der schönste Beweis aller Zeiten

3. Was einen schönen Beweis ausmacht

In einem konkreten Unterricht könnte dieser Teil evtl. nach dem Beweis der Irrationalität folgen. Denkbar wäre es aber auch, eine ganze Unterrichtseinheit zu "Beweisverfahren" durchzuführen (also sozusagen ein Meta-Thema zu wählen) und die verschiedenen miteinander zu vergleichen.

(z.B. ist der "geniale Kick" schwer mit "freundschaftlicher Suggestivität" vereinbar)

Viele mathematische Sachverhalte sind mehrfach bewiesen worden, aber oftmals hat sich (etwa in der Schulmathematik) nur ein Standardbeweis durchgesetzt. Mir scheint, das liegt daran, dass solch ein Standardbeweis besonders gut eins oder mehrere der folgenden Kriterien erfüllt:

Kriterium für die Schönheit eines Beweises ist

  1. manchmal (in der Geometrie) wirklich seine optische Schönheit:

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  1. seine Überschaubarkeit, und zwar

(das ist in der Mathematik leider, aber auch typischerweise oft nicht der Fall: schon Schopenhauer [nicht grade der Dümmsten einer] hat viele mathematische Beweise als hinterhältig empfunden und sich dann reingelegt gefühlt, weil er wohl zwar noch jeden Einzelschritt verstanden hat, aber keine Chance hatte, den Gesamtbeweis zu überschauen.

Man kann aber auch umgekehrt genau an solcher "Hinterhältigkeit" seinen Spaß haben:

"Hobbes

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(1588-1679)

war [...] begeistert davon, daß man eine Behauptung, deren Wahrheitsgehalt nicht offensichtlich war, durch eine [evtl. unübersichtlich lange] Reihe mathematischer Schritte beweisen konnte, indem man sie auf als wahr akzeptierte Behauptungen zurückführte."
(Hal Hellman)

MathematikerInneN [wenn sie ehrlich sind] geht das oftmals auch nicht besser als Schoppenhauer, aber sie gehen anders damit um:

unsere gesamte technisch-naturwissenschaftliche Kultur beruht darauf, dass wir Hilfsmittel und Sonden über die Sinne und den Verstand des Menschen hinaus geschaffen haben. Das nutzen wir tagtäglich, und da wäre es nur billig nostalgisch-sentimental, ja, nachgerade masochistisch, zur reinen Anschaulichkeit zurückkehren zu wollen.

Genauso aber funktionieren viele mathematische Beweise: sie führen über die Anschaulichkeit hinaus. Es ist, als wenn da die Mathematik automatisch arbeite und inneres Leben entwickele. Dadurch muss man sich aber nicht notwendig beschämt fühlen, sondern darüber kann man auch staunen und darauf kann man sogar stolz sein. Denn letztlich hat der Mensch all das selbst geschaffen und sich somit selbst übertroffen [nicht: überflüssig gemacht]. Schöner Anlass ist da aber der Nachweis der Irrationalität.

Es ist wie mit der Heliozentrik. Manchmal wird sie als Erniedrigung des Menschen empfunden, weil er aus dem Zentrum des Weltalls katapultiert wurde. Man kann´s aber auch umgekehrt sehen, und so haben es ihre Entdecker auch wahrgenommen: durch die Herrlichkeit des Modells wurde doch nur [der angeblich aus dem Weltall entfernte] Gott verehrt - und schließlich hatte all das der Mensch entdeckt, und zwar - was das Ganze nur noch großartiger macht -, obwohl er mit seinem Po auf der Erde klebt.

Wichtig ist halt nur, dass man sich bei genialen Entdeckungen nicht [als dumm] aus-, sondern als Mensch [!; "wir"] eingeschlossen bzw. sich als Teil des historisches Flusses und legitimer Erbe fühlt: wir haben die schier unglaubliche Chance, mit den Genies verschiedener, auch lang entfernter Zeiten zu sprechen [statt betriebsblind und kurzfristig in der Gegenwart rumzuirren], und sie sprechen sozusagen gleichberechtigt zu und durch uns.)

  1. seine Kürze:

(und doch besteht die Gefahr, dass ein Beweis allzu kurz [ausgeführt] ist; wer hat sich im Studium nicht darüber geärgert, sich aber auch dadurch gedemütigt gefühlt, dass da manchmal nur stand?: "daraus folgt trivialerweise ..." - nur folgte das für einen selbst keineswegs automatisch, sondern brauchte man zig Zeilen, um die angeblich so einfachen Zwischenschritte zu rekonstruieren: so dass der nur scheinbar kurze Beweis dann eben doch wieder ellenlang wurde)

  1. das, was ich mal "freundschaftliche Suggestivität" nennen möchte: der Gedankengang des Beweises scheint sich von selbst zu ergeben, die Kommentierung ist so klar, dass man das Gefühl bekommt: "da hätte ich auch selbst drauf kommen können, ja, da bin ich durch unmerkliche Begleitung selbst drauf gekommen".

  2. der "geniale Kick", also genau das Gegenteil von d.:

Der "geniale Kick"

(erst hinterher denkt man sich dann vielleicht: "Stop, was war das gerade?");

  1. der mathematische Fortschritt:

der scheinbar isolierte Einzelbeweis (bzw. eine bestimmte Beweisidee [der "geniale Kick"]) bezieht sich nicht nur auf einen (eben den gerade zu beweisenden) mathematischen Sachverhalt, sondern

(weil da ein komplett neues Beweisverfahren, d.h. eine ganze Klasse von Beweisen entdeckt wurde)

(löst auf Anhieb viele analoge Probleme bzw. liefert einen neuen Grundstein, auf dem dann logisch aufgebaut werden kann),

wenn nicht gar die gesamte Mathematik.

  1. dass da an einem Beweis grundlegende Denkweisen der gesamten Mathematik klar werden, der Beweis also exemplarische Mathematik in nuce ist

(so dass man fast sagen könnte: "wer diesen Beweis verstanden hat, hat auch verstanden, was [die gesamte] Mathematik überhaupt ist bzw. ausmacht").

 

Im Hintergrund sichtbar ist die erste Seite des Jahrtausendbeweises der Fermatschen Vermutung von Andrew Wiles. Ein nebenbei aberwitzig komplizierter Beweis einer ebenso aberwitzig einfachen Vermutung, die - nochmals nebenbei - auch was mit Pythagoras zu tun hat.

(vgl. Bild )

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