"Wissenschaftsgeschichte - wozu?
Warum in die Vergangenheit schweifen,
wo die Zukunft liegt so nah?
Vorweg ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Mathematik und Naturwissenschaften:
in der Mathematik (als einzigem Fach!) gibt es endgültige Wahrheiten: wenn etwas (allgemeingültig!) bewiesen ist, gilt es ab da für alle Zeiten (und galt es auch schon - wenn auch unerkannt - vorher), stockt also sozusagen die Geschichte (wird ewig gleich) bzw. können nur weitere Erkenntnisse hinzu kommen
(allerdings gibt es laut Gödel Fälle, die [vereinfacht gesagt: im vorliegenden Mathematikgebäude] weder beweisbar noch widerlegbar sind);
Naturwissenschaft hingegen kann nie etwas beweisen (bereits der nächste Fall könnte die Ausnahme bzw. das Gegenbeispiel sein) und "nur" mehr oder minder "gute" Theorien aufstellen
(für eineN richtigeN MathematikerIn ist die Naturwissenschaft also gar keine Wissenschaft, sondern letztlich genauso "weich" wie Geisteswissenschaften).
Daraus könnte man schließen:
NaturwissenschaftlerInnen mögen die Geschichte ihres Faches betrachten, MathematikerInnen sind aber darüber erhaben
(und sowieso tun die meisten VertreterInnen beider Disziplinen es nicht).
Naturwissenschaft ist zeitbedingt, Mathematik jenseits aller Zeiten.
Wieso nach all dem noch (oder überhaupt erst) ? Bleibt da
nur die "Hin-Richtung", also die Auswirkungen der Mathematik auf die (sonstige) Kultur,
nicht aber die "Rück-Richtung", also die Auswirkungen der (sonstigen) Kultur auf die Mathematik?
Genau so verstehen sich ja viele MathematikerInnen:
die Erkenntnisse der Mathematik entstehen aus dem luftleeren Raum (kulturell voraussetzungslos),
die Mathematik stellt anderen Wissenschaften nur ihre fertigen Erkenntnisse zur Verfügung, kann aber von diesen nichts Substantielles lernen
(mag sein, dass ein Physiker ein noch ungelöstes mathematisches Problem aufwirft; wenn aber dessen Lösung gefunden ist, hat es nichts mehr mit Physik zu tun),
Mathematik ist der Fortschrittsmotor ohne Rückspiegel
(wobei man immerhin eingestehen mag, dass der Fortschritt manchmal katastrophal war; aber das liegt nicht an der wertfreien Mathematik, sondern an ihren Anwendungen).
Mathematik und Naturwissenschaften funktionieren (!) wunderbar ohne Geschichte. Wieso sich also noch mit dem Ballast des ehemaligen
Nicht-
oder Falsch-Wissens
beschäftigen?
Vielleicht können und dürfen aktive (junge!) MathematikerInnen und NaturwissenschaftlerInnen auch keinen blassen Schimmer von der Geschichte ihres Faches haben:
"können nicht", weil
sie selbst noch keine Geschichte haben
(wie sollten sie da die "äußere" Geschichte und sich als deren Teil verstehen?),
das für jeden Fortschritt anzueignende fachliche Vorwissen inzwischen derart immens ist, dass weder Platz noch Zeit für zusätzliches historisches Wissen bleibt;
"dürfen nicht", weil sie dann mit allzu viel "wenn´s und aber´s" belastet wären, sie aber dringend die Naivität des "was kost´ die Welt" haben müssen; ihre Kreativität würde einfrieren, wenn sie immer dächten: "vielleicht gab´s das schon, und überhaupt spricht da allerlei gegen", und die Fülle des ja in der Tat bereits vorhandenen Wissens schüchtert schnell ein
("was soll ich nach nach dem Monolithen Einstein noch bewegen?").
Vielleicht ist Wissenschaftsgeschichte also ein Refugium jener, die nicht mehr mathematisch und naturwissenschaftlich kreativ sind (außer in der Wissenschaftsgeschichte) oder es niemals waren: von
Geisteswissenschaftlern (Historikern und philosophischen Erkenntnistheoretikern), die doch auch mal (von jeder tieferen Ahnung unbeleckt?) in die Naturwissenschaften reinschauen und zwischen beiden Wissenszweigen eine Brücke bauen wollen,
honorigen ehemaligen MathematikerInnen und NaturwissenschaftlerInnen, deren wissenschaftliche Kreativität versiegt ist bzw. die längst "weiter" sind: bei der (manchmal von schlechtem Gewissen geprägten; vgl. Heisenberg?) kulturell-philosophisch-historischen Einordnung der Fakten;
LehrerInnen, die aus der Not, nicht (mehr) vorne mitspielen zu können, die Tugend machen, rückwärts zu schauen: wer nicht mehr lebt, neigt zur Nostalgie?
Oben war bereits gesagt worden, dass aktive WissenschaftlerInnen vielleicht gar keine Zeit für die Wahrnehmung der Wissenschaftsgeschichte haben.
Und ich bin allemal auch skeptisch gegenüber Versuchen, einseitig naturwissenschaftliches Denken (vgl. ) zwangsweise aufzubrechen, indem man etwa Wissenschaftsgeschichte (oder ein "Philosophicum") verbindlich für alle Mathematik- und Naturwissenschaftsstudenten macht: das endet vermutlich genauso wie das zwangsweise Fachdidaktik- und Pädagogikstudium für Mathematik- und NaturwissenschaftslehrerInnen: es wird widerwillig pro forma abgehakt
(am liebsten per multiple choice),
erhöht aber nur die Abneigung gegenüber solch angeblichem "Geschwafel"
(wobei ich mich allerdings frage, wie einE guteR LehrerIn sein will, wer Fachdidaktik und Pädagogik derart verachtet; aber solche Leute verstehen sich ja sowieso oftmals als [verhinderte] FachwissenschaftlerInnen und vertrauen darauf, dass man die Wissenschaften nur vormachen muss).
Aber manchmal muss man die Menschen "zu ihrem Glück zwingen", und da ist die Schule der geeignete Ort. Bzw. Schule, die einen "Allgemeinbildungsanspruch" hat, kann und darf keine reinen Fachidioten zulassen (vgl. ).
Schule ist der Ort für erste Einblicke in Wissenschaftsgeschichte |
... und kommt doch dieser (meiner) Forderung bislang fast nie nach.
"Die Geschichte der Wissenschaft ist die Wissenschaft selbst."
(Johann Wolfgang von Goethe)
"Die gesamte Geschichte einer Disziplin wird herangezogen,
um ihren neuesten und »fortgeschrittensten« Entwicklungsstand zu verbessern.
Die Trennung zwischen Geschichte einer Wissenschaft,
ihrer Philosophie und der Wissenschaft selber löst sich in nichts auf [...]."
(Paul Feyerabend)
"Wenn wir uns für die großen Entdecker und ihr Leben zu interessieren beginnen,
wird Wissenschaft erträglich,
und erst wenn wir die Entwicklung der Ideen nachvollziehen,
wird sie faszinierend."
(James Clerk Maxwell)