Lern"umgebung"?
Um'ge·bung [...] einen Ort umgebende Landschaft, umgebender Bezirk, Nachbarschaft; <fig. > eine Person im tägl. Leben umgebende Dinge u. Menschen, Gefolge, Begleitung; die Umgebung Berlins; der Bundespräsident und seine Umgebung <fig. > ; die Umgebung einer Stadt; die nähere, weitere Umgebung (einer Stadt); einen Ausflug in die Umgebung Hamburgs machen; in seiner Umgebung tuschelt man darüber, dass er ...; in dieser Umgebung könnte ich mich (nicht) wohl fühlen; die Stadt hat eine landschaftlich schöne, freundliche, trostlose Umgebung
© Wahrig - Deutsches Wörterbuch
Das Wort "Lernumgebung" (manchmal auch "Lernort" genannt) kommt hingegen derzeit - zumindest im Internet - fast ausschließlich nur noch im Sinne von "virtuelle" Lernumgebung vor.
Eine eindeutige Antwort auf die Frage, warum das so ist, habe ich auch noch nicht:
Bemerkenswert ist ja zweierlei:
Nun kann man sich natürlich darüber streiten, ob der Computer überhaupt eine Umgebung sein kann:
(Bzw. selbstverständlich kann ich in einem Computer sein: genau so, wie ich in ein Buch versinke - oder es in meiner Seele.)
"Ich bin drin!" - Werbespot von AOL
Und der "Raum" (die Monade?) hat sogar Fenster bzw. "Windows".
Es wäre viel zu billig, darüber nur "kulturkritisch" die Nase zu rümpfen ("der Untergang des Abendlandes", der direkt bevorsteht oder aber sowieso immer schon längst passiert ist): Wertheimer zeigt ja in ihrem Buch
"Die Himmelstür zum Cyberspace; Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet" dass der Cyberspace eben gerade nichts wirklich Neues ist:
"[...] Der Cyberspace ist nicht das Produkt irgendeines herkömmlichen theologischen Systems, dennoch ist sein Reiz für viele seiner Verfechter eindeutig religiöser Natur. Daß er keine offenkundig religiöse Konstruktion ist, ist sogar ein entscheidender Punkt zu seinen Gunsten, denn in diesem wissenschaftlichen Zeitalter sind viele Menschen von offenen Manifestationen herkömmlicher Formen von Religion unangenehm berührt. Der religiöse Reiz des Cyberspace liegt deshalb in eben diesem Paradox: Wir haben hier eine neue Verpackung des alten Gedankens vom Himmel, aber in einem säkularen, technologisch akzeptierten Format. Das vollkommene Reich warte auf uns, heißt es, nicht hinter der Himmelstür, sondern jenseits der Netz-Zugänge, hinter elektronischen Türen mit den Aufschriften ».com«, ».net« und ».edu«. [...]"
- Mit kryptoreligiösen Wurzeln ist der Cyberspace-Raum aber eben auch potentiell Ideologie, nämlich die Computerversion von "brave new world" bzw. des Cyberpunks, der nicht mehr pharmazeutische Drogen schluckt, sondern sich einen Chip in den Kopf schiebt und vollends in der virtuellen und - dann ists auch schon wieder egal - gar nicht mehr als solcher erkennbaren "Realität" entschwindet:
Das Dilemma wird auch anderweitig deutlich:
Wenn - wie letztens in einer Diskussion - unter "die Schule bzw. das Schulgebäude verlassen" nur "vor dem heimischen Computer sitzen" verstanden wird, so erscheint es doch immerhin
merkwürdig, dass LehrerInnen da nicht nur auf den sich abzeichnenden rasanten Lehrermangel reagieren, sondern sich schon wohlweislich selbst überflüssig machen (sich also auch nichts mehr zutrauen?),
"verdreht" oder "verkehrt": "die Schule bzw. das Schulgebäude verlassen" kann doch nur bedeuten: "Schule auf die außerschulische Umwelt und Wirklichkeit hin zu öffnen", also die Isolation nicht zu verschärfen, sondern aufzubrechen - und zwar auch, aber nicht nur mittels des Computers.
