"Das einzige, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war,
dass ich ein Verlierer bin."
(Ausschnitt aus dem Abschiedsbrief des Amokläufers, der am 20.11.2006 eine Schule in Emsdetten überfiel,
viele Menschen verletzte und am Ende sich selbst ermordete)

 

vgl. auch

  • Bild

Ich kenne auch nur die einschlägigen Medienberichte, werde also den Teufel tun, hier über Schule und Elternhaus des Amokläufers, aber auch über ihn selbst weitergehende Mutmaßungen anzustellen

(da reden mir allzu viele Schlaumeier und [selbsternannte] "Experten" mit).

Nur so viel vorweg:

(Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob sich das grundlegende Problem, als Verlierer dazustehen, derzeit

[z.B. wegen des zunehmenden ökonomischen oder PISA-Drucks, den SchülerInnen sehr genau bemerken und der ihnen ja auch andauernd eingeredet wird - und pauschal ihre ganze Generation unter Generalverdacht stellt]

verschärft - oder gewisse SchülerInnen heute einfach "nur" effektivere Waffen haben.

Aber selbst wenn das Problem uralt sein sollte, wird es dadurch nicht kleiner oder weniger dringlich.

Nebenbei: ich meine "pubertierend" rein deskriptiv, also nicht wertend, zumal ich noch genau weiß, welches Amalgam aus Verzweiflung = Wut seinerzeit in mir "subkutan" brodelte: eine Mischung, von der viele Eltern und Lehrer

[die nie so waren oder es einfach vergessen/verdrängt haben]

oftmals keinen blassen Schimmer haben, eben weil alles still und leise vor sich hin köchelt, meistens auch nicht den Dampfdrucktropf sprengt - und in der Regel später
auch wieder abkühlt.

Man höre/schaue sich

[falls man da überhaupt Zugang hat bzw. es überhaupt mitbekommt; denn ein Kind kann einem auch schrecklich entgleiten]

doch nur mal aus reinem "Forschungsinteresse", also unter Hintanstellung allen eventuellen Entsetzens an, was so einige Jugendliche

vieles davon mag bloßes Ventil sein, aber es kann auch "tiefer" gehen und

(den Eltern, "der" Gesellschaft oder der Schule)

alle Schuld am Misslingen seines Lebens gibt

("einfach", wenn die Konsequenz daraus Selbstmord ist?):

vgl. etwa Bild.


 

"Als erstes lernte ich in der Schule, daß manche Schüler dumm sind, und als zweites, daß einige andere sogar noch dümmer sind."
(Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger 2006; fragt sich nur, ob der da von anderen Schülern sprach - und es überhaupt schlecht fand)

Mich interessiert (hier) also gar nicht die Geschichte des Amoklaufs in Emsdetten bzw. überhaupt das Problem von Amokläufen (in Schulen), sondern einzig und allein der Satz

"Das einzige, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war,
dass ich ein Verlierer bin"
,

und zwar so, als wenn er gar nicht von dem emsdettener Amokläufer stammte, sondern von einem "erstbesten" (ehemaligen), meist wohl kaum zum Amoklauf neigenden Schüler.


Interessant daran finde ich auch, wie solch eine Einschätzung in einem Schüler entstehen kann.

Der emsdettener Amokläufer - um ihn hiermit zum letzten Mal zu erwähnen - war zwar (so zumindest Presseberichte) mehrfach "sitzen" geblieben, stand hinterher aber dennoch immerhin in Mathematik "sehr gut".

Damit möchte ich die Einschätzung

"Das einzige, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war,
dass ich ein Verlierer bin."

keineswegs als Einbildung, d.h. rein subjektiv, also objektiv falsch darstellen.

Sondern ich unterstelle mal, dass sich da jemand "unter dem Strich" bzw. "summa summarum" als Verlierer empfunden hat (empfinden musste?).

Vermutlich ist es nicht monokausal, sondern langfristig dazu gekommen

(eine Serie von Misserfolgen und irgendwann dann auch eine "selffullfilling prophecy").

Aber ich kenne auch Fälle, wo bei SchülerInneN aufgrund einer einzigen entwürdigenden (oder als entwürdigend empfundenen) Lehreräußerung alles zusammengebrochen ist (oder zumindest hat es sich bei solchen SchülerInneN so in der Erinnerung festgesetzt).


Damit aber zurück zu

"als wenn [der Satz] von einem »erstbesten« (ehemaligen) [...] Schüler [stammte]."

"Erstbeste" heißt ja keineswegs, dass nun alle SchülerInnen solche Erfahrungen machen. Z.B. habe ich in meiner Schulzeit nicht diese Erfahrung gemacht (zumindest nicht "summa summarum").

Aber dass ich selbst nicht solche Erfahrungen gemacht habe, macht mich doch nicht blind dafür, dass vermutlich nicht wenige SchülerInnen in der Schule solche Erfahrungen machen

(und sie später
ein Leben lang mit sich schleppen, was man dann beispielsweise daran erkennt, dass sie auch viele Jahre später
Schule, LehrerInnen oder auch einzelne Fächer pauschal aburteilen - also nie erwachsen geworden sind).


Man sagt heutzutage oftmals, dass Schule - anders als "peergroups" oder Medien - reichlich wenig Einfluss auf Jugendliche habe, also beispielsweise auch LehrerInnen völlig überfordert seien, wenn sie alle Probleme der SchülerInnen lösen (oder auch nur wahrnehmen) sollten.

