x3 - x = 0

(oder warum SchülerInnen sowas natürlich NICHT können)

Der Anlass: ein Lehrer war hellauf entsetzt, dass die meisten SchülerInnen seines Mathematikkurses nicht  (bzw. nicht mal) die Gleichung x3 - x = 0 lösen konnten (d.h. mit allen Lösungen): "Noch einfacher geht's doch gar nicht mehr, und auf welches unterste Niveau soll ich mich denn noch herablassen?"

Meine Antwort: "Die Schwierigkeiten der SchülerInnen wundern mich - und zwar gerade bei diesem Beispiel - gar nicht, ja ich hätte sie dir voraussagen können, denn das Beispiel ist gar nicht so einfach, wie du denkst."

(... und zwar nicht, weil ich [heutige] SchülerInnen für besonders blöd hielte; und sowieso "erledigen" einige SchülerInnen solch eine Gleichung wie oben ja "mit links" - nur ist das pädagogisch völlig uninteressant.

Ein immerhin doch gewichtiger Unterschied ist, dass LehrerInneN die Gleichung x3 - x = 0 altbekannt, SchülerInneN hingegen üblicherweise neu ist. Und zwar nicht etwa wegen der Banalität, dass eine Lehrkraft, die Aufgaben stellt, diese kennt [auch üblicherweise durchgerechnet haben sollte], sondern weil die Funktion f: y = x3 - x eine Standardfunktion ist: die einfachste Funktion 3. Grades mit [zudem berechenbaren] mehreren Nullstellen. Das ist ja überhaupt der Grund, weshalb diese Aufgabe so oft, ja geradezu mit Sicherheit gestellt wird. Und seien wir ehrlich: sie wird gestellt, weil [damit?] dabei erwartbar Standardfehler [s.u.] auftreten. Wie können diese einen dann noch wundern, ja wie kann man sie dann angeblich dummen SchülerInneN noch zum Vorwurf machen?)


Woran's liegt, dass SchülerInnen mit x3 - x = 0 Schwierigkeiten haben?

  1. daran, dass die Gleichung für SchülerInnen völlig abstrakt bleibt. Statt

x   3 -    x   0

hätte man genauso gut

Vaku - um = nix

hinschreiben können.

Der Funktionsbegriff bzw. im vorliegenden Fall die Funktion f: y = x3 - x scheint ja auf den ersten Blick eine Erschwerung gegenüber der Gleichung x3 - x = 0 zu sein. Gerade "schwächere" SchülerInnen könnten aber mit ihm schon weiter kommen, und zwar indem sie eine Wertetabelle aufstellten (was sie viel zu selten tun, wenn sie nicht weiterkommen). Und schon bei den einfachsten x-Werte würden ihnen die Nullstellen "geschenkt".

  1. weil SchülerInnen (durch unseren Unterricht!) völlig übermathematisiert sind und nicht mehr einfach denken können: vor lauter Bäumen (Theoriewust und überhaupt Rechnen bis zum Abwinken) sehen sie den Wald nicht mehr. Bzw. sie schießen mit (mathematischen) Kanonen auf Spatzen!

Ich rekonstruiere das mal folgendermaßen: ein Schüler hat (anders als in 3.) immerhin erkannt, dass da eine Funktion 3. Grades "hinter steckt", und sich gedacht: "die können wir nur lösen, wenn man eine einfache Nullstelle direkt »sehen« kann - und dann ist eine Polynomendivision durchzuführen".

Was aber, wenn in einem schwierigeren Beispiel

(z.B. x3 - 5x = 0)

die erste Nullstelle nicht so einfach zu sehen ist wie in x3 - x = 0?

Sense, Ende der Fahnenstange, Totalzusammenbruch (der Schüler kommt nicht mal mehr zur Polynomendivision).

Dabei bin ich davon ausgegangen, dass die angeblich einfachste Lösung, nämlich x = 0, keineswegs so augenfällig ist, wie MathematikerlehrerInnen meinen

(ich habe sowas angeblich Banales auch schon in öfters unerschütterlicher Betriebsblindheit übersehen).