"Die Schule verlassen" sollte doch kein Selbstzweck sein[die SchülerInnen verlassen sie ja sowieso jeden Nachmittag, und Großteile ihres Lebens und auch ihrer Prägungen finden glücklicherweise eh längst außerhalb der Schule statt],
sondern das Verlassen der Schule sollte der Bereicherung der Schulfächer dienen.
Das ist zwar im unterrichtlichen Alltag nicht immer möglich (und auch nicht immer sinnvoll), sollte aber doch immer wieder exemplarisch durchgeführt werden.
Letztens kam mir als neueste Wortschöpfung "Realerlebnis" unter: gemeint ist damit ein Erlebnis, das ausnahmsweise nicht vorm Bildschirm stattfand.
Die Gründe für das neue "e-learning" bzw. "Teleteaching" erscheinen doch immerhin zwiespältig:
Ermöglichung neuer Formen individuellen Lernens beispielsweise neben einer Berufstätigkeit und überhaupt in veränderten (solistischen, mobilen) sozialen Verhältnissen;
Reaktion auf den absehbaren Lehrermangel;
Herstellung des Lehrermangels
(sprich: Einsparung von Stellen);Misstrauen gegenüber dem Menschen (sich selbst, also auch LehrerInnen);
Riesengewinne für die Computerindustrie, die sich mit den Schulen einen zusätzlichen Markt schafft und die SchülerInnen als potentielle zukünftige Kunden an ihre Produkte gewöhnt;
die Renaissance des behaviouristischen Denkens wie überhaupt der mechanistischen Machbarkeit
("programmiertes Lernen", "garbage in/garbage out"?).Einschlägige Erfahrungen mit Online-Lernen zeigen immerhin, dass die SchülerInnen es andauernd gezielt unterlaufen, indem sie, wann irgend möglich (falls nicht sowieso schon vorgesehen, ja institutionalisiert), wieder möglichst häufig menschliche Kontakte mit MitschülerInnen und ModeratorInnen suchen.
Bei allzu einseitig aufgezogenen Modellen von "Online-Lernen" ist zu "befürchten", dass sie nur eine Modetorheit bleiben und auch schnell wieder vergessen sein werden.
Selbstverständlich sind Computer oftmals nützlich! Dennoch scheint mir - zumindest beim derzeitigen Stand der Computer- und Programmiertechnik - allzu leichtfertig mit dem Wort "interaktiv" umgegangen zu werden:
Interaktion, Wechselbeziehungen, bes. die Kommunikation zw. Individuen [!] innerhalb einer Gruppe.
© Meyer LexikonMeist ist der Wortgebrauch schon falsch oder zumindest fahrlässig: ein Programm alleine kann gar nicht "interaktiv" sein, sondern wenn überhaupt, so wären Computer und Nutzer zusammen "interaktiv". Bemerkenswert am falschen Gebrauch des Wortes "interaktiv" ist es also, dass da der Mensch gar nicht mehr vorkommt.
Wenn das Wort "interaktiv" auf Computer angewandt wird, bedeutet das in der Regel nur, dass der Nutzer ein paar Werte verstellen oder zwischen 2 ½ Wegen (Hyperlinks) "wählen" kann.
("Man kann mein Model T in allen Farben haben, Hauptsache, sie ist schwarz" [Henry Ford])
Von "Interaktion" kann also eigentlich gar keine Rede sein, solange einer der beiden "Partner" (wie eben bislang jedes Computerprogramm) vorprogrammiert ist.
Bei allem bewundernswerten computertechnischen Fortschritt (oder genauer: allem phantastischen menschlichen Erfindungsreichtum, der da eingegangen ist) bleibt doch nüchtern festzuhalten, das Programme bislang "nur" mehr oder weniger eng gestrickt sind, d.h. mehr oder weniger Möglichkeiten eröffnen.
(Was alles nicht ausschließt, dass der Computer ein Mittel zur Interaktion [nämlich von Menschen] sein kann.)
