das Verlassen der Anstalt ist strengstens erwünscht

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"Die von Foucault proklamierte »Mikrophysik der Macht« wirkt durch kleinste Elemente, sie wirkt als Netz, das die Familie, sexuelle Beziehungen, Wohnverhältnisse, Schule, Krankenhäuser, Psychiatrie, Gefängnisse etc. als Feld von Kräfteverhältnissen und Macht-Wissens-Techniken begreift." (zitiert nach Bild )

"Sowas gehört nicht auf unsere Anstalt."
(der Direktor der Schule, auf der ich Schüler war)

Ich kenne ein Lehrerinstitut,
in (!) dem es ebenfalls ausdrücklich untersagt ist,
draußen zu tagen (!):
es könne ja - Gott bewahre! - der Eindruck aufkommen (bestätigt werden?),
dass LehrerInnen nie arbeiten.

Letztens hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, im Ruhrgebiet mal so eine richtig schön abgewrackte Schule zu sehen:

(manchmal ist mir danach, Architekten lebenslänglich in ihren eigenen Elaboraten einzusperren),

Und ein Symbol für die ganze Misere war der "Schulhof": ca. 50 x 100 Meter kahle, partiell hochgefrorene Betonplatten - und sonst: keine Tischtennisplatte, keine Spielgeräte, kein Rasen und keine Bäume - Nichts.

Ich weiß, die Kommunen sind pleite, und doch:

Es ist ein schlichtes Verbrechen, Jugendlichen sowas anzutun.

Vermutlich ist es ein Teufelskreis:

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Nun habe ich's ja gut getroffen: "meine" Schule residiert in einer Art Schloss mit großem Park drumherum:

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Da ist

(u.a. Dank eines phantastischen Hausmeisters - und ein guter Hausmeister ist wichtiger als das gesamte Kollegium samt Schulleitung!)

alles noch heil, und überhaupt leben wir da noch in einer weitgehend "heilen" Welt

(Probleme gibt's überall, aber warum die Dinge mieser machen, als sie sind?!).

Und dennoch zeigt sich auch an "meiner" Schule der typische "Anstaltscharakter": aufgrund der Raumnot hat man einen Klassenraum neben und über den anderen gestapelt, und vor lauter Klassenräumen gibt es

(abgesehen von einem "Oberstufenraum", einem nie genutzten "Spielraum" tief im Keller sowie einer seit Menschengedenken ungenutzten Bibliothek)

keinerlei "Lebensräume" oder neudeutsch Bild "Lernumgebung".

Endgültig unverantwortlich wird sowas, wenn demnächst flächendeckend Ganztagsschulen eingeführt werden: soll da nicht doch bloß noch mehr Unterricht abgehalten werden bzw. sollen sie nicht reine Verwahranstalten

(jetzt tatsächlich mit dem Anklang an "Gefängnis")

sein, so werden die Schulgebäude massiv zu echten "Lebensräumen" um- und augebaut werden müssen - und das kostet Unsummen!

(Überhaupt sind Ganztagsschulen ja nur die zweitbeste Idee bzw. ein Rumkurieren an den Symptomen: die beste Idee wäre es, den SchülerInneN ein lebenswertes Leben nachmittags außerhalb der Schule aufzuzeigen.)


(und wenn, dann nur äußerst kurz nebenher in Physik oder Erdkunde)

"durchgenommen", aber wer ist eigentlich auf die hirnrissige Idee gekommen, das ausschließlich

zu tun?

Wie sollen die SchülerInnen da denn andächtigen (!) Spaß an der Sache und somit Forscherbegeisterung finden?:

Dabei ist mir ganz wichtig zu ergänzen (am Beispiel des Astronomieunterrichts):

Natürlich hat der Klassenraum - und damit der Rückzug aus der Welt - auch seine Vorteile, nämlich bei der (Manches sogar vereinfachenden) Abstraktion und Systematisierung.

|: Das Wandern ist des Müllers Lust :|
Das Wandern
Das muß ein schlechter Müller sein
|: Dem niemals fiel das Wandern ein :|
Das Wandern
Das Wandern . . . . .

Ich weiß zwar noch heute die Temperaturamplitude von Werchojansk (1060), aber

(und das hat rein gar nichts mit Nationalismus zu tun)

am meisten beeindruckt hat mich doch in meiner eigenen Schulzeit ein Erdkundeunterricht zum Thema "Von der Nordsee bis zum Mittelgebirge", denn da waren wir wirklich "vor Ort" - und haben eine Menge theoretischer Geologie und Geophysik durchgenommen, nämlich z.B., wie Wellen an den Strand laufen (vgl. Bild ).

Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!

(Eduard Mörike)

durchzunehmen. Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: draußen ist gerade allerschönster Frühling, und es wäre hirnrissig, das Gedicht heute mit den SchülerInneN drinnen durchzunehmen. Wie sollen sie da denn auch irgendwas spüren?!

