Heiliger Wagenschein, bitte für uns!

Martin Wagenschein, 1896 - 1988

V: Gott Sohn, Erlöser der Welt. - A: Erbarme Dich unser.
V: Gott, Heiliger Geist - A: Erbarme Dich unser.
V: Heilige Dreifaltigkeit, ein einiger Gott. - A: Erbarme Dich unser.

V: Heilige Maria. - A: Bitte für uns.
V: Heilige Gottesgebärerin. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Michael. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Gabriel. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Rafael. - A: Bitte für uns.
V: Alle heiligen Engel und Erzengel. - A: Bittet für uns.

V: Heiliger Petrus. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Paulus. - A: Bitte für uns.
V: Heiliger Lukas. - A: Bitte für uns.
V: Alle Heiligen. - A: Bittet für uns.

V: Von allem Übel. - A: Erlöse uns, o Herr.
V: Von aller Sünde. - A: Erlöse uns, o Herr.
V: von einem jähen und unvorhergesehenen Tode. - A: Erlöse uns, o Herr.
V: Von Zorn, Haß und allem bösen Willen. - A: Erlöse uns, o Herr.

V: Wir armen Sünder. - A: Wir bitten dich, erhöre uns.
V: Dass Du uns verschonest. - A: Wir bitten dich, erhöre uns.
V: Dass Du uns zu wahren Buße führen wollest. - A: Wir bitten dich, erhöre uns.
V: Dass Du uns die Früchte der Erde geben und erhalten wollest. - A: Wir bitten dich, erhöre uns.

vgl. auch Bild

"Reformpädagogik"?

Eins ist klar: die grundlegenden Prämissen der meisten Reformpädagogen sind tatsächlich nicht in völlig kultusbürokratisch vorstrukturierten öffentlichen Schulen umsetzbar - wodurch diese Prämissen dort oftmals zu methodischem Schnickschnack verkommen

(ein bisschen Montessori hier, ein bisschen exemplarisches Lernen da, insgesamt aber der ewig gleiche mainstream: "wann, bittschön, ist die nächste Klassenarbeit?"):

"die" (um mal so pauschal zu sprechen) reformpädagogischen Vorstellungen lagen schon immer und liegen auch heute noch vollends quer: ihre Umsetzung würde keine (verharmlosend:) Reform, sondern eine Revolution der Struktur öffentlicher Schulen, aber auch der gesellschaftlichen Vorstellungen von "Leistungs"-Erziehung erfordern.

Bzw. letztlich ist ja

  • die Reformpädagogik konservativ, indem sie uralte humanistische Bildungsvorstellungen zurückfordert bzw. unbeirrbar am Leben erhält,

  • und z.B. eine heute moderne Berufsvorbereitung ein "Fort-Schritt" von längst als sinnvoll erkannten Bildungsvorstellungen weg.

Da solch eine Revolution aber nicht absehbar ist, sind und bleiben reformpädagogische Ansätze

(wobei dringend zu ergänzen ist: in den "normalen" Schulen läuft ja nicht alles schlecht),

Und dennoch:

die wirklich zentralen Anfragen an das derzeitige (ewig gleiche) Schulsystem sowie die wirklich bedeutsamen methodisch-didaktischen Lösungsvorschläge sind alle uralt

(vgl. z.B. Bild "über die sokratische Lehrmethode und deren Anwendbarkeit beim Schulunterrichte"),

und im Vergleich damit sind alle derzeitigen pädagogischen "Weltneuheiten"

  • im besten Falle schöner Schnickschnack

(z.B. ist der Computer nur ein Mittel, also weder ein didaktisches noch ein methodisches Element)

oder Blabla

("konstruktivistische Lerntheorien")

  • und im schlechtesten Falle irreführend bis geradezu destruktiv

(wenn beispielsweise der Computer alle anderen bzw. eigentlichen methodisch-didaktischen Fragen verdrängt und zum Selbstzweck bzw. Patentrezept für Lernen hochstilisiert wird).

"Uralt" bzw. (vermeintlicher) "Schnee von gestern" sind doch nur Gewähr dafür, dass da Dauerbrenner vorliegen.

Und doch wird man - wie Wagenschein in seinen späteren Jahren - im System arbeiten müssen

("der Bild durch die Institutionen"),

immer in der Gefahr, wie viele der ehemals ach so linksradikal bewegten 68er (die enorm wichtig waren!) von ihm gefressen zu werden und

Positiv gesagt: vielleicht kann man sehr wenig bewegen - aber immerhin.

Und letztlich glaube ich ja sowieso:

man kann als LehrerIn nur

  • im Rahmen der Vorgaben
    (nach deren Lücken man systematisch suche und die man, wenn man sie für unsinnig hält, möglichst lau befolge!)

