Frankreich schafft das Zentralabitur ab?

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  Sagt der Masochist zum Sadisten: "Quäl mich!"
Antwortet der Sadist: "Nö!"

Was ist der Unterschied zwischen

  1. "Frankreich schafft das Zentralabitur ab?"

und

  1. "Schafft Frankreich das Zentralabitur ab?" ?

zu 1.:

"Wenn sogar die Franzosen, die ja langjährige Erfahrungen mit dem Zentralabitur haben,  schon über die Abschaffung des Zentralabiturs nachdenken, sollten wir das Zentralabitur erst gar nicht einführen!"

... womit, da ich ja die erste Version als überschrift gewählt habe, bereits die

(sowieso allzu offensichtliche?)

Intention dieses Aufsatzes verraten ist

(... wobei das Kind allerdings inzwischen auch bei uns in den Brunnen gefallen, d.h. das Zentralabitur bereits eingeführt ist).

zu 2.:

diese Version enthält nicht den soeben genannten Unterton, d.h. sie hält Frankreich für ein (im Hinblick auf das Zentralabitur) Land wie jedes andere auch, womit die fragliche Abschaffung des Zentralabiturs in Frankreich (zumindest außerhalb Frankreichs, also auch für Deutschland) völlig nebensächlich erscheint: "In Frankreich wird eventuell das Zentralabitur abgeschafft ... und in China ist ein Sack Reis umgefallen."

(Verständnis für Untertöne zu vermitteln, ist aber fast die wichtigste Aufgabe des Deutschunterrichts - und gleichzeitig das schwierigste Unterfangen.)


Verkehrte Welt: in Frankreich regt sich

(ausgerechnet bei "den" SchülerInneN)

massiver Widerstand gegen die Abschaffung oder zumindest doch Entschärfung des Zentralabiturs

(die ausgerechnet - man höre und staune! - von einem "konservativen" Bildungsminister angedacht ist).

Aber der folgende Artikel sei doch mal all jenen ans Herz gelegt, die jetzt hier in Deutschland das Zentralabitur für der Weisheit letzten Schluss halten

(und es in Zeiten einführen, in denen andere es schon wieder abschaffen wollen :-):

Vive le Baccalauréat

Die französische Regierung will Schüler vom Stress des Zentralabiturs entlasten. Dies stößt auf deren massiven Protest
VON MICHAEL MÖNNIngER

