nothing is real unless it is local

Man könnte es natürlich auch in schönem, simplem Deutsch sagen, aber so auf Englisch habe ich den Spruch nunmal in einem Prospekt des cvjm Münster zur Eröffnung einer Modelleinrichtung gefunden

(und sonst nirgends).


"A real life adventure
Worth more than pieces of gold"
(David Bowie: Teenage wildlife)

Mag sein, dass es Menschen gibt, die derart unabhängig von Orten sind, dass sie

Bild oder Bild

sagen können, aber ich vermute doch mal, dass die allermeisten (immer mal wieder) "lokal gebundene" Heimat brauchen.

(... wobei "local" und "Heimat" für mich natürlich ein bisschen mehr sind als nur die heimatliche Scholle, auf der einige kleben; so kann "Heimat" beispielsweise durchaus auch ein Gedicht oder ein Duft sein.)


Den allermeisten SchülerInnen - so behaupte ich mal - ist aber alles, was im Unterricht durchgenommen wird, völlig fremd, also weder "Heimat" noch "local" und somit - und das scheint mir am wichtigsten - auch nicht "real".

(Vgl. Bild )

Dafür nur mal zwei hübsch provokative Beispiele: wenn

  1. eine Oberstufenschülerin im normalen Unterricht allzu sexy aufgedonnert ist

(bauchfrei vom Scheitel bis zur Sohle)

oder

  1. ein Oberstufenschüler noch (!) in "baggy pants"

(diesen Montas-Klos, deren Schritt auf der Erde schleift; vgl. Bild )

rumläuft und zudem mit einer bestickten Baseballkappe, die ihm jegliche Sicht auf die Wirklichkeit nimmt,

dann haben beide mit irgendwas Schulischem garantiert rein gar nichts am Hut bzw. der Baseballkappe, und entsprechend sind dann auch ihre Schulnoten!

(Nun weiß ich ja mit einiger Selbstironie, dass

  1. solche SchülerInnen bei mir genau jene Reaktion hervorrufen, die sie beabsichtigen oder aber zumindest doch billigend in Kauf nehmen,

  2. erinnere ich mich immerhin noch allzu gut, wie schockiert ich war, als einige LehrerInnen vor ca. 20 Jahren über einen "punkig" aussehenden Schüler sagten: "Der kann einfach nur blöd sein!"

Ich finde es immer am wichtigsten, sich die eigenen Vorurteil frischweg einzugestehen, denn erst dann kann man von ihnen auch absehen.)

Immerhin aber soviel: ich habe allergrößtes Verständnis dafür, dass einen jeglicher Schulstoff kalt lässt

(und man sexy bzw. in "baggy pants" [also auch sexy???] rumlaufen möchte),

frage mich aber doch, weshalb man dann noch auf der Schule ist

(nunja, die Antwort kenne ich genau:

Vor allem aber sind beides ja

(zumindest an "meiner" Schule)

wohl eher Einzelfälle - etwa genauso wie jene Ober(!)stufenschülerin, deren Welt (!) seinerzeit einzig und allein aus der Backfisch-Band "Kelly-Family" bestand.

Schon erheblich interessanter fand ich den Fall einer durchaus (fach-leistungsmäßig) "guten" Schülerin, deren eigentliche Welt (!) aber Nachmittags-Soap-Operas im Fernsehen waren

(und wenn ihr Vater [wie oftmals LehrerInnen] sich darüber lustig machte, traf sie das wirklich ins Mark).


Gehen wir also ruhig

(d.h. sine ira et studio)

probeweise von der Prämisse aus, dass für 90 % aller SchülerInnen der Schulstoff nicht "local" und also auch nicht "real" ist.

