auch eine Abiturrede!?

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"Lieber Herr Stauff, der von Ihnen veröffentlichte Auszug aus »Die Nacht nach der Entlassung« von Tendrjakow hat meine Abirede von gestern Abend gerettet! Herzlichen Dank dafür." (U. M.-W.)

Wie alljährlich begann das Fest programmgemäß mit feierlichen Reden.
Ein Stockwerk tiefer, in der Turnhalle wurden Tische geschoben und die letzten Vorbereitungen für das "Bankett" getroffen.
Eben waren sie noch Zehntklässler gewesen, und jetzt sahen sie schon gar nicht mehr wie Schüler aus: die Mädchen trugen schicke, figurbetonte Kleider, die Jungen Oberhemden in sinnverwirrenden Farben und Krawatten, die ihr plötzliches Erwachsensein gebührend unterstrichen. Und alle genierten sie sich - wie Geburtstagskinder, die sich auf ihrer eigenen Party fremder fühlen als die geladenen Gäste.
Direktor Iwan Ignatjewitsch, ein imponierender Mann mit athletischen Schultern, hielt seine pathetische Ansprache: »Vor euch liegen tausend Wege. Sie alle stehen euch offen, aber nicht jeder Weg wird für alle gangbar sein ...«
Iwan Ignatjewitsch nahm sich die Absolventen wie gewöhnlich in der Reihenfolge ihrer Schulerfolge vor. Als erste kam die unvergleichliche Ju1ja Studjonzewa, die vom ersten Schultag an allen anderen weit überlegen gewesen war: "Sie wird jedem Institut unseres Landes zur Zierde gereichen ..."
Ihr folgte die kleine Kohorte der namentlich aufgerufenen »zweifellos Begabten«. Zu ihnen gehörte der baumlange Genka Golikow. Jeder wurde seinen Verdiensten entsprechend gelobt. Als nächste Gruppe hob der Direktor, allerdings ohne Lobesworte, die "selbständigen Naturen" hervor - eine Formulierung, die sich durch ihre Ungenauigkeit auszeichnete. Der Direktor sprach von "Igor Prouchow und andere". Wer die "anderen" waren, sagte er nicht, setzte es wohl als bekannt voraus. Und schließlich kam er zu öden übrigen« - sie blieben namentlich ungenannt -, denen »die Schule alles Gute und Erfolg im Leben wünscht«. Zu diesen übrigen gehörten Natka Bystrowa, Vera Sherich und Sokrates Onutschin.
Juletschka, die Anführerin ihrer Mitschüler zu den ersehnten tausend Wegen, war als Rednerin für die Laudatio ausersehen. Wer, wenn nicht sie, hatte der Schule zu danken für all die mit ihrer Hilfe erworbenen reichen Kenntnisse, für die zehnjährige intensive Betreuung, für die unlösliche Verbundenheit mit der Schule, die alle mit so großer Wärme erfüllte.
Sie erhob sich von ihrem Platz, ging nach vorn zum Präsidiumstisch - nicht groß, in weißem Kleid mit einem Mullfichu, weiße Schleifen in den Zöpfen, ein halbwüchsiges Mädchen, gar nicht wie eine Schulabsolventin. Das zartgeformte Gesicht trug wie immer jenen Ausdruck strenger Besorgtheit, der selbst für einen Erwachsenen zu streng war. Sie ging hoch aufgerichtet, in ihrer Kopfhaltung lag bescheidener Stolz.
»Mir wurde die Ehre zuteil, eine Rede zu halten. Ich werde sprechen aber über mich, ausschließlich über mich ...«
Diese Erklärung, von der sich nie irrenden, nie Fehler begehenden Klassenbesten kategorisch ausgesprochen, erstaunte und beunruhigte niemanden. Der Direktor lächelte ermunternd, nickte zufrieden und setzte sich auf seinem Stuhl bequem zurecht. Wovon sollte sie schon sprechen wollen außer von Dankbarkeit, sie, die in der Schule nur Lob geerntet hatte, nur Bewunderung? Die Gesichter der Mitschüler zeigten daher auch bloß das übliche pflichtschuldige, höflich gelangweilte Interesse.
»Liebe ich die Schule?« In ihrer Stimme schwang ein aufgeregter Unterton mit. »Ja, ich liebe sie! liebe sie sehr! ... Wie ein Wolfsjunges seine Höhle ... Und jetzt muß ich meine Höhle verlassen, die Geborgenheit, die Sicherheit. Und vor mir sind plötzlich - tausend Wege! Tausend ...!«
Durch die Aula lief ein schwaches Flüstern.
»Welchen soll ich gehen? Diese Frage stellte sich mir schon oft. Immer wieder. Ich habe sie immer wieder beiseite geschoben, mich vor ihr versteckt. Jetzt kann. ich mich nicht mehr verstecken. Jetzt muß ich gehen, aber ich kann es nicht, habe es nicht gelernt, weiß nicht wohin ... Die Schule hat mich gezwungen, alles, was sie wollte, zu lernen und zu wissen. Nur eins hat sie mich nicht gelehrt: selbständig zu urteilen, zu wissen, was mir gefällt, was ich liebe, was ich selber will. Mir hat manches Spaß gemacht, anderes nicht. Und wenn etwas keinen Spaß machte, dann war es ein bißchen schwieriger, das heißt, man mußte sich etwas mehr anstrengen, um die "Eins" zu bekommen, die von der Schule gefordert wurde. Und ich habe der Schule gehorcht und ... und ich wagte nicht, irgend etwas wirklich stark zu lieben. Jetzt schaue ich mich um, und es kommt mir vor, als liebte ich - nichts! Nichts, außer Mama, Papa und der Schule. Tausend Wege - für mich sind sie alle gleich dunkel, ich kann sie nicht unterscheiden! Sie glauben, ich müßte glücklich sein -. Mir ist schrecklich zu Mute. Ganz schrecklich.
«
Juletschka hielt inne, blickte unruhig mit ihren wachsamen Vogelaugen um sich und in den schweigenden Saal. Aus der Turnhalle drang das Geräusch der Bankettvorbereitungen herauf.
»Mehr habe ich nicht zu sagen«, erklärte sie und ging mit kleinen, zuckenden Schritten auf ihren Platz zurück.
[...]


Und noch 'ne Abirede:

"Er forderte seine Schüler auf,
sich für andere einzusetzen
und stets das zu tun,
was sie am meisten lieben
- weil sie es lieben,
und nicht,
weil es gut im Lebenslauf aussieht."