der mathematische Orientierungslauf
nicht mehr (nur) "rechne und löse!,
sondern (auch) "suche und ordne ein"
Auszug aus dem Mathematik-Lehrplan in NRW (vgl. ):
"Orientierungswissen
Im Mathematikunterricht der gymnasialen Oberstufe ist es ein wichtiges Anliegen, über das Faktenwissen hinaus den Schülerinnen und Schülern zentrale Ideen und fachliche Zusammenhänge zu verdeutlichen. Dies erfordert in allen Bereichen eine Form von Orientierungswissen, das sie befähigt, Zusammenhänge und Strukturen zu erkennen sowie einzelne Inhalte einzuordnen.
Zum Aufbau von Orientierungswissen erscheinen methodisch u. a. folgende Wege möglich, die auch miteinander kombiniert werden können:
vorausschauende Übersicht über ein noch zu behandelndes Thema
Rückblick auf ein Thema
Unterrichtsprojekt
historische Betrachtungen.
Aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler stehen beim Erwerb derartigen Wissens weniger ein logisch-formaler Aufbau oder gar die Deduktion eines Theoriegebäudes im Vordergrund als vielmehr erkenntnisleitende Fragen wie zum Beispiel:
Wie kommt man zu bestimmten Begriffen oder Methoden?
Welche Möglichkeiten, Anwendungen ergeben sich hieraus?
In welchem Zusammenhang stehen Begriffe oder Methoden zu bereits bekannten Inhalten?
Die Entwicklung von Grundvorstellungen, die zu Begriffsbildungen führen, Überlegungen zur Anwendbarkeit sowie auch die Modifikation mathematischer Modelle können in diesem Zusammenhang Aufgabe im Unterricht sein.
[...]
Ein [an einem Beispiel vorgemachtes] Netz ist bereits tragfähig ohne die Details der angesprochenen mathematischen Inhalte und Methoden im Einzelnen herzuleiten und kann bei Bedarf enger geknüpft werden.
Vor allem in projektartigen Unterrichtsphasen stellen Erwerb und Nutzung von Orientierungswissen für Schülerinnen und Schüler eine wichtige Grundlage ihrer Arbeit dar. Zu lernen, selbstständig auf Hilfsmittel zurückzugreifen, ist Vorbereitung auf wissenschaftliches Arbeiten. Es geht darum, sich selbstständig Informationen aus mathematischer Literatur zu verschaffen, Formeln und Verfahrensweisen zu suchen und anzuwenden, sich in Software einzuarbeiten und sich so mathematische Methoden zur sachgerechten Anwendung verfügbar zu machen."
(S. 34f)
Motto: angeleitetes Selbst(nach)entdecken
"Der Orientierungslauf (OL) ist eine Sportart, bei der der Läufer selbständig mit Hilfe von Karte und Kompaß im Gelände und auf der Karte markierte Punkte (Posten) in einer vorgeschriebenen Reihenfolge anzulaufen hat. Beim OL-Wettkampf besteht die Aufgabe, diese vorgegebene Bahn in möglichst kurzer Zeit zu durchlaufen.
Im OL soll das läuferische und orientierungstechnische Können des Läufers geprüft werden, jedoch so, daß das orientierungstechnische Können entscheidend ist."
(zitiert nach: )
Wichtig daran ist:
"selbständig [!] mit Hilfe von Karte und Kompaß",
"daß das orientierungstechnische Können entscheidend ist".
Nur würde ich im Hinblick auf die Erarbeitung mathematischer Themenfelder ergänzen bzw. variieren:
"Karte und Kompaß" bzw. das Arbeitsprogramm und die Leitlinien werden nicht fertig vorgegeben, sondern gemeinsam von Klasse und Lehrkraft entwickelt:
dabei kann das vorhandene Schulbuch durchaus Anregung, Gedächtnisstütze und Materialsammlung sein
(eine unter vielen, denn selbstverständlich werden auch andere Schulbücher, Computerprogramme und das Internet zu Rate gezogen; vgl. "Internetrecherche";
eine der Aufgaben der Lehrkraft- die während der Unterrichtseinheit keineswegs untätig ist; vgl. auch im Weiteren -
besteht darin, geeignetes Material zur Verfügung zu stellen oder - besser noch - bei der Suche nach ihm zu helfen);
die einzelnen anzulaufenden "Posten" sind also - anders als beim "richtigen" Orientierungslauf und wohl oftmals bei der Methode "Lernen an Stationen" - nicht gott- bzw. lehrergegeben (und schon gar nicht ihre Reihenfolge), sondern
werden nach Gruppendiskussion als Selbstverpflichtung auferlegt
(einige Pflichtposten für die Einzelgruppen, übergeordnete für die gesamte Klasse),
und nur einige wenige werden, wie schon angedeutet, vom Spielleiter = Lehrer vorgegeben;
die Lehrkraft (der Spielleiter bzw. Schiedsrichter) behält sich aus ihrer Kenntnis der Fachsystematik und entscheidender (insbesondere auch: in der weiteren schulischen Zukunft benötigter) "Posten" Zusätze sowie "Pflichtposten" vor, die allerdings begründet und auch schon ansatzweise inhaltlich gefüllt werden sollten;
in der Tat zählt (wie beim "richtigen" Orientierungslauf) nicht so sehr Geschwindigkeit (auch Stofffülle), sondern eher "orientierungstechnisches Können", d.h. die Fähigkeit, zielgerichtet und doch flexibel an Aufgaben heran gehen zu können
(damit soll die Notwendigkeit von "Geschwindigkeit" nicht völlig geleugnet werden: in die Bewertung von Schülerleistungen geht natürlich auch ein, ob sie stringent arbeiten; und es lässt sich auch nicht leugnen, dass zu gewisser Zeit [Klassenarbeiten, Übergang in spätere Klassenstufen] bestimmte Ziele erreicht sein müssen);
selbstverständlich kann man den SchülerInneN - selbst bei relativ freier Wahl der anzulaufenden Posten - nicht einfach "Karte & Kompass" in die Hand drücken und dann sagen: "jetzt lauft mal schön":
"Es hat etwas Empörendes, wenn jemand einen Wanderer, der unschlüssig über den Weg ist, [...] in seiner Irrsaal allein läßt [wenn auch mit Karte & Kompass, deren Funktionsweise aber nie erklärt wurde] [...]"