Jeden Juni erlebt Frankreich einen Wettkampf, der selbst die Tour de France in den Schatten stellt. 650000 Kandidaten treffen sich sechs Tage lang in Schulen, Gemeindesälen und Messehallen, wo sie fünf Millionen Arbeiten zu 4000 verschiedenen Themen verfassen, die von 120 000 Kontrolleuren eingesammelt und von 5000 Korrektoren bewertet werden. Die Gesamtkosten betragen 200 Millionen Eure, und das Resultat ist seit 200 Jahren das wichtigste Ehrenabzeichen französischer Staatsbürger: das Zentralabitur, le baccalauréat, kurz bac.
Es öffnet die Türen zu Universitäten und Elitehochschulen, zu Spitzenpositionen in Wirtschaft und Staat und hat trotzdem seit längerem einen angekratzten Ruf. Denn das napoleonische Monument nährt zwar den Glauben an die republikanische Egalität. Doch währenddessen ist in Wahrheit die Ungleichheit so groß wie nie zuvor. Zwar hat Frankreich den Abiturientenanteil von sechs Prozent 1950 auf heute knapp siebzig Prozent gesteigert. Doch der Massenandrang hat den Selektionsdruck an der Spitze extrem verschärft. Wer zu den besten Abiturienten gehören will, muss mehr als 45 Stunden in der Woche pauken, um das extreme Prüfungsmarathon aus zwölf Einzelexamen zu bestehen. Zugleich gibt es am unteren Ende des Schulsystems bereits 80 000 Schüler jährlich, die nach der Grundstufe nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können.
Dagegen will der konservative Bildungsminister Fran&ccdil;ois Fillon jetzt mit einer Schulreform angehen. Sie soll die Abiturienten entlasten und die Primar- und Mittelschüler stützen. Zugleich setzt sie auf traditionelle Werte wie Disziplin und Lehrerautorität. Doch weil Frankreichs politisch links orientierte Schüler und Lehrer den Konservativen nicht über den Weg trauen, rufen sie zum Widerstand auf. Auch die sozialistische Opposition schürt den Unmut mit der Formel »Die Regierung will Gleichheit durch Niveausenkung«. So versammeln sich die Schüler seit Anfang Februar auf den Straßen zu Massendemonstrationen und kündigen zum 8. März einen nationalen Ausstand gegen die Fillon-Reform an.
Obwohl sie die größten Leidtragenden des Pauk- und Punktesystems sind, das nach zwölf Schuljahren im Gipfelspurt des bac mündet, lehnen die Schüler die Handreichung des Ministers ab. Während Fillon eine Halbierung der bac-Prüfungen plant und einen Teil der Endnote, wie in Deutschland üblich, dem Lehrer überlassen möchte, der die Unterrichtsleistungen seiner Schüler kontinuierlich bewertet, wollen die Schüler am Stress des zentral organisierten Prüfkarussells festhalten. »Ich möchte nicht von meinem Lehrer beurteilt werden«, empört sich die Abiturientin Constance Blanchard,17, die Präsidentin der nationalen Gymnasiasten-Gewerkschaft UNL. »Das widerspricht der Objektivität und Anonymität unserer Leistungsbewertung.«
für Blanchard und ihre Kameraden ist der Mythos der republikanischen Egalität - die strikte Neutralität des Lehrers gegenüber Konfession und sozialer Herkunft seiner Schüler - noch nicht zur Folklore herabgesunken. Aus Panik vor dem subjektiven Faktor fürchten die Schüler sogar etwas, was die Regierung gar nicht beabsichtigt: dass mit den Lehrernoten künftig auch der Name der Schule ins Zeugnis gelangt, was Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Status von Familie und Wohnort erlaube.
Im Gegensatz zu Deutschland ist das Verhältnis von Schüler und Lehrer in Frankreich seit alters äußerst distanziert. Der Lehrer ist nicht Pädagoge, sondern Wissensvermittler. Er soll keine emotionalen Beziehungen zur Klasse aufbauen und auch die familiären Hintergründe seiner Adepten nicht kennen. Jedes Jahr wechselt der Klassenlehrer, und auch die Klassenverbände werden regelmäßig neu aufgemischt, um Bindungen jenseits des Unterrichtsstoffs zu verhindern. für die psychosoziale Betreuung der Jugendlichen außerhalb der Schulstunden besitzt jede Lehranstalt eigens qualifiziertes Fachpersonal. Zudem haben auch die Eltern in der Schule nichts zu sagen, weshalb die Tribunale, wie sie auf deutschen Elternabenden zuweilen gegen die Lehrer stattfinden, in Frankreich unbekannt sind.
