hüte dich vor der Mathematik!

 

Als (ehemaliger) Mathematiklehrer hatte ich zwei Aufgaben:

  1. allen Schüler

(also auch denjenigen, die an Mathematik desinteressiert waren oder diese sogar hassten)

möglichst verständlich die Grundzüge der Mathematik zu vermitteln, wie sie im offiziellen Lehrplan festgelegt sind, die sie also nunmal lernen müssen;

  1. und darüber hinaus zumindest so einigen Schülern die Freuden der Mathematik einzupflanzen, also Reklame für die phantastische Wissenschaft Mathematik zu machen

(... was [wenn überhaupt] vermutlich nur dadurch gelingen kann, dass die Freude des Lehrers an Mathematik ansteckend wirkt).

Leider widersprechen sich 1. und 2. in der Schule manchmal, und im Zweifelsfall wird immer 1. vorgezogen, weil so sicher wie das Amen in der Kirche die nächste Klassenarbeit bevorsteht und ja unbedingt alles abgeprüft (quantifiziert, s.u.) werden muss.

Die Freude an der Mathematik fällt meistens auch deshalb "hinten runter", weil der unbedingt zu erledigende Stoff der Standard-Schulmathematik

(z.B. Termumformungen und das Lösen von Gleichungen)

ja oftmals nicht gerade Grund zur Freude

(erst des Lehrers, dann vielleicht einiger Schüler)

ist.

Im Lehrplan müsste also eigentlich dringend durch gründliches Ausmisten Platz für interessante(re) Mathematik geschaffen werden:

Paul Janositz (Tagesspiegel): "Ist der Lehrplan [im Fach Mathematik] nicht schon vollgestopft?"
Günter M. Ziegler (Professor für Mathematik an der TU Berlin, Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung): "Ja, die Lehrer brauchen mehr Freiräume. Sie hecheln mit dem Stoff hinterher, statt sagen zu können: heute erzähle ich euch etwas Spannendes aus der Mathematik, das steht nicht im Lehrplan, aber es begeistert mich selbst. [...] Wir brauchen sicherlich [?] auch mehr Zeit für den Mathematikunterricht [...]. Nicht um mehr Stoff zu pauken, sondern um mehr bunte Mathematik zu zeigen."

Ab und zu macht sich der Unwille der Schüler Luft in dem Spruch

"was soll denn der ganze [Mathematik-]Scheiß?",

d.h.

"wozu braucht man das?":

eine rhetorische Frage mit der implizit unterstellten Antwort

"zu nichts".

Im besten Fall werden die Schüler dann mit zwei arg abstrakten Antworten abgespeist:

Einem Lehrer, der sich erst gar nicht auf diese Vertröstung und meist ökonomische Forderungen nach Anwendbarkeit einlassen will, bleibt als indirekte Antwort "nur" ein möglichst ansteckender Unterricht.

 

Es liegt mir also (nach wie vor) sehr am Herzen, dass der Mathe-Unterricht so viel wie nur irgend möglich Reklame für die Mathematik macht

(nicht indem man über die Schönheit der Mathematik schwadroniert, sondern indem man schöne Mathematik tut).

Gleichzeitig wird's aber Zeit, Reklame gegen eine Mathematik zu machen, die insbesondere in Kombination mit der Informatik

Oder genauer:

Ein Beispiel: wenn man dem Buch folgt, waren die Finanzmathematiker zu einem gerüttelt Maß mit schuldig am Finanzkollaps 2008, aber

(die ja wegen ihrer enormen Komplexität sowieso vereinfacht abgebildet werden musste)

in falsche Gleichungen gepresst wurde

           (mit denen dann richtig weiter gerechnet wurde),
Oder um es mit zwei knappen Zitaten zu sagen:
Die erste große Gefahr steckt also in der Finanzmathematik:

Die zweite große Gefahr steckt darin, dass man mit der Mathematik beispielsweise auch eine Atombombe bauen kann: sprechen wir hier nichtmal von jenen Mathematikern, die direkt in der Waffenindustrie arbeiten

(es gibt Leute, die sagen, das sei in einem "gerechten" oder notwendigen Krieg auch gar nicht verwerflich).

Mich interessiert vielmehr (viel mehr) jene Mathematik, die
(und potentiell ist jede noch so "reine" Mathematik früher oder später anwendbar!; vgl. nur etwa Folgendes über den großen Mathematiker


Godfrey Harold Hardy
[1877 - 1947]


[Quelle: ]).

Da ist es mir doch ein bisschen zu simpel, wenn man sagt, der Urheber sei per se unschuldig

(was konnte die arme Atombombe dafür, dass sie von bösen Menschen über Hiroshima abgeworfen wurde?!).