Mal angenommen, ein Schüler "sieht nix" - und rechnet einfach

("das kann ja nie schaden und soll ab und zu sogar zu Lösungen geführt haben")

x3 - x = 0 | +x     

Bild    x3       = x

Stopp!

  1. SchülerInnen rechnen oft blind drauflos und eisern voran, statt sich erst mal anzuschauen, was sie schon haben:

Gesucht ist eine Zahl x, deren "Kubus" identisch mit ihr selbst ist. Da rechnet "man" doch nicht mehr weiter, sondern "sieht" die (hier noch nicht verratene) Antwort!?

  1. ... womit sich aber schon das nächste Problem zeigt: man muss sich immerhin schon mit den simpelsten Potenzen der simpelsten (ganzen!) Zahlen auskennen - und solch simple Effekte kennen wie den,

Unser hypothetischer (und gar nicht so dummer!) Schüler rechnet aber weiter, denn er hat ja (durchaus hilfreich!) endlich doch bemerkt, dass x (und sonst nichts) auf beiden Seiten der Gleichung vorkommt

(wobei - das gleich vorweg - nicht ich hier die Äquivalenzzeichen mache, sondern unterstelle, dass unser Schüler sie "dem Lehrer zuliebe" macht bzw. "weil man das immer macht"):

       x3       = x | : x

Bild   x2       = 1 | √

Bild   x        = 1

Das Ergebnis ist richtig: der Schüler hat ein x gefunden, für das die Gleichung tatsächlich aufgeht, denn 13 - 1 = 0.

Oder genauer: das Ergebnis ist fast richtig - bzw. zu ⅔ "falsch". "Falsch", weil zwei der insgesamt drei Nullstellen übersehen wurden bzw. nicht "rauskamen" - oder wieder genauer: endgültig verschwunden sind und wohl auch beim besten Willen nicht mehr rekonstruierbar sind. Der Schüler ist mit der Aufgabe fertig - oder muss geradezu meinen, es zu sein.

Was ist - erst mal nur rechnerisch - schief gelaufen? Standardfehler:

  1. Beim Wurzelziehen von der vorletzten zur letzten Zeile wurde die 2. Möglichkeit, also x = - 1, übersehen. Und dafür gibt es gute Gründe:

die Notwendigkeit einer Fallunterscheidung war nicht mehr präsent, denn schließlich "sieht" man nur die positive Lösung ("kein Minus weit und breit") und wurde vielleicht sogar mehr verstanden: als Wurzel aus einer positiven Zahl ist nur die positive Lösung definiert, damit die Wurzelfunktion eben eine "Funktion" bleibt.

Korrekt wäre also

      x2       = 1 | √

Bild  x        = 1 oder x = - 1

Bzw. in der ursprünglichen Lösung dürfte am Ende zumindest kein Äquivalenz-, sondern nur ein (Rück-)Folgerungspfeil auftauchen, weil ja eine Lösung (nämlich - 1) verschwindet:

      x2       = 1 | √

 <= x        = 1

(denn wenn x = 1 ist, dann ist auch x2 = 1;
 aber wenn x2 = 1 ist, folgt daraus nicht [nur] x = 1, sondern ebenso x = - 1;

mir scheint aber, dass dieser Rückwärtspfeil für SchülerInnen - auch wenn sie ihn ja gerade vermeiden sollen - endgültig irritierend ist: man rechnet vorwärts und folgert rückwärts!?)

Insgesamt ist also - 1 die zweite der drei angekündigten Lösungen, denn

    (-1)3 - (-1) =

=   -1      + 1 = 0

  1. Wo aber ist die dritte Lösung abhanden gekommen? Nun, das sieht jedeR MathematiklehrerIn natürlich sofort, und mich interessiert ja auch eher: weshalb?

Der Fehler lag offensichtlich schon einen Schritt vorher, also bei

       x3       = x | : x

Bild   x2       = 1

Natürlich darf man so auf beiden Seiten durch x teilen - nur eben nicht, wenn x = 0 ist. Dann nämlich tritt der mathematische Super-GAU ein.

