erschreckend faszinierend

 

Merkwürdig bzw. geradezu bezeichnend ist es ja doch, dass aus dem Fernsehgerät der Fernseher geworden ist, d.h. dass das Gerät den Namen des Fernsehenden (und damit diesen selbst?!) übernommen hat. Und analog ist. die Tätigkeit "Fernsehen" auf das "System" (alle Fernsehprogramme zusammen) übertragen worden.

ein Karussell in einem Kaufhaus: die Kinder machen auf den Tieren "Hoppe, hoppe, Reiter!", lächeln und kreischen vor Glück.

Plötzlich startet auf einer Monitorwand aus zwölf Bildschirmen mit Bild und Sound ein Film aus der Serie "Lauras Stern" - und alle Kinder auf dem Karussell schauen ab dann nur noch (nach jeder Umdrehung des Karussells) mit versteinerten Gesichtern auf die Bildschirme.

(Und Freunde haben ein hyperaktives Kind, das jahrelang überhaupt nur vor dem Fernseher verlässlich, und zwar stundenlang, ruhig wurde.)

Um es mit Marshall McLuhan zu sagen:

Bild ,

d.h. das "Problem" ist nicht

(wie viele moralinsaure Eltern und Pädagogen denken),

was der Fernseher zeigt

(mehr oder minder "kindgerechte" Filme),

sondern der Fernseher selbst:

mein dreijähriger Sohnemann würde, wenn er nur dürfte, ausnahmslos alles im Fernseher ansehen

(also völlig unabhängig davon, ob er die "Geschichten" schon versteht; aber Kinder lernen ja gerade dadurch, dass sie alles "inhalieren" und zunehmend mehr verstehen),

Hauptsache,

- ja was denn eigentlich?:

  • es bewegt sich

  • und ist Sound dabei?

Nun kann das allein es ja nicht sein, denn die Nicht-Fernseh-Wirklichkeit bewegt sich ja auch und klingt auch

(... wenn auch immer weniger? Wo bekommen Kinder noch "Primärerfahrungen" mit, wo sind sie noch erlaubt?:

  • Spielen auf einer - und sei's verkehrsberuhigten - Straße?: geht nicht mehr, weil Kratzer an die parkenden Autos und damit ans Selbstbewusstsein ihrer Fahrer kommen könnten;

  • Schlittenfahren [falls überhaupt mal Schnee liegt]?: geht nicht mehr, weil schon frühmorgens um sieben alle Bürgersteige längst vorschriftsmäßig geräumt sind: Bild

  • Rumtollen, Verstecken ... im Unterholz?: geht nicht mehr, da es kein Unterholz mehr gibt [das Wäldchen, in dem ich groß geworden bin, ist inzwischen klinisch rein, da gibt's zwischen den Bäumen nur noch englischen Rasen];

  • Abenteuer(auf einem)spielplatz?: geht nicht mehr, weil Spielplätze heute mit TÜV-zertifizierten Einheitsgerüsten ausgestattet und ansonsten besenrein sind;

  • nach Herzenslust (und ohne Rücksicht auf die Arbeit für die Eltern mit den vor Schmutz starrenden Klamotten) rummantschen und -matschen im Wasser? - erst jetzt, als in der Nachbarschaft eine Baugrube ausgebaggert und das einfließende Grundwasser abgepumpt wird und im Rinnstein eine lange Strecke offen im Rinnstein bis zum nächsten Gulli fließt, fällt mir auf, dass es in meiner Kindheit noch massenhaft Gräben und Bächlein mit spielbarem fließendem Wasser gab;

aber ich weiß: das sind bloß nostalgische Restbestände aus meiner ach so schönen Kindheit).

Keine Ahnung also, was der eigentliche Grund dafür ist, dass der Fernseher die Gesichter so erstarren und Kinder geradezu unansprechbar werden lässt.

Oder vielleicht doch: eine sich bewegende Wirklichkeit hinter Glas, d.h. man ist direkt dabei

(beim "Allerelementarsten", nämlich in den Schlafzimmern und beim Sterben - wenn auch nur dem durch Mord)

und doch abgetrennt (sicher)?

(Nachtrag einige Zeit später
: im Zoo von Münster werden mittels zweier Beamer die sich bewegenden Schwarz-weiß-Silhouetten von Tieren an eine Wand projiziert, und mein dreijähriger Sohnemann steht genauso gebannt davor und ist nicht mehr weg zu bekommen. Er erkennt auch durchaus das Projektionsverfahren

[als ich in die Lichtstrahlen trete und mein Schatten zusätzlich auf die Wand fällt, jagt er mich ziemlich ungehalten davon].