Kriegstechnisch wichtig ist die Mathematik auch in der Kryptographie, also bei der Ver- und Entschlüsselung von Daten:

„Es heißt, der Erste Weltkrieg sei der Krieg der Chemiker gewesen, weil zum ersten Mal Senfgas und Chlor eingesetzt wurden, der Zweite Weltkrieg der Krieg der Physiker, weil die Atombombe abgeworfen wurde. Der Dritte Weltkrieg würde der Krieg der Mathematiker werden, weil die Mathematiker die nächste große Kriegswaffe, die Information, kontrollieren würden."
(Simon Singh in ; vgl. auch )

Drittens sind Mathematiker massiv an der Computerisierung der Welt und "Big Data", d.h. der Ausspähung all unserer Lebenszeichen, beteiligt:
(Wo das hin führen könnte, hat beispielsweise der Film gezeigt, wobei "Matrix" nicht zufällig ein mathematischer Ausruck ist.)

Viertens sind die Mathematiker massiv an der übertriebenen und strubbelnaiven Quantifizierung (= Codierung in Zahlen) der Welt beteiligt, die derzeit fröhliche Urständ feiert

(jener Quantifizierung, die der Denkweise vieler Laien/Schüler so fremd ist oder bei der es ihnen eiskalt den Rücken herunter läuft).

All das würde eigentlich auch dringend in den Matheunterricht gehören

(wird dort bislang aber systematisch verschwiegen bzw. kommt einfach deshalb nicht vor, weil es vielen ungebildeten Mathelehrern schlichtweg unbekannt ist;

oder da wird zwar nach "Anwendungen" geschrien, das Nachdenken über diese Anwendungen aber als "unmathematisch" abgetan: "das überlassen wir den Sozialwissenschaftlern" [als wenn diese Ahnung von Mathematik hätten]:

man kann seine Sünden nicht von anderen beichten lassen!)
.

PS: so kann man sich vertun:

vielen Tageszeitungen in Deutschland liegt freitags das TV-Programm-Blättchen bei. Und was soll man bei solch einem Käseblättchen schon erwarten?!
(Vgl.  )
Aber weit gefehlt: nicht nur fallen beim - zugegebenermaßen schmalen - redaktionellen Inhalt von immer wieder die exzellenten (linken) Kurzkommentare zum Zeitgeschehen auf, sondern jetzt (Januar/Februar 2017) glänzt auch mit einer hervorragenden populärwissenschaftlichen dreiteiligen Serie des Mathematikers (!) Ulrich Trottenberg über Algorithmen in der digitalen Welt:
  • "Die DNA unserer digitalen Welt"
  • "Auf dem Weg zur künstlichen Intelligenz"
  • "Intelligente Maschinen, böse Roboter"
Sowas gehört dringend in den Schulunterricht!                                         
                                                                                                                             
PPS: , auf Deutsch

PPPS:   

PPPPS:
PPPPPS:
„[…]
beschrieb eine von der Logik beherrschte Gesellschaft, in der alles in Zahlen umgewandelt wurde und das Leben jedes Einzelnen bis ins kleinste Detail geregelt war, um maximale Effizienz zu gewährleisten. Eine unerbittliche, aber bequeme Diktatur, in der es für jeden möglich war, in einer Stunde einfach per Knopfdruck drei Sonaten zu produzieren, und in der die Geschlechterbeziehungen durch einen automatischen Mechanismus geregelt wurden, der die kompatibelsten Partner ermittelte und die Möglichkeit eröffnete, sich mit jedem einzelnen zu paaren. In Samjatins Welt war alles transparent, selbst auf der Straße, wo eine Membran, gestaltet wie ein Kunstwerk, die Gespräche der Fußgänger aufzeichnete.
[…]
beschrieb nicht nur die Sowjetunion, es erzählte vor allem von der glatten, von allen Unebenheiten bereinigten Welt der Algorithmen, von der entstehenden globalen Matrix und im Kontrast dazu von der hoffnungslosen Unzulänglichkeit unserer primitiven Gehirne. Samjatin war ein Orakel, er wandte sich nicht nur an Stalin: Er nahm alle künftigen Diktatoren ins Visier, die Oligarchen des Silicon Valley ebenso wie die Mandarine der chinesischen Einheitspartei. Sein Buch war die letzte Waffe gegen den digitalen Bienenstock, der den Planeten zu überziehen begann, und meine Aufgabe war es, sie auszugraben und in die passende Richtung zu lenken. Das eigentliche Problem war, dass die mir zur Verfügung stehenden Mittel nicht gerade geeignet waren, Mark Zuckerberg oder Xi Jinping in Angst und Schrecken zu versetzen.
[…]“

(Quelle: )