  • in seinem eigenen Unterricht

ein ganz klein wenig (immerhin!) bewegen:

es mag ein wenig kollegiale Zusammenarbeit geben - letztlich ist man EinzelkämpferIn

Bild

  • immer in der Gefahr der (nur pädagogisch gesehen) Vereinsamung,

  • manchmal des Selbstmitleids (vgl. Bild ) -

  • und nah an der Selbstüberschätzung und Selbststilisierung zum Märtyrer und unverstandenen Propheten (schnief!).

(Die Kraft hole man sich woanders: bei gleichgesinnten FreundInnEn und durch ein neugieriges "Privatleben". Amen.)

 


 

"Kann man zugleich lieben und Physik [Mathematik] treiben?"
(Wagenschein)

"Ich vergesse nicht, wie nach einer (wie ich meinte - hinreichenden) Aussprache über die Fallgesetze, eine junge Frau aufstand und mit entwaffnendem Ernst »noch eine Frage« stellte: »Aber, wie ist das mit den Vögeln?« - Ich verstand erst gar nicht, und niemand sagte etwas. Es war ein bedeutender Augenblick in meiner pädagogischen Ausbildung."
(Wagenschein)

Um in Wagenscheins Denkwelt hinein zu kommen, sei dringend empfohlen (kaufen, kaufen, kaufen!):

Bild Martin Wagenschein: Erinnerungen für morgen; Eine pädagogische Autobiographie; Beltz

Erst war ich versucht, hier massenhaft Zitate aus diesem Buch zu bringen:

auf wirklich jeder Seite steht ganz ungeheuer Wichtiges bzw. einfach ein Volltreffer!

Ich habe das aus drei Gründen aufgegeben:

1. wären es hunderte von wichtigen Zitaten geworden,

2. liest es sich im (biografischen) Zusammenhang des Gesamttextes doch besser,

3. hätte es da vielleicht Copyright-Probleme gegeben.

In diesem Buch (und in anderen von ihm auch; s.u.) gibt mir Wagenschein massenhaft

Bild
"und sie [die Schulmathematik] bewegt sich doch!"

(ein sehr alter Mann zeigt einem, dass man aushalten kann),

Wacht auf! Verdammte dieser Erde
Die stets man noch zum [pädagogischen und mathematischen] Hungern zwingt.
Das Recht [auf wirkliche mathematische Bildung], wie Glut im Kraterherde,
Nun mit Macht zum Durchbruch dringt!
Reinen Tisch macht mit dem Bedränger,
Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger!
Alles zu werden, strömt zu Hauf!
Völker hört die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!

("fange wieder an mit dem, was du schon immer irgendwie gewusst hast [denn schließlich lese ich nicht zum ersten Mal Wagenschein], was dir unter den Systemzwängen des pädagogischen Alltags aber oftmals abhanden gekommen ist, wo du phantasielos geworden bist bzw. wo du resigniert hast").

Das Bewundernswerte an Wagenschein ist, dass er - durch sein hohes Alter damals beglaubigt -

Naiv, indem er noch wie Kinder fragen kann (und genau das machte alle großen Forscher aus!).

Keineswegs naiv, weil er weder (etwa seine Zeit in der Odenwaldschule) glorifiziert noch unrealistisch im Hinblick auf die Regelschule ist - und sich dem Kampf für die "kleinen" Verbesserungen gestellt hat.

Wenn ich hier, wie gesagt, einen Zitatwust vermeiden will, kann ich nur ganz knapp wiedergeben, worin ich mich (Satz für Satz und seitenweise) wiederfinde:

(vgl. bei mir:

(man setze für "Physik" immer gleichzeitig auch "Mathematik" ein:

"Physik ist, nach der Meinung der heute führenden Forscher, nur einer - wenn auch der mächtigste - der möglichen Natur-Aspekte; nicht voraussetzungslos, sondern von vornherein sich selbst beschränkend auf das mit Maßstab, Waage und Uhr Meßbare, soweit wir so Gemessenes in mathematisierten Strukturen miteinander in Beziehung setzen, einander zuordnen können. Es entsteht so ein besonderes »Natur-Bild«, eine »Denkwelt« können wir auch sagen. [...]
Nach Vergleichen, die von Physikern selbst herrühren, bildet sie die uns umgebende sinnenhafte Wirklichkeit der Phänomene so ab wie eine Landkarte die Landschaft, wie die Partitur eine Symphonie, wie der Schatten seinen Gegenstand.
Dabei aber bildet sie so scharf und so richtig ab, wie eben der Schatten eines Blütenbaumes an der Mauer sich abzeichnet. Nur: der Baum selber kann der Schatten nicht sein wollen. Von nur seiner Struktur, seiner Geometrie, ist etwas geblieben, aber es fehlen Farbe und Duft, Räumlichkeit und das Rauschen seiner Blätter.
Es ist auch gar nicht zu erwarten, daß der Mensch, der ja der Natur angehört, die Frage nach dem »Wesen« der Naturerscheinungen mit rationalen Mitteln definieren, geschweige denn die Antwort finden könne. Es leuchtet ein, daß wir die Antwort nur in der Schwebe wechselnder Aspekte (deren jeder ein beschränkender ist, wie auch die Physik) zu umschreiben vermögen. Ein Geheimnis wird umkreist. Physikunterricht darf von vornherein nicht den Eindruck begünstigen, das Zentrum dieses Geheimnisses sei durch Physik jemals erreichbar.")