Das Problem ist nur: man sieht es nicht

(der Super-GAU bleibt, wie das so bei Atomkraftwerken fatalerweise der Fall ist, leise sowie geruch- und farblos),

denn x ist ja noch eine Unbekannte (potentiell alle Zahlen!) - und wieso sollte sie ausgerechnet Null sein?

Mehr noch: selbst wenn ein Schüler sieht, dass man den Fall x = 0 ausnehmen muss

(in diesem einzigen Fall nicht auf beiden Seiten durch Null dividieren darf):

damit ist noch lange nicht klar, dass x = 0 die dritte angekündigte Lösung ist

(denn 03 - 0 = 0).

Wenn dieser Sonderfall

(oder überhaupt die regelmäßige Betrachtung auch komplizierterer Divisoren, die ggf. Null sein können)

nicht vorher stetig im Unterricht vorkam, hat der Schüler also keine Chance, ihn hier zu sehen.

(Sicherlich muss man manchmal gewisse Regeln derart einbläuen, dass sie sozusagen eine unbewusste Allergie auslösen: "durch Null darf man NIEMALS teilen!!!"

Aber reicht das? Muss nicht vielmehr auch ein "Gefühl" dafür entwickelt und immer wieder erneuert werden, was eine Division durch Null bewirken würde?:

Letztlich aber gilt auch hier wieder: erst denken - dann (vielleicht gar nicht mehr) rechnen

(oder zumindest: wissen, was rauskommen kann, und spätere Ergebnisse daran messen):

Der Schüler muss doch eigentlich nur erkennen:

x3- x = 0 , d.h.

Solche GrundsatzÜberlegungen müssen

(inkl. geometrischer Veranschaulichung und umgekehrt dem Rückschluss zur Algebra)

im Unterricht immer wieder da gewesen sein. Der "Fundamentalsatz der Algebra", der dahinter steckt, muss ja weder mit Namen erwähnt oder gar bewiesen sein, aber immer wieder "im Raum stehen".

Höchst interessant ist auch, dass unser hypothetischer Schüler

(der gar nicht so hypothetisch ist: so zu rechnen war ja der erste Vorschlag, als ich die Aufgabe mal [um ihren Denkweisen auf die Schliche zu kommen] unkommentiert SchülerInnen vorlegte)

anfangs

x3 - x = 0 | +x     

Bild    x3       = x

gerechnet hat und nicht unter Anwendung des Distributivgesetzes

 x3 - x      = 0

Bild    (x2 - 1)●x = 0

Beide Lösungswege sind zwar äquivalent, also gleichermaßen richtig, aber letzterer ist "richtiger", weil man in ihm (im Gegensatz zum ersten) die Nullstelle x = 0 noch "sieht" (und auch schon die zweite und dritte, also 1 bzw. - 1):

Das Produkt (x2 - 1)●x ist genau dann Null, wenn einer seiner beiden Faktoren Null ist, also (x2 - 1) = 0 oder x = 0!

(Und nebenbei: bei der zweiten Rechnung ergibt sich nicht mal die Gefahr, versehentlich durch Null zu dividieren.)

Es gibt also günstiges und ungünstiges (wenn auch beides mal richtiges) Rechnen!

Daraus ergeben sich für mich zwei Fragen:

1a) Warum hat der Schüler das ungünstige erste Verfahren gewählt?

  b) Warum hat der Schüler nicht das günstige zweite Verfahren gewählt?

2) Wie ist es "erreichbar", dass er zum günstigen zweiten Verfahren greift?

Zu 1a):

Die Rechnung

x3 - x = 0 | +x     

Bild    x3       = x

scheint mir naheliegend, weil der Schüler einem typischen (und oftmals sinnvollen) Verfahren gefolgt ist: "Vereinfache, was du schwierig findest." Und schwierig erschien ihm eben ein negatives x links. Dass in beiden Summanden links ein x enthalten ist (eine immerhin zum Auffinden der Nullstelle x = 0 wichtige Eigenschaft!), hat er hingegen vermutlich anfangs nicht gesehen

(sondern erst in der zweiten Zeile x3 = x, also ohne störendes Minus).