  1. bin ich mir durchaus bewusst, dass ich mit dieser probeweisen Feststellung scheinbar (wie so manchmal auf meinen Internetseiten) all "meine" konkreten (u.a. derzeitigen) SchülerInnen aburteile - und das auch noch geradezu sträflich in aller Öffentlichkeit; aber so einige Ausnahmen fallen mir sowieso ein, und überhaupt "urteile" ich mit viel Verständnis;

  2. gab es dieses allgemeine Desinteresse

(die absolute Fremdheit jedweden Schulstoffs)

vermutlich schon immer, auf jeden Fall - meiner Erinnerung nach - aber schon während meiner Schulzeit vor 30 Jahren: mich selbst hat sämtlicher Schulstoff in der Mittelstufe kalt gelassen

("lass ihn [d.h. den Lehrer] da vorne ruhig reden, und um nicht sitzen zu bleiben, erzähle ich dem alles, was er hören will"),

und erst in der Oberstufe habe ich "Blut geleckt". Aber mit Letzterem gehörte ich doch

(und das meine ich rein deskriptiv, nicht arrogant)

auch schon damals in meiner Klasse zu einer absoluten Minderheit.

  1. schließt es sich keineswegs aus, dass so einige SchülerInnen


Wenn wir die Prämisse, dass für 90 % der SchülerInnen der Unterricht weder "local" noch "real" ist, probeweise akzeptieren, so ist doch zu fragen, warum das so ist. Da fallen mir aber eine Menge noch weitgehend unsortierter Gründe ein:

(der Einzellehrer erlebt dann - von seinem Fach aus verallgemeinernd bzw. es für die ganze "Welt" haltend - gegebenenfalls aber nur völliges Desinteresse);

(keine zehn Sekunden nach seinem Referat fragte ein Schüler: "Welche Note bekomme ich dafür?");

(ich glaube tatsächlich, dass vielen SchülerInneN ein Handwerk ab und zu sehr gut täte; der normale, kognitive Unterricht zeitigt für sie viel zu wenige "handgreifliche" Ergebnisse, sondern lässt sich nur "abheften";

und da tut das Fremdzitat eines berühmten und allemal ehrenwerten Pädagogen gut, um mir selbst zu versichern, dass meine Gedanken nicht völlig utopisch sind:

"Hartmut von Hentig, der Begründer der Bielefelder Laborschule, schlägt vor, die Schüler in der Mittelstufe aller Schularten ganz vom Unterricht zu befreien und hinaus ins Leben zu schicken. In Handwerks-betrieben, bei archäologischen Grabungen, auf Bauernhöfen, in Laboren, Orchestern, Gärten könnten sie praktische Erfahrungen sammeln. Möglich wären auch längerfristige Projekte wie z.B. Feldforschung in einem Stadtteil, die Restaurierung eines alten Hauses oder eines Schiffs [...]"
[zitiert nach: Frith Reheis: Bildung contra Turboschule!]);

(z.B. in der "Weltliteratur" Probleme, die ein Jugendlicher noch gar nicht haben kann; wie ja überhaupt Unterricht oftmals allzu sehr von Erwachsenen [Lehrplanmachern, LehrerInneN] aus gedacht ist);

(und Schönsein ..., worüber man ja wohl schmunzeln darf, was aber nur kritisieren kann, wer nie jung war oder längst jenseits von gut und böse [oder schlichtweg neidisch?] ist);

(irgendwann wird´s "cool", sich grundsätzlich für gar nichts mehr [nur in der Schule?] zu begeistern; ja, manchmal frage ich mich sogar, ob es rundweg begeisterungslose Charaktere gibt - und wie solchen Leuten [u.a. durch die Schule!] jegliche Begeisterung ausgetrieben worden ist);

Vielleicht gehört es sogar integral zur vielgerühmten Pubertät, dass man sich

(und gerade Schule macht viel zu viel auf einmal).

Goethe (sinngemäß): "Warum hat mir eigentlich keiner gesagt, dass man was tun muss." Erich Kästner: "Es gibt nichts Gutes / außer man tut es."

(mit der a-priori-Gewissheit: das lohnt sich!).

Aber es ist ja nachgerade ein Altherren-Witz, ausgerechnet der Jugend Geduld predigen zu wollen.

(beispielsweise zu einem Text aus reiner Druckerschwärze)

vorstellen oder dazu erfinden zu können

(wird diese Phantasie heute durch Medien erschlagen?)

(wieder: wie ist sie so einigen SchülerInnen ausgetrieben worden?; denn umgekehrt kann sie nur [noch] haben, wer vielfach erlebt hat, dass sie sich lohnt);

(vgl. etwa Bild ).

Vermutlich verstärkt der übliche Unterricht, in dem fertige Ergebnisse vom Himmel fallen statt ihren Entdeckungen nachgegangen wird, sogar den Eindruck einer fertigen Welt, in der es nichts mehr zu tun gibt.