(Nunja, auf die Dauer sollte man natürlich bei Literatur auch dann was "spüren", wenn man nicht gerade (körperlich) in der betreffenden Situation ist, und erkennen, dass die Fiktion unabhängig von der Realität sein kann. Aber man fange doch - in der Schule - bei den "Phänomenen" [vgl. Bild ] an!)

Bild "Mathe für draußen; Erste Erkundungen der Schulumgebung"

"Mathe muss angewendet werden, sonst ist alle Paukerei sinnlos.
Also raus aus der Enge der Klassenzimmer in die weite Welt!"

Nun bin ich ja ein großer Liebhaber der "Innermathematik", aber wenn schon "Anwendungen", dann doch bitte genau da, wo sie stattfinden: zuallererst draußen!


"Draußen ist feindlich."
Nicht nur, dass SchülerInnen zumindest der Unter- und Mittelstufe während der Schulzeit regelrecht eingesperrt sind, d.h. das Schulgelände nicht verlassen dürfen. Sondern

an vielen Schulen gibt es die ausdrückliche Regelung, dass auch der Unterricht

- und sei das Wetter noch so schön! -

nicht draußen stattfinden darf

(oder wenn, dann nur nach langwieriger Genehmigung).

Ich unterstelle mal, dass das keine absichtliche Kasernierung der SchülerInnen ist, sondern vor allem zwei verdammt "praktische" Gründe hat:

"Da könnte ja jeder kommen ..."

Vor lauter Praktikabilität und Gewohnheit bemerkt man dann gar nicht mehr, wie die Welt abhanden kommt, und ist dann auch ganz glücklich und zufrieden (?) in seinem Gefängnis.


Zuguterletzt schaue man doch mal in die Klassenräume.

Neumodische Resopal-/Stahleinrichtung entspringt noch immer derselben

(ich unterstelle gerne: unbewussten, nicht reflektierten)

Disziplinierungswut wie der "klassische" Schulraum.

 

Zwar bin ich natürlich auch gegen allen kuschelpädagogischen Schnickschnack, aber unglaublich: z.B. ein Matheraum kann auch so Bild aussehen.

Und völlig unvorstellbar ist, dass die SchülerInnen beim begeisterten Lernen wortwörtlich "über Tische und Bänke gehen" (dürfen).



PS: "[...] Helen [Keller]hatte Martha verlassen und tastete sich an der Buchsbaummhecke zu ihr hin. Sie hatte einen merkwürdigen Käfer gefunden und verlangte, an Annies ärmel zupfend, seinen Namen zu wissen.
Annie [Sullivan]buchstabierte »Käfer« und schaute auf ihre Uhr. Es war zwar herrlich hier im Garten, doch die Zeit für Helens »Unterrichtsstunde« in neuen Wörtern war gekommen, und danach sollte sie noch stricken oder nähen. Annie seufzte. Mrs. Hopkins gegenüber hatte sie einmal bekannt, daß ihrer Meinung nach Stricken und Häkeln eine Erfindung des Teufels sei und sie »lieber auf der Straße Steine klopfen würde als ein Taschentuch zu säumen«. zögernd erhob sie sich, begann Helen mitzuteilen, daß sie ins Haus zurückkehren müßten, und hielt dann plötzlich inne. Hier draußen war es Frühling, herrlicher, duftiger, sonniger Frühling! Ein gesundes, tatendurstiges Kind wie Helen und der Frühling waren wie füreinander geschaffen. Helen fühlte sich glücklich und zufrieden. Alles in Garten und Farm war spannend und aufregend für sie. Hier draußen fragte sie aus Interesse und Neugier nach immer neuen Wörtern. War es nicht geradezu absurd, sie ins Haus zu verbannen, sie zu zwingen, auf ihrem kleinen Stuhl vor ihrem kleinen Tisch sitzend, langweilige Gegenstände wie Löffel oder Schüsseln zu befühlen, die sie nicht interessierten, während sie vor Eifer bebte, alles zu lernen, was ihr in dieser Frühlingswelt durch Berühren und Beriechen begegnete?
In diesem Augenblick, hier im Garten stehend, fällte Annie plötzlich die Entscheidung, die Helen Keller vor dem Schicksal bewahren sollte, so wie Laura Bridgman und manch andere Behinderte ein Käfig-Dasein zu fuhren: Sie warf alle ihre vorher gefaßten Pläne in bezug auf reguläre Unterrichtsstunden über Bord. Von nun an sollte es fur Helen keine festgesetzten Zeiten mehr geben, zu denen sie an einem kleinen Tisch sitzen mußte, um bestimmte Wörter zu lernen, oder andere immer gleichbleibende Arbeiten zu verrichten. Sie sollte kommen und gehen und spielen dürfen, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß sie damit etwas Wichtiges tat. Sie sollte lernen, indem sie einfach nur lebte!"
(zitiert nach   )