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Sokrates (470 - 399 v. Chr.)

 

"Die ungelöste Frage der dunklen Materie ist mehr als ein wissenschaftliches Problem, sie ist eine Schande. Nach Meinung vieler Physiker sind wir im Begriff, die endgültige Beschreibung der materiellen Welt zu finden - jene »Theorie für alles«, die sich unserem Zugriff so lange entzogen hat. Doch wie läßt sich dieses ehrgeizige Vorhaben verwirklichen, solange der größte Teil der Substanz, aus der das Universum besteht, unsichtbar bleibt? [...]
Verständlicherweise bestrebt, mit einem Problem von so grundlegender Bedeutung weiterzukommen, haben die Physiker in ihrer Verzweiflung [...] nach vier Jahrhunderten empirischer Wissenschaft die Fakten wieder mit Fiktionen gemischt, um eine Beschreibung des Kosmos anbieten zu können."
(Hans Christian von Baeyer)

Solch ein Eingeständnis des Nichtwissens und Plädoyer für Populärwissenschaft ist doch wahrhaft

Wasser auf meine Mühlen!:

DIE ZEIT, 20.7.2000

Der gordische Knoten bleibt zu

Je mehr die Wissenschaft herausfindet, um so weniger weiß sie. Bekenntnisse vom 50. Nobelpreisträger-Treffen in Lindau/VON JOACHIM ROGOSCH

Wie war es doch vordem so schön, als Naturwissenschaftler das Glauben noch den Theologen überließen. Strenge Logik, sichere Beweise und unumstößliche Tatsachen bestimmten ihr Weltbild. Die Zeiten sind vorbei. Physiker, Chemiker und Biowissenschaftler produzieren zwar immer mehr Ergebnisse - doch sie wissen immer weniger. Nicht, weil den Forschungseinrichtungen das Geld ausginge, sondern weil sie mit jedem Erkenntnisfortschritt auf immer größere Komplexität stoßen.

Als vergangene Woche 53 Nobelpreisträger der naturwissenschaftlichen Sparten in Lindau am Bodensee zusammentrafen - immerhin fast ein Drittel der lebenden Laureaten -, da war nichts mehr von der Siegesstimmung früherer Jahre zu spüren. Damals, als Astrophysiker noch behaupteten, sie hätten jetzt nur noch die letzten Sekunden bis zum Urknall zu erforschen, und dann wisse man ein für alle Mal Bescheid.

Ein zaghaftes „Ich glaube ..." bestimmte den Diskurs. Und das unter den angesehensten Vertretern der rationalen Wissenschaft. „Ich glaube ..., Leben ist Chemie", sagt Christian de Duve, Medizinnobelpreisträger von 1974 aus Brüssel. Wenn außerhalb der Erde ähnliche Bedingungen wie hier herrschten, entwickele sich Leben auch ähnlich. „Aber das ist natürlich reine Spekulation!", schränkt de Duve ein. „Ich glaube ..., das einzige biologische Gesetz ist die Selektion", sagt Hamilton Smith, Duves Kollege aus den USA. „Ich glaube ..., dass wir irgendwann physikalisch beschreiben können, was Bewusstsein ist", sagt Edmond Fischer, Medizinlaureat von 1992 aus den USA. Und Manfred Eigen, einer der großen, alten Gelehrten, der vor 33 Jahren den Chemienobelpreis bekam, schließt vorsichtig: „Ich glaube..., wir sollten sagen, dass wir vom Bewusstsein nichts verstehen. Wir sollten schon froh sein, wenn wir uns mit einfachen Dingen sinnvoll beschäftigen können." – „Wir bewegen uns vom Zustand, in dem wir dachten, wir wüssten viel, dahin, dass wir merken: Wir wissen wenig. In der Biologie wissen wir fast nichts", bringt Richard Roberts, ein praktisch denkender Mann, der seit Jahren bei der New England Biolabs Company im amerikanischen Beverly Gene erforscht, das Lebensgefühl seiner Nobel-Kollegen auf den Punkt.

Nun war es kein leichtes Thema, zu dem sich die Fach-Koryphäen in der Lindauer Inselhalle äußern sollten: Ursprung und Fortpflanzung des Lebens. Aber die Bescheidenheit der Naturwissenschaftler rührte nicht aus der Nähe zur Philosophie, die ein solches Thema mit sich bringt. Sie bezieht sich auf das eigene Forschungsgebiet. Und das wenige Tage, nachdem mit Pomp das Human Genome Project in die Welt hinausposaunt wurde. Der Sieg über Krebs und Erbkrankheiten, über den Tod gar bis zum 120. Lebensjahr - solche Vorstellungen zwischen Euphorie und Schrecken lösen auf dem größten Nobelpreisträgertreffen der Welt nur Befremden aus unter den Leuten, die zur Erforschung des menschlichen Genoms ihren Beitrag geleistet haben.

Günter Blobel, der „Neue" in Lindau, der im vergangenen Jahr den Medizinnobelpreis erhielt, sieht in der so genannten Entschlüsselung des menschlichen Erbguts nichts als eine „technische Errungenschaft". Der gebürtige Schlesier, der seit 1967 in den USA forscht und lehrt, hat sich bei Craig Venters Firma Celera die Maschinen und Computer angeschaut und beruhigt festgestellt, dass die „langweilige" DNA-Sequenziererei nun nicht mehr von armen Wissenschaftlern gemacht werden muss. „Aber dass man Gene sequenzieren kann, das wusste man vorher. Jetzt ging es halt etwas schneller." Blobel zitiert Francis Collins, den Leiter des amerikanischen Humangenomprojekts: „Das ist nicht das Ende der Forschung", hatte Collins gesagt. „Das ist höchstens das Ende vom Anfang."