Zu 1b):

Die Rechnung

 x3 - x      = 0

Bild    (x2 - 1)●x = 0

ist aber für den normalen Schüler keineswegs eine Vereinfachung, sondern glatt im Gegenteil eine Erschwerung: da sind ja - wie bei jeder solcher Anwendung des Distributivgesetzes - sogar noch "eklige" Klammern hinzu gekommen!

(Überhaupt sollte jedeR LehrerIn wissen, dass das Distributivgesetz vielen SchülerInnen Schwierigkeiten bereitet, nämlich immer wieder in der Form a [b +c] = ab + c  falsch angewandt wird.)

Zudem ist die Anwendung des Distributivgesetzes hier ja nur möglich, wenn man bereits "sieht", dass x in beiden Summanden links vorkommt, im Grunde also auch schon (und zwar vorher!) die Nullstelle x = 0 "sieht"

(dann aber erspart sich im Grunde die weitere Rechnung!).

Des weiteren ist die Äquivalenz

(x2 - 1)●x = 0 Bild (x2 - 1) = 0 oder x = 0

auch wieder keineswegs so trivial, wie ein Profi meinen mag, sondern dahinter steckt schon eine ganz erhebliche Abstraktionsleistung, nämlich

das Produkt zweier Terme ist Null, wenn der erste Term oder der zweite Term Null ist.

zu 2., also der Frage, wie man das zweite Verfahren (Ausklammern) "nahelegen" kann:

  1. Weil die Gleichung x3 - x = 0 (obwohl sie doch so zentral ist; s.o.) meistens im Unterricht die absolute Ausnahme ist

(und Ausnahmen prüfen wir ja normalerweise auch [allzu verlässlich?] nicht ab, weil SchülerInnen dann völlig fassungslos reagieren)

- und Unterricht ja sowieso meist (leider) auf den Regelfall hinausläuft:

"eine ordentliche (Standard-)Gleichung 3. Grades hat doch wohl folgendermaßen auszusehen:

ax3 + b  x2 + cx + d = 0,

und da kann man doch nicht "einfach" hingehen und b = 0 sowie d = 0 setzen

(und a = 1 sowie c = -1):

x3 + 0x2 - x + 0 = 0

Bild  x3      -       x       = 0

Darin erkennt doch "kein Schwein" die ausführlichst durchgenommenen Funktionen 3. Grades wieder, bzw. da ziehen ja all die Lösungsverfahren (z.B. Polynomendivision) nicht mehr."

Mehr noch:

"Da verschwindet ja alles! a und c sind nicht mehr sichtbar - und b und d sind völlig futsch. Wie soll man sie dann denn wiedererkennen bzw. rekonstruieren???"

(Nebenbei [s.o.]: braucht man ja auch gar nicht.)

Vgl. auch Sonderfälle bei quadratischen Funktionen: da können SchülerInnen nach einer Unterrichtseinheit vielleicht noch - etwa mit der p-/q-Formel - Standardgleichungen der Form 0 = x2 + px + q lösen, aber wehe, wenn man mal p = 0 oder q = 0 setzt, also 0 = x2 + q oder analog zu oben 0 = x2 + px . Diese eigentlich doch viel einfacheren, weil ohne p-/q-Formel, quadratische Ergänzung oder Satz von Vietà lösbaren Gleichungen sind für die SchülerInnen dann erheblich schwieriger, weil ungewohnt, ja gar oftmals gar nicht mehr als quadratische Gleichungen erkennbar.

Das eigentliche Problem liegt darin:

  1. könnte man (???) ja vielleicht sogar sehen:

(aber auch solche erst mal rein anschaulichen Überlegungen müssen dann immer wieder im Unterricht vorgekommen sein!):

x3      -       x       = 0

bzw.

x3      -       x1       = 0

gehört zu einer besonders einfachen Unterklasse der Funktionen dritten Grades

(einer der wenigen, die wir garantiert - und ohne alle Umwege über Polynomendivision - immer lösen können - wenn sie lösbar sind),

(wobei sich allerdings wieder die Schwierigkeit ergibt, dass der Exponent 1 in der ursprünglichen Gleichung unsichtbar ist),