Doch diese strikte Leistungsorientierung erzeugt beträchtliche Kollateralschäden, die sich lange vor dem bac bemerkbar machen. Weil Frankreich immer noch auf einer enzyklopädischen Auffassung von Bildung beharrt, geht der Druck schon ganz unten los. Bereits in der Grundschule werden viele Kinder aufs bac orientiert. Die erste Sekundarstufe (collége) gilt schon als kleines Gymnasium (lycée), welches wiederum als kleine Uni oder Elitehochschule (grande école) gesehen wird. »Jahr für Jahr wird weiteres Wissen aufgetürmt, und die Lehrpläne erreichen eine geradezu unvorstellbare Dichte«, kritisiert Maurice Porchet, Berater des Bildungsministeriums. »Unsere Schule ist ein Strafsystem mit geradezu theologischer Sicht auf die Wissenschaft.«
Weil sich Spitzenleistungen und eine 70-prozentige Abiturquote nur schwer vereinbaren lassen, ist das bac zum Teil eine Mogelpackung geworden, in der schlichte Berufsschuldiplome stecken. Denn das einstige Nadelöhr der Eliteselektion wurde durch den Massenansturm und die Qualifikationswünsche der Wirtschaft so ausgeweitet, dass das begehrte vorakademische Generalabitur nur noch die Hälfte aller bac-Abschlüsse ausmacht. »Die guten Absolventen«, meint der Bildungsforscher Werner Zettelmeier von der Universität Cergy-Pontoise, »können jeden süddeutschen Spitzenabiturienten ausstechen.« Doch die andere Hälfte mit technisch-industriellem oder berufsbildendem Spezial-bac bewege sich meist weit unter dem Niveau des deutschen Abiturs.
Noch im Jahr 2000 hatten die Franzosen ihr mittelmäßiges Abschneiden bei der ersten Pisa-Studie aus Desinteresse an internationalen Vergleichen kaum wahrgenommen Doch ihre bei der jüngsten Pisa-Erhebung nur wenig verbesserten Ergebnisse, die vor allem die Mathematikkenntnisse betrafen, waren ein schwerer Schlag für die Nachfahren von Descartes, Fermat und Pascal, deren Leitwissenschaft auch in der Schule bis heute die mathematische Vernunft ist. Mit Platz 13 in Mathematik und Platz 14 beim Lesen schnitt Frankreich zwar besser als die Bundesrepublik ab. Aber im Gegensatz zu den Deutschen, die sich fragen, warum sie so schlecht sind, ärgern sich die Franzosen, warum sie nicht besser sind.
für Bildungsforscher wie Georges Solaux von der Universität Dijon liegt eine wichtige Ursache für das mäßige Pisa-Ergebnis im Unterricht: »Wir lehren in unseren Schulen eine abstrakte, hochgezüchtete Mathematik, die nicht mehr der Wissensvermittlung, sondern nur noch als Werkzeug zur Auslese dient.« So hätten viele Jugendliche bei der Pisa-Studie viele Fragen lieber unbeantwortet gelassen, als Fehler zu begehen. »Die sind derart durch das Punkte- und Sanktionssystem mit Schuldgefühlen beladen, dass die Angst vor dem Scheitern sie paralysiert.« Und gerade in der Oberstufe werden die Gymnasiasten nach ihren MatheFähigkeiten ausgesiebt – einfach deshalb, weil sich das am besten objektivieren lässt.
Weil in Frankreich das bac nach dem Ende der Wehrpflicht zu einer Art national-egalitärer-Aushebung von Ziviltruppen geworden ist, lässt das Schicksal des Zentralabiturs niemanden gleichgültig. Ein Dutzend Bildungsminister hat in den vergangenen 20 Jahren versucht, den Riesenaufwand effizienter zu machen und die Schulverwaltung zu dezentralisieren und wurde noch jedes Mal von protestierenden Schülern und Lehrern aus dem Amt geworfen.
Denn mehr Eigenständigkeit der Schulen bei der Unterrichtsgestaltung – ein Erfolgsrezept skandinavischer Pisa-Sieger - widerspricht den französischen Idealen. »Wir werden weiterhin die nationalen Standards setzen, aber die Regionen und Schulen in der praktischen Durchführung selbstständiger machen«, sagt Roger Chudeau, Direktor für Erziehungswesen im Pariser Bildungsministerium. Doch die Autonomie beschränkt sich weitgehend auf die Schulorganisation und auf Personalangelegenheiten, die Lehre bleibt unangetastet.
Derweil zeigt der Erfolg nostalgischer Filme und Fernsehsendungen mit Lehrern in der Hauptrolle, dass sich viele Franzosen eine ganz andere Schule wünschen. In der Reality-Show Pensionnat de Chavagnes leben Schüler und Lehrer in einem strengen Internat der fünfziger Jahre, und sowohl in der Serie L'instit wie auch im Film Les Choristes (Die Kinder des Monsieur Mathieu) bewirken herzensgute Lehrer mit pädagogischer Begeisterung wahre Wunder. Damit zeigen die Franzosen, welche Bildungsreform sie am liebsten hätten: dass im Mittelpunkt der Schule nicht allein die abstrakte Leistungsmessung, sondern wieder die Autorität des guten Lehrers steht.

(in: Bild Zeit, 24.2.05)


Das Zentralabitur ist also eine jener Sachen, die sich

(wenn man mal vom [überhaupt vertretbaren?] wahrhaft gigantischen Aufwand der Aufgabenerstellung und -verbreitung absieht),


PS:

Bild Bild(8/2007)