Man verwechsle da sprachliche Genauigkeit nicht mit Miesmacherei! Es liegt mir fern (dafür nutze ich ihn allzu gern), den Computer "an sich" schlecht zu machen.
Man schaue sich mal an, was in NRW an Lehrerfortbildungen im Fach Mathematik angeboten wird: fast ausschließlich computertechnische Fortbildungen, also als gäbe es überhaupt gar keine Mathematik mehr.
Nun habe ich Verständnis dafür, dass LehrerInnen versuchen, neuartige technische Fertigkeiten zu erwerben. Aber soll man auch da unterstellen: Über den Rest wird nicht mehr gesprochen, weil er längst positiv erledigt ist? Immerhin gilt doch:
Worüber man nicht mehr spricht, daran denkt man bald auch nicht mehr.
Damit aber zurück zur "Lernumgebung" bzw. zu einem umfassenden Sinn dieses Wortes eben als "Umgebung":
Wenn überhaupt, so taucht das Wort im Kindergarten- und Grundschulbereich auf, wo die PädagogInnEn sich noch (mit den Kindern zusammen) für die Einrichtung und Ausgestaltung des Gruppen-/Klassenraums zuständig fühlen.
Woran liegt das?:
Da kommt schnell der Vorwurf der "Kuschelpädagogik":
"die Kinder werden nach Strich und Faden bemuttert und bis zum Anschlag verwöhnt, und wir (die LehrerInnen) zeigen ihnen dann später mühsam, wie das richtige Leben aussieht."
Aber ist es nicht auch dadurch erklärbar, dass die Kindergarten-PädagogInnEn noch nicht so einseitige FachlehrerInnen sind, denen der Ort, an dem gearbeitet wird, oftmals egal zu sein scheint?:
"Uns gehts um Höheres als die schnöde [materielle] Einrichtung eines Raums."
Nun muss es ja nicht gleich ein "Snoozle-Raum" sein, auch wenn eine Beschränkung der Sinneswahrnehmung manchmal durchaus angebracht sein kann, denn "Lernumgebung" heißt ja heute oftmals "multimediale" Lernumgebung, wobei die Betonung auf "multi" liegt, also die Gefahr des multimedialen Overkills naheliegt. Die Beschränkung auf wenige Medien (die gute alte Tafel) tut da manchmal dringend wieder not. Schule kann und darf nicht dazu dasein, das Multimedialeben der SchülerInnen fortzusetzen bzw. sich ihm anzubiedern. Und "Multi" ist kein Wert an sich.
(Ich höre aber schon, was jetzt einige sagen werden: "ist doch nur - um der Sache willen - gut, dass die Klassenräume so langweilig sind".)
Es kommt halt immer drauf an: Manchmal ist ein Verlassen der Schule bzw. ein Hineingehen in die Umgebung dringend angebracht: z.B. bei Astronomie, die jemand nie begreifen wird, wenn er die Sterne nie "leibhaftig" gesehen hat. Aber dann muss das Erlebnis auch wieder in sinnlich begrenzter Atmosphäre (also in einem Klassenraum) aufgearbeitet und durchdrungen werden.
Der Hauptaspekt der "Lernumgebung" sollte aber der konkrete Klassenraum sein, in dem unter anderem eben auch Computer stehen können:
da lernen die SchülerInnen bei "Lernen lernen" fast als Allererstes, wie wichtig eine ebenso gemütliche wie anregende Atmosphäre in ihrem Arbeitszimmer zu Hause ist - und verbringen ihr halbes Leben in Schulräumen, die all dem Hohn sprechen!
(Ich kenne eine Klasse, die selbst bei Sonnenschein unter Neonröhren arbeiten muss, weil ihr Klassenraum im Keller permanent dunkel ist. Und das finde ich nicht lässlich, sondern da könnte man durchaus auch von "Kindesmissbrauch" sprechen:
"Man kann einen Menschen ebenso mit einer Wohnung [bzw. einem phantasielosen Klassenraum] wie mit einer Axt totschlagen."
Heinrich ZilleOder noch böser:
"Schulen [und Klassenzimmer] sind wie Altersheime, nur dass in ersteren mehr Menschen sterben."
