"Wissenschaftsgeschichte - wozu?

Warum in die Vergangenheit schweifen,
wo die Zukunft liegt so nah?

Vorweg ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Mathematik und Naturwissenschaften:

Daraus könnte man schließen:

Wieso nach all dem noch (oder überhaupt erst) ? Bleibt da

Genau so verstehen sich ja viele MathematikerInnen:


Mathematik und Naturwissenschaften funktionieren (!) wunderbar ohne Geschichte. Wieso sich also noch mit dem Ballast des ehemaligen

beschäftigen?


Vielleicht können und dürfen aktive (junge!) MathematikerInnen und NaturwissenschaftlerInnen auch keinen blassen Schimmer von der Geschichte ihres Faches haben:

Vielleicht ist Wissenschaftsgeschichte also ein Refugium jener, die nicht mehr mathematisch und naturwissenschaftlich kreativ sind (außer in der Wissenschaftsgeschichte) oder es niemals waren: von


Oben war bereits gesagt worden, dass aktive WissenschaftlerInnen vielleicht gar keine Zeit für die Wahrnehmung der Wissenschaftsgeschichte haben.

Und ich bin allemal auch skeptisch gegenüber Versuchen, einseitig naturwissenschaftliches Denken (vgl. ) zwangsweise aufzubrechen, indem man etwa Wissenschaftsgeschichte (oder ein "Philosophicum") verbindlich für alle Mathematik- und Naturwissenschaftsstudenten macht: das endet vermutlich genauso wie das zwangsweise Fachdidaktik- und Pädagogikstudium für Mathematik- und NaturwissenschaftslehrerInnen: es wird widerwillig pro forma abgehakt

(am liebsten per multiple choice),

erhöht aber nur die Abneigung gegenüber solch angeblichem "Geschwafel"

(wobei ich mich allerdings frage, wie einE guteR LehrerIn sein will, wer Fachdidaktik und Pädagogik derart verachtet; aber solche Leute verstehen sich ja sowieso oftmals als [verhinderte] FachwissenschaftlerInnen und vertrauen darauf, dass man die Wissenschaften nur vormachen muss).

Aber manchmal muss man die Menschen "zu ihrem Glück zwingen", und da ist die Schule der geeignete Ort. Bzw. Schule, die einen "Allgemeinbildungsanspruch" hat, kann und darf keine reinen Fachidioten zulassen (vgl. ).

Schule ist der Ort für erste Einblicke in Wissenschaftsgeschichte

... und kommt doch dieser (meiner) Forderung bislang fast nie nach.


"Die Geschichte der Wissenschaft ist die Wissenschaft selbst."
(Johann Wolfgang von Goethe)

"Die gesamte Geschichte einer Disziplin wird herangezogen,
um ihren neuesten und »fortgeschrittensten« Entwicklungsstand zu verbessern.
Die Trennung zwischen Geschichte einer Wissenschaft,
ihrer Philosophie und der Wissenschaft selber löst sich in nichts auf [...]."
(Paul Feyerabend)

"Wenn wir uns für die großen Entdecker und ihr Leben zu interessieren beginnen,
wird Wissenschaft erträglich,
und erst wenn wir die Entwicklung der Ideen nachvollziehen,
wird sie faszinierend."
(James Clerk Maxwell)

Könnte es sein, dass die Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte Fortschritte nicht erschwert, sondern erleichtert?

Wissenschaftsgeschichte

  • zeigt,

    • dass jeglicher (frühere und damit wohl auch derzeitige) Ist- kein Endzustand ist
      (wenn jemand sagte, weiter gehe es nicht, ging es immer sehr wohl noch [oftmals auf anderem Weg] weiter),

    • wie einfach grundlegende (immer dieselben) Fragen oft waren und dass die "Kinderfragen" oft besonders treffend (und nach wie vor unbeantwortet) sind,

    • dass jegliche Wissenschaft auf (in ihrer Zeit meist unbewussten) metaphysischen Annahmen beruht,

    • welche riesigen Lücken das Wissen nach wie vor hat, d.h. welche Forschungsaufgaben noch immer nicht gelöst sind bzw. aus den Augen verloren wurden,

    • wo (im Vergleich mit der Vergangenheit) neue Einseitigkeiten entstanden sind,

    • wo sich ganz neue Fragen stellen und Probleme (Aufgaben) auftun,

    • wie zeitgebunden alle Erkenntnisse (auch die der großen Genies!) sind
      (wodurch Erkenntnisse begrenzt, aber eben auch überhaupt erst ermöglicht werden),

    • dass das allermeiste (frühere und wohl auch heutige) Wissen durchaus hilfreiche Theorie, aber nicht der Weisheit letzter Schluss ist
      ("die Natur ist staunenswert und weitgehend unverstanden wie eh und je, es bleibt viel zu tun, packen wir´s an"),

    • dass unsere Vor-Vorfahren keineswegs beschränkt waren und ihnen allergrößte Dankbarkeit und Bewunderung gebührt
      ("wie konnten die da überhaupt drauf kommen?"; es ist schon wahrhaft erstaunlich, wie alt viele Erkenntnisse sind; vgl.

      "Wenn ich etwas weiter sah als andere, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand."
      [Isaac Newton]),

    • dass Erkenntnis immer schon frisch und gleichzeitig irritierend war
      (Wissenschaftsgeschichte reanimiert also, was zur Gewohnheit verkommen ist),

    • wie frühere Menschen mit großen Mühen und großem Glück Entdeckungen gemacht haben: letztlich Menschen, die genauso "beschränkt" waren "wie du und ich": dass wir also auch selbst Entdeckungen machen können - ja dass die Welt für jeden Menschen neu anfängt?

  • macht immun gegen einseitig modische Erklärungen und Patentrezepte
    (Endzustand [?] Entschlüsselung des Genoms, uralt-neues mechanistisches Denken, "theory of everything" [obwohl es doch "nur" eine Vereinheitlichung aller (bislang bekannten) Kräfte wäre]),

  • befreit von der Einschüchterung durch die

(nicht zu verwechseln mit Respekt vor der)

Überfülle des bereits Bekannten.

Wir haben weder Anlass zu Arroganz noch zu Minderwertigkeitskomplexen: wir arbeiten "nur" am selben Menschheitsprojekt weiter!