Könnte es sein, dass gerade die Mischung aus Künstlichkeit [nur Schatten] und Natürlichkeit [lebensechte Bewegungen] "es macht"?: Fernsehen ist auf faszinierende Weise echt und gleichzeitig doch nicht echt?)

Das

(manchmal sehr praktische, also für Eltern allemal verführerische)

"Ruhigstellen" von Kindern funktioniert dabei durchaus auch mit einem

(wie wir ihn "nur" haben)

Mini- oder sogar mit einem Schwarzweiß-Fernseher.

Inzwischen "explodieren" die Fernseher aber geradezu:

  • sie werden gigantisch groß

("und ich mittendrin"),

  • drumherum steht eine Wagenladung Lautsprecher,

  • und all das ist nur der Anfang bzw. fast schon wieder veraltet

(und sowieso lächerlich):

  • die Menschen werden zwar nicht (wie auf dem Bild) Riesenwohnzimmer, aber doch wandgroße (hauchdünne, ausrollbare) Bildschirme haben

  • und irgendwann in (da bin ich mir sicher) nicht allzu ferner Zukunft wird auch das "Schnee von gestern" sein, d.h. es wird gar keine Bildschirme und Lautsprecher mehr geben, sondern die Gehirne werden wird wie in

Bild

direkt an die Cyberwelt angeschlossen;

  • und dann, im letzten Schritt, wird wohl "Realität" werden, was bislang nur hochtrabend-leeres Versprechen bzw. Ablenkung ist, nämlich "Interaktivität": dann

(bei aus heutiger Sicht gigantischen Computerleistungen)

kann man sich frei in dieser Cyberwelt "bewegen", Einfluss auf sie nehmen bzw. in ihr entscheiden - ohne sich irgendwie zu bewegen

(nebenbei: mit der Idee der Interaktion

[und damit dem Übergang in eine andere Wirklichkeit und der Entgrenzung (vgl. "Windows")]

spielten Film & Fernsehen schon seit Ewigkeiten,

  • z.B. im Film Bild

["Seifendiebe" in Anlehnung an de Sicas Filmklassiker "Fahrraddiebe"],

in dem durch einen Kurzschluss ein Topmodell der Gegenwart in den ärmlichen vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts landet und später
umgekehrt eine arme Familie der vierziger Jahre in unserer glänzenden Gegenwart;

  • z.B. in Woody Allens Film  Bild , in dem eine Figur aus dem "Film im Film" durch die Leinwand heraus tritt und später
    umgekehrt wieder in sie hinein geht;

  • bemerkenswerterweise aber auch dadurch, dass diese Grenzüberschreitung nicht möglich ist: viele Spannung von Filmen entsteht überhaupt erst dadurch, dass der Zuschauer in die Filmhandlung eingreifen möchte

[z.B., um einer sympathischen Figur zu helfen oder sie zu warnen],

das aber nicht kann.)

Spätestens dann ist das Aquarium mit der Trennung zwischen Zuschauern und Fischen ein schlechter Vergleich, sondern man ist "mitten zwischen den Fischen"

(was ja in vielen Großaquarien schon fast dadurch realisiert ist, dass man durch die Aquarien gehen kann).

Viel davon mag noch "Zukunftsmusik" sein - und verdeutlicht doch besonders gut, was mit Kindern (und Erwachsenen) bereits jetzt vor dem Fernseher passiert: eine vollständige Absorption, als wäre der Fernseher ein "schwarzes Loch", in das die Zuschauer reingesaugt werden und hinter dessen "Ereignishorizont" sie

(zeitweise; oder einige doch für immer?)

völlig verschwinden:

"Als Schwarzes Loch bezeichnet man einen Bereich der Raumzeit, der aufgrund eines starken Gravitationsfeldes so stark gekrümmt ist, dass weder Materie noch Licht oder Information aus dieser Region nach außen gelangen können. Die Grenze dieses Bereiches heißt Ereignishorizont."
(zitiert nach Bild )

Es ist also eine nur vordergründige Erklärung, dass Fernsehgeräte Lichtstrahlen und Geräusche aussenden. Vielmehr saugen sie die Zuschauer in sich hinein.