(Søren Kierkegaard)Sondern die Funktionsweise von "Kompass & Karte" müssen natürlich vorweg bzw. beim Laufen gemeinsam erarbeitet werden. Oder genauer: es gibt gar keine fertig vorgegebene Karte (oder nur einige wenige Fixpunkte: Rom, Assisi, Florenz ...), sondern sie wird überhaupt erst gemeinsam erstellt (und beim "Laufen" erweitert oder verändert);
Und es bedarf einiger Tipps ab und zu: "achte doch mal auf die begrünte Wetterseite der Bäume bzw. die Nullstellen."
für die "Karte" gilt, dass erst langsam "zusammenwächst, was zusammen gehört": ganze Gebiete sind anfangs noch (zumindest für die Einzelgruppen)
"weiße Flecken auf der Landkarte"
unverbunden: die Indianer müssen noch Europa und die Europäer noch Amerika entdecken.
es wird - wieder im Gegensatz zum "richtigen" Orientierungslauf - nicht alleine "gelaufen", sondern grundsätzlich in Gruppen:
"Vier Augen sehen mehr als zwei."
Dabei "kämpfen" die Gruppen aber nicht gegeneinander (dazu sind ihre Aufgaben auch viel zu unterschiedlich), sondern füreinander. Jede Gruppe muss - wie etwa bei der Methode des Gruppenpuzzles - wissen
(das muss schon vorher sehr deutlich gesagt werden und da muss zwischendurch immer wieder dran erinnert werden!),
dass sie ihre Erkenntnisse in einer Abschlussphase an das Plenum weiterzugeben hat und die MitschülerInnen "aufgeschmissen" sind, wenn sie durch eine Gruppe schlecht über Teilthemen informiert werden.
(Der Unterschied zum üblichen Gruppenpuzzle besteht dabei allerdings darin, dass die Aufgaben nicht oder nur teilweise vorgegeben sind.)
Mehr noch: die Gruppen "kämpfen" auch schon während der reinen Gruppenarbeitsphase miteinander: sie
geben potentiell übertragbare Ergebnisse an Nachbargruppen weiter,
fragen die Nachbargruppe nach Übereinstimmungen und Abweichungen,
fragen die Nachbargruppen, wenn sie deren Ergebnisse als Basis für weitere Forschungen brauchen,
werden von der Lehrkraft aneinander verwiesen.
Solcher Austausch muss von der Lehrkraft initiiert werden, und zwar durch
Hinweise in konkreten Situationen,
gemeinschaftliche Treffen des gesamten Klassenverbandes zwischendurch, durch die die Gruppenarbeit immer wieder unterbrochen oder wohl eher angeregt wird
("die anderen haben etwas gefunden, was auch für uns interessant sein könnte").
Solche "Gesamttreffen" haben auch den Vorteil, dass die Einzelgruppen nicht allzu lange und demotivierend folgenlos "vor sich hin bosseln", sondern zwischendurch (bei der Präsentation ihrer Zwischenergebnisse) Anerkennung bekommen.
Vorweg muss im Plenum eine sinnvolle Themenaufteilung erarbeitet und beschlossen werden, wobei schon die strukturellen Zusammenhänge klar zu stellen sind.
Arbeitstitel und -aufträge können sich im Laufe der Arbeit verändern!
Es könnte schon ein Grobnetz (vgl. unten) angelegt werden,
Der Arbeitsplan wird mit den SchülerInnen zusammen entwickelt, nicht vorgegeben.