("Ich habe oft genug erlebt, wie mancher an [dem »Knochenbrecher-Fach« Mathematik] stürzte, nicht wegen Unfähigkeit, sondern weil er als ein bedächtiger Mensch auf den logischen Rolltreppen einmal außer Tritt geraten war, und dann noch Jahre ohne Sinn und Verständnis dasitzen mußte mit seiner sicheren Fünf")

und seiner Vorliebe für diese Nicht-Mathematiker

("Ich ließ mir [...] immer gerade diese »Schmalspur-Mathematiker« oder »-Physiker« [unter den SchülerInnen; heutzutage also Grundkurse] geben, die dann in drei Wochenstunden voraussetzungslose aber darum eben wirkliche Mathematik noch schätzen konnten. [...] Denn hier durfte [schön wär's!] der Lehrer einen exemplarischen Themenkreis ganz frei aussuchen, während er als Leiter einer mathematischen Hauptfach[Leistungskurs]-Gruppe leicht in Gefahr kam, sich der Imitation von Hochschulmathematik zu widmen.")

Aber (Negativ-)Kritik bleibt bei Wagenschein nebensächlich. Er zeigt vor allem:

es geht tatsächlich anders - und erheblich besser!

(Nur die Phantasielosen sind mit dem status quo schon zufrieden - also resigniert.)


Ich staune nur, wie modern Wagenscheins Pädagogik auch 15 Jahre nach seinem Tod ist:

Aber es ist natürlich auch ein wenig bitter, wie wenig die Bildungsplaner auf ihn und ähnliche gute Ideen gehört haben: sie haben rein gar nichts begriffen, die (un-)pädagogische Denkunfähigkeit siegt nach wie vor, ja mehr denn je ("die Zeiten waren noch nie so schlecht wie schon immer").


Die reformpädagogischen wie auch Wagenscheins Ansätze sind kein Gratisgeschenk (oder gar Patentrezept): wenn man an einer reformpädagogischen Schule arbeiten würde, fingen die Probleme ja überhaupt erst an - die in einem selbst liegen:

da wird ein ganz "neues" Lehrerbild gefordert, und es fragt sich doch, ob man (ich) diesem überhaupt genügt.

Neben Vermittlungs- und Zuhörfähigkeiten scheint mir vor allem Neugierde gefordert: auf die SchülerInnen und die Naturphänomene (bzw. die allereinfachste Mathematik)

(vgl. auch BildBildBild ).


Ich entdecke viel von dem, "was ich schon immer gesagt habe", bei Wagenschein wieder, woraus aber keineswegs folgt, dass ich mich nur als Epigone bzw. nachgeborener Apostel fühle:

  1. weiß ich mit gesundem Selbstbewusstsein, dass ich Zusätzliches zu sagen habe
    (vgl. etwa  Bild ),

  2. hat Wagenschein zwar auch Mathematik unterrichtet, aber seine Aufsätze beziehen sich doch vor allem auf Physik - was auf Mathematik zu übertragen bleibt. Dabei ist


Irgendwann beim Lesen von Wagenscheins "Erinnerungen für morgen" fühlte ich mich doch an

Bild Hugo Kükelhaus
(1900 - 1984)

erinnert: eine Nähe, die Wagenschein öfters nachgesagt wurde und die er dann später auch selbst bemerkt hat.

Das Wohltuende an den "Sinneserfahrungen" von Kükelhaus ist ja, dass er sie nicht mit esoterischen Bedeutungen aufblüht.


Weiteres Material zu Wagenschein:

Bild Martin Wagenschein: Verstehen lernen; Beltz
Bild Martin Wagenschein: Kinder auf dem Wege zur Physik; Beltz
Bild

Walter Köhnlein: Einführende Bemerkungen zum Leben und Werk Martin Wagenscheins

Bild Martin Wagenschein: Zusammenhänge der Naturkräfte (1,2 MB)
Bild Martin Wagenschein: Erde unter Sternen (500 KB)

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