Mit "local" meine ich sowieso nicht im billigen Sinne "jugendnah": dass also der Unterricht direkt an den Interessen der SchülerInnen anknüpft.

Oder genauer: nicht an den äußeren Interessen. Ein schönes Beispiel sind da die im Mathematikunterricht neuerdings allseits beliebten "Handy-Tarif-Aufgaben": zwar sind diese Tarife tatsächlich ein echtes Problem für solche SchülerInnen, die sich mit ihren Handys hoch verschulden. Aber das liegt eben nicht daran, dass sie den falschen Tarif haben

(worauf all die "Handy-Tarif-Aufgaben" hochpädagogisch und doch völlig am Ziel vorbei hinauslaufen),

sondern dass sie zu viel telefonieren, SMS-en bzw. "downloaden" oder surfen, was bei jedem Tarif arg teuer wird.

Wenn überhaupt, so wäre also die Verschuldungsfalle (für einige SchülerInnen) "jugendnah".

Und wenn ich "die Jugend" überhaupt noch richtig verstehe, so geht es beim Handy doch vor allem um

  1. das Statussymbol (es muss immer das allerneueste mit allem technischen Schnickschnack sein),

  2. "Verbundensein" in mehr oder minder schweren Notfällen (um dann z.B. die Eltern anrufen zu können: "die Party dauert länger, und deshalb komme ich erst morgen früh um 5 nach Hause"),

  3. die Faszination des "Surfens" im Cyberspace (inkl. Spiele),

  4. permanente Erreichbarkeit (denn Jugend lebt ja in andauernder Angst, "irgendwas" zu verpassen).

Spätestens mit 4. haben wir aber "innere" Interessen, auf die ein Lehrer vielleicht durchaus eingehen könnte und sollte, wozu er aber überhaupt nicht über Handys sprechen müsste, sondern das ginge beispielsweise auch anhand literarischer Texte, die ähnliche Erfahrungen zeigen.


Nun könnte man natürlich zweierlei einwenden:

  1. warum über literarische Texte sprechen, wo doch Handys gemeint sind?

  1. vielleicht einfach, um sich nicht allzu aufdringlich in jugendliche Interessen einzumischen, was zu einer völligen Blockade der SchülerInnen führen könnte ("das geht den [Lehrer] nichts an!"),

  2. um vom Gegenstand "Handy" abzulenken und auf die mit ihm verbundenen "Gefühle" zu kommen,

  3. weil literarische Texte etwas formulieren, was im Handy nur "immanent angelegt" ist.

  1. wurde soeben gesagt:

"[...] das ginge beispielsweise auch anhand literarischer Texte, die ähnliche Erfahrungen zeigen."

Geht das denn wirklich? Bzw. sind wir da nicht gerade beim Grundproblem: dass viele SchülerInnen eben gerade nicht eine Beziehung zwischen den literarischen Texten einerseits und ihrem Handy-Verhalten erkennen können, dass also die literarischen Texte für sie völlig "non-local" und damit "un-real" bleiben?


Offensichtlich halten "wir" bzw. die Lehrplanmacher ja vielen Stoff für wichtig, und zwar weitgehend unabhängig davon, ob er den Interessen der SchülerInnen entspricht oder nicht.

(Wenn der Zwangsstoff die SchülerInnen aber eventuell dennoch interessiert, wird das natürlich gerne in Kauf genommen bzw. ist es einem sogar sehr recht, da der Zwangsstoff dann vermutlich besser gelernt wird.)

Partiell entspringt diese Einschätzung als "wichtig" sicherlich purer Gewohnheit, also Denkfaulheit, partiell gibt es dafür aber auch wirklich gute Gründe

(die ich - beispielsweise bei der Vermittlung "mathematischer Denkweisen" - hier aber nicht genauer aufführen möchte und die überhaupt schwer vermittelbar sind: "Wofür brauche ich das im späteren Leben?" - also sowieso nicht heute; man nenne mir beispielsweise eine einzige überzeugende "Existenzberechtigung" für das Fach Latein, bzw. die Verwertbarkeit scheint mir oftmals sowieso ein fataler Anspruch zu sein).

