen bzw. als Vorverweis auf diesen Schlamassel.
Aber es ist natürlich auch ein wenig bitter, wie wenig die Bildungsplaner auf ihn und ähnliche gute Ideen gehört haben: sie haben rein gar nichts begriffen, die (un-)pädagogische Denkunfähigkeit siegt nach wie vor, ja mehr denn je ("die Zeiten waren noch nie so schlecht wie schon immer").
Die reformpädagogischen wie auch Wagenscheins Ansätze sind kein Gratisgeschenk (oder gar Patentrezept): wenn man an einer reformpädagogischen Schule arbeiten würde, fingen die Probleme ja überhaupt erst an - die in einem selbst liegen:
da wird ein ganz "neues" Lehrerbild gefordert, und es fragt sich doch, ob man (ich) diesem überhaupt genügt.
Neben Vermittlungs- und Zuhörfähigkeiten scheint mir vor allem Neugierde gefordert: auf die SchülerInnen und die Naturphänomene (bzw. die allereinfachste Mathematik)
Ich entdecke viel von dem, "was ich schon immer gesagt habe", bei Wagenschein wieder, woraus aber keineswegs folgt, dass ich mich nur als Epigone bzw. nachgeborener Apostel fühle:
weiß ich mit gesundem Selbstbewusstsein, dass ich Zusätzliches zu sagen habe
(vgl. etwa ),
hat Wagenschein zwar auch Mathematik unterrichtet, aber seine Aufsätze beziehen sich doch vor allem auf Physik - was auf Mathematik zu übertragen bleibt. Dabei ist
der Übergang von den Naturphänomenen zur (wenn auch weitgehend mathematisierten) Physik vermutlich noch einfacher
als der Einstieg in die Mathematik, weil diese
Irgendwann beim Lesen von Wagenscheins "Erinnerungen für morgen" fühlte ich mich doch an
erinnert: eine Nähe, die Wagenschein öfters nachgesagt wurde und die er dann später auch selbst bemerkt hat.
Das Wohltuende an den "Sinneserfahrungen" von Kükelhaus ist ja, dass er sie nicht mit esoterischen Bedeutungen aufblüht.
Weiteres Material zu Wagenschein: