Auszug aus (S. 36ff)

"[...] Sowohl Newton, Descartes, Pascal als auch Leibniz waren Mathematiker, und jeder von ihnen überschritt in jungen Jahren die Grenzen der klassischen Mathematik. Dass in Folge ihres Wirkens jedoch nicht nur das Universum expandierte, sondern auch die Einsamkeit, darüber reflektierte Pascal allerdings als Einziger von ihnen. In seinen posthum veröffentlichten Gedanken (1670) beschreibt er die Grausamkeit einer Welt, die sich zum Unendlichen geöffnet hat, in der es keine Grenzen mehr gibt, weder nach außen noch nach innen, da selbst das kleinste Ding stets etwas noch Kleineres offenbart - die Unendlichkeit der gesamten Natur mit all ihren Sternen, Planeten, Tälern und Bergen, Flüssen und Meeren, Tieren und Insekten ist im kleinsten Atom enthalten, schreibt er, das wiederum ein kleinstes Atom enthält, in dem sich die Unendlichkeit der gesamten Natur befindet, die wiederum ein kleinstes Atom enthält ... Jeder Versuch, dieses Universum zu verstehen, ganz gleich, ob man seine Bewegungen notiert, seine Geschöpfe systematisiert oder seiner Entstehung nachspürt, ist natürlich eitel und lächerlich, und Pascal machte sich denn auch sattsam lustig über die Wissenschaft seiner Zeit. Was er jedoch nicht begriff, war: Das eigentliche Ziel der Wissenschaft ist es nicht, die Welt zu verstehen, sondern ihre Grenzen abzustecken. Sich stattdessen Gott zuzuwenden war ein neuerlicher Fehlgriff, denn wenn die Vernunft erst einmal den Schritt ins Unendliche getan hat, führt kein Weg mehr zurück, und der Gott, dem sich Pascal zuwandte, war so abstrakt und grenzenlos und kalt wie die Mathematik, die er und andere einige Jahre zuvor entwickelt hatten. Es fällt einem nicht weiter schwer, ihn sich vorzustellen, wie er dort alleine in seiner Wohnung in Paris saß und schrieb, über sein Manuskript gebeugt, das ernste Gesicht schwach vom Schein einer brennenden Öllampe erleuchtet, so wie es ebenso wenig schwerfällt, sich Newton in Oxford, Leibniz in Nürnberg oder Descartes in Utrecht vorzustellen. Die Tatsache, dass dieser Menschenschlag, den jeder von ihnen auf seine Weise verkörperte, ausgerechnet damals auftauchte, zu Beginn des Zeitalters der Aufklärung, ist natürlich kein Zufall. In der Antike wären sie niemals verstanden worden, weder was sie waren, noch was sie schrieben. Die Menschen der Antike vermieden stets hartnäckig die Vorstellung des Grenzen-losen. Von der Unendlichkeit des Raums und der Zeit wollten sie nichts wissen und kleideten alles außerhalb des Augenblicks Liegende in die Form des Mythos oder der Anekdote. Es liegt auf der Hand, dass ihr fehlendes Interesse an Astronomie und Geschichte aufs engste mit ihrem fehlenden Interesse an Psychologie verknüpft ist: So wenig, wie sie den Wunsch hegten, sich in der Unendlichkeit von Zukunft oder Vergangenheit zu verlieren, hegten sie den Wunsch, sich in der Unendlichkeit ihres Inneren zu verlieren. Daher das Abgeklärte ihrer Kunst.
Ganz anders dagegen die riesigen gotischen Kathedralen des Mittelalters! Sie ebneten nicht nur der Vorstellung vom unendlichen Raum den Weg, sie vergötterten ihn auch bis zur Besessenheit. Wie eng die konkreten Manifestationen einer Kultur mit ihrer Sicht der Welt und der eigenen Kultur verbunden sind, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass die ersten Alchimisten in Europa zur gleichen Zeit auftauchten wie die Kathedralen. Die Ergebnisse, zu denen die Alchimisten kamen, oder die Methoden, die sie benutzten, sind an dieser Stelle bedeutungslos, entscheidend ist vielmehr ihre grundsätzliche Vorstellung, dass ein Einblick in die Geheimnisse des Lebens nichts Unerreichbares ist, sondern von denen gewonnen werden kann, die im Besitz der nötigen Fähigkeiten und des nötigen Wissens sind. So hieß es etwa von Albertus Magnus, er habe einen Automaten konstruiert, der wie ein Mensch reden und sich bewegen könne, von Theophraste Bartholomeus, er könne das Wetter kontrollieren, von Robert Foxcroft, er habe sein totes Kind wieder zum Leben erweckt. Es ist wohl nicht abwegig anzunehmen, dass Mythen wie diese den Ausgangspunkt für die Legende von Faust bildeten, in der kein Zweifel am dämonischen Charakter des grenzenlosen Wissens gelassen wird.
Und wovor sollte die Faust-Legende warnen, wenn nicht vor dem Wirken eines Kopernikus, Bruno, Descartes, Galilei, Leibniz und Newton? Dass wir dies im Allgemeinen nicht so sehen, liegt an der beeindruckend effektiven Operation, durch die während der Aufklärung das Dämonische ins Dunkle und Unklare, Spekulative und Verborgene und das Wahre ins Präzise und Rationale, Offensichtliche und Nachprüfbare verlegt wurde - mit all den schicksalsträchtigen Folgen, die dies haben sollte. Denn nicht die Dunkelheit ist gefährlich, sondern das Licht. Hier lauern die Abgründe. [...]"