Der Grundtenor in Schulen ist oftmals: "Das müsst ihr einfach lernen, und ihr stürzt euch nur selbst ins Unglück, wenn ihr andauernd fragt, weshalb."

(Der Lehrer ist gerade neuerdings herrlich aus dem Schneider, wenn er immer nur auf die [Kern-]Lehrpläne, Bildungsstandards und zentralen Prüfungen verweist. Ja, er kann sogar ein herrlich ironisches [und lernförderndes?] Bündnis mit den SchülerInneN eingehen, indem er sagt: "Ich halte das zwar auch für Schwachsinn, kann´s aber nicht ändern.")

Und vielleicht ist es sogar (partiell) gut, wenn man nicht (andauernd) nach dem "Sinn" fragt:

  1. man gebe nicht etwas als hochinteressant aus, was einfach stinklangweilig, wenn auch teilweise nötig ist (z.B. Übungsaufgaben in der Mathematik);

  2. mit Schulstoff ist es im besten Fall wie mit einer guten Malzeit: da lässt sich schwer drüber sprechen, sondern im besten Fall kommt der Appetit beim Essen.

Arg anspruchsvoll mit Ernst Bloch gesagt:

"Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."

D.h. erst ein Abarbeiten am Stoff stellt manchmal "Heimat" her und macht den Stoff "local" und damit "real".


Und doch, welch ein Anspruch!:

"der [...] schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. [...] ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie [...]"

Natürlich kann Schule das aus vielen Gründen nicht immer schaffen - aber wo schafft sie es denn je ansatzweise? Bzw. wo richtet sie sich immerhin ein wenig an diesem (arg hochtrabenden?) Anspruch aus?


Und überhaupt zeigt die alltägliche Schulpraxis, dass es uns (nur mir?) andauernd misslingt, mittels "Abarbeiten" sowas wie "Heimat" herzustellen. In den allermeisten Fällen folgen die SchülerInnen uns kreuzbrav um der Noten willen, wird der Stoff für sie aber eben nicht "local" und damit "real".

Ein ziemlich dummer und dennoch nicht ganz falscher Satz ist nebenbei: "Ihr werdet [welch unsägliche Vertröstung, welch Opium für SchülerInnen!] später noch merken, wozu das alles gut ist."

"nicht ganz falsch", weil mir ja selbst erst viele Jahre nach der Schule aufgegangen ist, was da "graswurzelhaft" angelegt wurde, oder weil ich immerhin von einigen (arg wenigen!) Ex-SchülerInneN gesagt bekommen habe, dass es ihnen auch so ergangen ist.


Auch wenn es sich nach all den Problematisierungen anders anhören mag, ist mir doch gar nicht nach Depressionen

(oder gar Selbstmitleid bzw. Vorwürfen gegenüber "den" Schülerinnen),

sondern ich ahne durchaus hier & da bzw. ab & zu Auswege

(ich glaube ja sowieso nicht an Patentrezepte & ad-hoc-Revolutionen).

Vor allem glaube ich eben doch daran

(halte ich mich daran fest?),

dass der Unterricht "immanent" interessanter werden kann

("immanent" heißt dabei, dass man es bei aller Altersgemäßheit dennoch gar nicht - allzu billig - auf "Jugendnähe" und "Verwertbarkeit" anlegt, sondern den Stoff "für sich sprechen lässt" und ihm Überzeugungskraft zutraut; im Hinblick auf Mathematik gesagt: nichts gegen Anwendungsaufgaben, aber man kann auch die reine Inner-Mathematik [die l´art pour l´art] spannend[er] machen!

"interessanter" ist dabei für mich durchaus Selbstzweck: zwar hoffe ich leise darauf, dass, wer interessiert lernt, auch besser lernt, aber ich will mich hier keineswegs dem fatalen Trend zum permanenten Leistungsvergleich anschließen, dem Interessantheit sowieso egal sein kann und der sie sogar eher zerstört.)

Ansätze für größere Interessantheit, vor allem aber für "local" und "real" sind:


Kein Zweifel, es gibt sie auch, die wirklich interessierten SchülerInnen

(vielleicht sind es sogar mehr, als man denkt).

Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie sich kaum trauen, das laut in ihren Klassen zu sagen.