Günter Blobel ist ein souveräner Vertreter der Wissenschaft [...]. Aber sonderlich stolz ist er auf die Genomentschlüsselung, diesen „Meilenstein“ der Wissenschaft nicht. „Da gibt es viel Aufregenderes", sagt er. All diese Reizworte, Dolly, das Klon-Schaf, oder der angekündigte „gläserne Mensch" schrecken ihn nicht. Nicht weil er ein bedenkenloser Verfechter des Eingriffs in das Erbgut von Lebewesen wäre. Sondern weil er weiß: „Die Forscher können so etwas machen. Aber was da wirklich passiert, ist völlig unbekannt. An gezielte Genveränderungen ist deshalb noch sehr lange überhaupt nicht zu denken." Was nicht heißt, dass man keinen Unfug damit machen könnte. Aber das kann man auch ohne Gentechnik.

Blobel hält nicht viel von dem „Massending“ DNA mit seinen vier Buchstaben, die ein paar Millionen Mal hintereinander gehängt sind. Sein Ding sind die Proteine, die nach dem DNA-Bauplan entstehen. An einem einzigen Eiweiß forscht er nun seit zweieinhalb Jahren. Das Molekül „weigert sich zu tun, was wir wollen". Beständig kämpft er mit diesem einen „Individuum“, das nur aus 20 Bausteinen besteht. „Aber es sitzt wie ein Drache in der Höhle und lässt sich nicht locken." Jede Faltung, jede Berührung mit anderen Proteinen ist wesentlich. „Wir wissen noch ganz, ganz wenig davon", sagt Blobel. Wenn er mehr wüsste - „das dauert aber noch ganz lange" -, dann hätte er ein einziges Protein erforscht. Eines von Abertausenden. Und dort spiele sich das Leben ab, nicht in der DNA ...

Eigentlich ist es beruhigend, was die Leute sagen, die es wissen müssen. Beruhigend für alle, die Angst haben vor den Frankensteins, die demnächst Menschen nach Wunsch formen sollen. Warum sind dann aber so viele nicht beruhigt? Weil sie keine Ahnung haben von der Ahnungslosigkeit der Forscher. Das Verhältnis der Wissenschaft zur Öffentlichkeit ist gestört, zumindest in Deutschland. Auch das war eine Erkenntnis, die in Lindau an mehreren Stellen offenbar wurde. Blobel sieht es daher als große Verpflichtung der Forscher, der breiten Öffentlichkeit nahe zu bringen, was in den Labors eigentlich passiert. „Was Sie tun, müssen Sie Ihrer Großmutter erklären können, sonst haben Sie es selber nicht verstanden", sagt er seinen Studenten. In der Selbstdarstellung sieht er eine gesellschaftliche Aufgabe. „In Deutschland dagegen leben die Wissenschaftler in einem Elfenbeinturm, und wer der Öffentlichkeit erklärt, was er tut, gilt als eitler Selbstdarsteller."

Auch Sir Harold Kroto, Chemienobelpreisträger von 1996, geht mit der Öffentlichkeitsarbeit deutscher Forscher hart ins Gericht. Der Brite kämpft seit Jahren für Wissenschaftssendungen im Fernsehen und hat einen Internet-Auftritt entwickelt, der Interessierte über das Geschehen in den Forschungslabors aufklären soll. Wer auf www.vega.org.uk klickt, erfährt, was läuft in den Genküchen. Krotos These: Angst entstehe aus Mangel an Aufklärung.

Was aber können die Nobelpreisträger tun, um Öffentlichkeit herzustellen für Themen, die schon aufgrund ihrer Komplexität nur wenigen zugänglich sind? In der neuen Infotainment-Kultur kommen vorsichtige, aber seriöse Einschätzungen, die mit den Worten „Ich glaube ..." beginnen, nicht an. Deftige Thesen von der schönen neuen Welt per DNA-Entschlüsselung dagegen sind populär, auch wenn sie stark übertrieben sind.

Nur wenige Forscher können so anschaulich den Stand der Wissenschaft vermitteln wie Blobel oder Kroto. Immerhin, diese Tatsache wurde auch in Lindau erkannt, wo der Kontakt zwischen Nobelpreisträgern und rund 650 geladenen Studenten aus aller Welt dem Brückenschlag zwischen Spitzenforschung und Öffentlichkeit dienen sollte. Ausreichend ist das Gespräch zwischen der winzigen Elite der Nobelpreisträger und einer kleinen Elite von anwesenden Studenten aber nicht.

Manfred Eigen hat in Lindau darauf hingewiesen, dass sich die Zustände in der Welt nicht durch eine Genveränderung verbessern werden, sondern nur durch „mehr Hirn". In Tagen, in denen ein nicht ganz abgeschlossenes Human Genome Project als Beginn einer neuen Weltzeit ausgerufen wird, ist dieser Hinweis hilfreich. Es ist wie mit dem kürzlich vom Vatikan offenbarten „dritten Geheimnis von Fatima". Solange man seinen Inhalt nicht kennt, ranken sich Hoffnungen und Ängste darum. Wenn man sich die Erkenntnisse des Vatikans oder die Strichlisten von Celera dann genauer ansieht, stellt man fest: wieder kein Rezept für die Weltrettung.