Selbstverständlich begleitet die Lehrkraft die SchülerInnen auch während der Gruppenphasen
(läuft unter anderem - s.u. - andauernd im Schulgebäude rum),
d.h.
steht für Nachfragen zur Verfügung
(die sie allerdings möglichst erst mal an andere SchülerInnen weitergeben oder in einen Forschungsauftrag umformulieren sollte),
gibt Tipps zu Materialien und Forschungsperspektiven
(z.B. auch Einschränkungen oder Erweiterungen des Themas),
bespricht regelmäßig (zu anberaumten Terminen oder ad hoc) Zwischenergebnisse und weist auf Probleme und Lösungsmöglichkeiten hin;
Zum Forschungsauftrage jeder Gruppe gehören natürlich auch zentrale Rechenverfahren sowie überhaupt die Frage: warum ist etwas so (ggf. Beweise): es darf nicht nur bei reiner Effekthascherei stehen bleiben.
Am Ende
(nach vorheriger Übung und Besprechung mit der Lehrkraft)
stellen alle Einzelgruppen ihre Ergebnisse vor
(die allgemein verpflichtend sind!),bleibt es aber nicht bei der Addition der Ergebnisse, sondern werden
Gemeinsamkeiten, Unterschiede sowie "Hyperstrukturen" herausgearbeitet,
also die bislang getrennten Kontinente verbunden bzw. wird eine zusammenhängende Karte erstellt und werden auf dieser Karte die "Hauptstädte" (wichtigsten Teilergebnisse) sowie wichtigsten "Verbindungsstraßen" (Hyperstrukturen) eingezeichnet.
Ich meine das sogar teilweise wörtlich: denkbar sind
die "Karte" enthält
nicht nur das gerade neu Entdeckte (Europa)
sondern auch Altbekanntes, also zu Wiederholendes, aber auch mit einigem Stolz bereits Beherrschtes (Deutschland)
und auch schon Zukunftsperspektiven (Amerika),
d.h. sie zeigt Mathematik in Entwicklung;
die SchülerInnen bzw. Gruppen laufen tatsächlich, nämlich
durchs Schulgebäude
in die Bibliothek,
zum Computerraum,
zu Fachlehrern, die ihnen mit interdisziplinären Tipps und Modellen helfen können,
sogar in externe (Stadt-)Bibliotheken,
gegebenenfalls zu Vertretern bestimmter Berufe, die ihnen Anwendungshintergründe mitteilen können.
bzgl. der "mündlichen Leistung" muss den SchülerInnen klar gemacht werden, worin die Kriterien während der Gruppenarbeit bestehen, die sie am besten sogar schriftlich an die Hand bekommen
(denkbar wäre hier auch eine Art "Laufzettel", in der die Lehrkraft schon während der Gruppenarbeitsphase [also nicht erst dann, wenn "das Kind schon in den Brunnen gefallen ist"] und wiederholt in regelmäßigen Abständen entsprechende Bemerkungen einträgt).
Denkbare Kriterien wären da:
stetige Arbeit am Thema,
vorweisbare Ergebnisse zu bestimmten (Zwischen-)Terminen,
kollegiale Zusammenarbeit mit den anderen Gruppenmitgliedern
(statt Einzelkämpfertum oder der Einstellung "ich lasse die anderen für mich arbeiten"),über das Minimalprogramm hinausgehendes Engagement
(z.B. Suche und Untersuchung von Spezialfällen sowie zusätzlichem Material),Hilfsbereitschaft gegenüber anderen
(in derselben oder einer anderen Gruppe; auch Hilfsbereitschaft gegenüber Leistungsschwächeren; Initiative für die Gesamtklasse),wohlvorbereitete, gut verständliche und ansprechende Präsentation am Ende
(wird alles nur [lustlos] abgelesen und lieblos illustriert?),Art der Beteiligung an der Gruppenpräsentation
(hält sich jemand völlig raus und lässt andere reden; oder drängelt sich jemand auf Kosten anderer in den Vordergrund?),Beteiligung in den Plenumssitzungen und dann Fähigkeit zur Übertragung,
selbstverständlich auch, aber eben nicht so allein Ausschlag gebend wie im üblichen Unterricht: gezeigte mathematische Leistung.
selbstverständlich muss nach solch einer Unterrichtseinheit auch die Klassenarbeit anders als gewöhnlich aussehen
(wenn man sie nicht vollständig durch schriftliche Gruppenreferate, Präsentationen, eine Art Facharbeiten oder Lerntagebücher ersetzt [ersetzen darf?]):
sicherlich fordert sie auch einige rein technische (Rechen-)Fertigkeiten (einen Minimalkanon aus allen Gruppenarbeiten),
ebenso aber auch Überblickswissen und Strukturierungsfähigkeiten.
Eingefordert werden könnten also z.B.
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insgesamt nähert sich der Mathematikunterricht also im vorgeschlagenen Lehrgang ENDLICH mal Vorgehensweisen, die in anderen (geisteswissenschaftlichen und sprachlichen) Fächern längst gängig und erprobt sind: es wird Abschied genommen vom reinen Nachvollzug oder bloßen Rechnen, womit klar sein sollte, dass keineswegs automatisch eine Vereinfachung ("gar nicht mehr richtige Mathematik") vorliegt.