Bob Dylan)
All das ist keineswegs "nur" vom Kind, sondern durchaus auch von den Fächern bzw. dem Stoff aus gedacht:
Wie sollen SchülerInnen denn beispielsweise recherchieren lernen, wenn nichts zum Recherchieren da ist?!
Anders gesagt: Spezialbücher mögen in der Schulbibliothek stehen, aber Standardwerke (fächerübergreifend und zu jedem Fach) sowie Leselust-Bücher gehören in jeden Klassenraum!
Wie sollen SchülerInnen denn "interdisziplinär" denken lernen, wenn sie - auch in fachlicher Hinsicht - von aller Umwelt abgeschottet sind?!
Oder es ist mir schlichtweg ein Rätsel, wie man jahrelang Matheunterricht ohne jegliche anfassbaren (und überhaupt erreichbaren) Modelle machen kann!
Dabei scheint es mir letztlich doch nur eine faule Entschuldigung, dass
die SchülerInnen all dieses Umgebungsmaterial ja umgehend zerstören würden
(im Gegenteil: wenn man es ihnen zutrauen würde und es sie teilweise sogar selbst herstellen ließe, würden sie auch viel pfleglicher damit umgehen; bzw. es gibt Klassenräume, die man geradezu als Herausforderung zur [restlichen] Zerstörung auffassen muss: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" - was keinen "pubertären Übermut", der in Wirklichkeit nur eine Straftat ist, entschuldigt!),
solch eine lebenswerte Lernumgebung in Oberstufenkursen nicht installierbar sei, weil die ja andauernd die Kurse und damit Räume wechseln würden,
das alles zu teuer sei.
Natürlich ginge es noch um ganz andere, sehr wichtige, hier aber nur kurz darstellbare Punkte:
Farbgebung und Bilder
Beleuchtung
Sitz"ordnung"
Ruhemöglichkeiten (am besten schmökerts sich noch immer auf einer Couch)
Bewegungsraum
...
Lernumgebung ist aber auch der direkte Umkreis der Schule:
Unterricht (zumindest ab und zu) draußen (z.B., wenn gerade Naturlyrik durchgenommen wird);
Zusammenarbeit mit der Fabrik "direkt gegenüber" (und nicht einer im Schulbuch oder Internet), wenn es um Betriebswirtschaft o.ä. geht;
oder die Natur einfach nur als Erholung (gemeinsamer Spaziergang nach einer mehrstündigen Klassenarbeit).
Zur Schule gehört auch das, was man früher "Heimatkunde" nannte, die "die Welt" in immer größeren konzentrischen Kreisen erschloss.
Wichtige Forderungen an eine Lernumgebung scheinen mir (wie teilweise oben schon angedeutet):
die Lernumgebung sollte weitestmöglich mit den SchülerInnen zusammen eingerichtet werden;
es reicht nicht das bloße Zur-Verfügung-Stellen der Lernumgebung, sondern es muss auch in den Umgang mit ihr eingeführt werden.
Wenn beispielsweise selbstverständlich zu jeder Schule eine gute Schulbibliothek bzw. -mediothek gehört, so ergeben sich zwei zusätzliche Forderungen:
die Schulbibliothek muss schon selbst ins Lesen einführen, indem sie (z.B. vorne) verführerisches Lesefutter (auch über individuelle Interessen hinaus) liefert;
die Arbeit in ihr muss durch pädagogisches Fachpersonal begleitet sein
(wie auch LehrerInnen nicht nur - und dann eh folgenlos - zum Lesen auffordern dürfen, sondern auch adäquaten Lesestoff liefern müssen);es muss eine Interaktion zwischen Schulfächern und Bibliothek (oder genauer im obigen Sinne: zwischen den jeweiligen Menschen) stattfinden, d.h. die Schulbibliothek darf nicht nur ein Parallelangebot sein, sondern muss von den Einzelfächern genutzt und inspiriert werden.
Eine Lernumgebung, die ihren Namen wirklich verdient, ist die "Mathematik-Lernwerkstatt".