Daraus folgt für

mich beispielsweise auch, dass vermutlich nur derjenige sich als völliger Verlierer empfindet, der auch außerhalb der Schule keinen Halt findet.

(Nur ein Beispiel: manchmal rate ich den SchülerInneN,

Aber ich weiß, das sagt sich so leicht [und ähnelt "sei doch mal spontan"], denn das kann wohl nur demjenigen gelingen, der schon "Halt" hat - der es also sowieso schon kann und tut?)

Und dennoch ist Schule natürlich eine enorm einschneidende Erfahrung

(vielleicht eine der wenigen, die jeder hat, weshalb ja auch alle meinen, über Schule mitreden zu dürfen),

z.B. weil


Die Erfahrungen in der Schule sind vielschichtig, d.h. Noten sind keineswegs das Einzige, was SchülerInnen da erleben. Als "Verlierer" mag sich also beispielsweise auch empfinden, wer zwar gute Noten "mit nach Hause bringt", aber permanent (und sei's als angeblicher "Streber") gemobbt wird.

Dennoch sind Noten natürlich auch eine entscheidende Erfahrung - und vielleicht doch die entscheidendste.

Ich will es niemandem einreden

(und hoffe noch immer, dass SchülerInnen, die reihenweise schlechte Noten einfahren, woanders "Halt" haben),

aber ich stelle es mir doch zumindest "nicht einfach" vor, ein gesundes Selbstbewusstsein zu bewahren, wenn man andauernd schlechte Noten einführt.

Und Sätze wie "Noten sind nicht das Wichtigste im Leben, sondern letztlich interessieren die »inneren Werte«" sind doch oftmals verlogen:

was - außer den Noten - nimmt beispielsweise ein Lehrer, der 30 SchülerInnen gleichzeitig vor sich sitzen hat, von diesen denn überhaupt wahr (kann er überhaupt wahrnehmen)? Die Konsequenz (ein wenig überspitzt gesagt) ist doch, dass man manchmal nicht von SchülerInneN spricht, sondern beispielsweise von "der 3 hinten links am Fenster"

(etwa so, wie ein Chirurg von "dem Blinddarm auf Zimmer 4" sprechen mag).

Und auch der Satz "Schulnoten sagen wenig über den später
en Erfolg im Leben" stimmt in der Regel nicht.


Wir (LehrerInnen, aber auch alle anderen für

Schule Verantwortlichen) werden uns der Konsequenz stellen müssen, dass Schule SchülerInnen kaputt machen kann!

... und zwar aus mehreren Gründen:

  1. strukturell, d.h.

"[...] insbesondere die deutsche Schulkultur [Kultur?] sondert Kinder mit bürokratischer Kälte aus."
(zitiert nach Bild )

  1. durch schlechte Lehrer, wobei sofort zu ergänzen ist:

(was keineN schlechteN LehrerIn entschuldigt);

(vgl. etwa auch

"Ich kenne wunderbare Lehrer, Menschen, die sich verzehren in ihrem Beruf, aber im Prinzip ziehen wir [und ich, H.St., meine: durch die zunehmende "Objektivierung" verschärft] an unsere Schulen eher Pflicht erfüllende Verwaltungsbeamte [...]"
[wieder zitiert nach Bild ; wobei man ergänzen muss, dass LehrerInnen immer mehr zu Verwaltungsbeamten gemacht werden])

  1. gibt es noch einen vielleicht sogar besonders fatalen, weil unbeabsichtigten Effekt: einE (jedeR!) LehrerIn kann SchülerInnen

erheblich wehtun.


Aus all dem mag man nun fälschlich raushören, ich sei für

eine weichgespülte Schule.

Nein:

"Wir brauchen an unseren Schulen, in unseren Beratungsstellen Erwachsene mit einem gelebten Leben, die auch einem 18-Jährigen gegenübertreten mit der Ausstrahlung: Ich gebe Dir Halt, wir stellen uns der Welt und wir schaffen das. Und wenn ich dir das verspreche, dann ist das auch so. Der Jugendliche soll denken: Ich kann ja doch was, ich bin ja etwas wert, aber auch Respekt haben können. Wenn mich jemand lobt oder lobend anguckt, den ich respektiere, dann geht das unmittelbar ins Selbstwertgefühl über.
[...]
Wir haben diese Lehrerpersönlichkeit äußerst selten. Wir haben wenn, dann eher ganz weiche, therapeutisch einfühlende, das hilft diesen Schülern überhaupt nicht."
(wieder zitiert nach Bild ; nunja, das sagt sich so leicht - und stammt natürlich aus dem Munde eines Pädagogikprofessors)

... wobei ich mich sofort wieder leise frage, ob ich solchen Ansprüchen genüge.


Alles Gesagte bedeutet nun ja nicht, dass man sich als Lehrer in Depressionen oder Selbstanklagen ergehen müsste. Aber es wäre doch naiv bis unverantwortlich, es schlichtweg zu leugnen.


An allen Schulen wird ab und zu SchülerInnen bitter unrecht getan, und ich befürchte, dass ein Nachahmungstäter in jeder Schule auftauchen kann

(als Lehrer bekommt man da inzwischen ab und zu wirklich ein wenig Angst!).

Aber hier spreche ich mal von wirklich schwierigen Schulen

(also nicht von mir - und auch nicht von der emsdettener Schule, von der ich nichts weiß):

"für das, was Lehrer an Schulen in problembeladenen Stadtteilen täglich und über Jahre hinweg für unser Land leisten, müsste es Orden regnen."
 (zitiert nach Bild )

Solche LehrerInnen

(vor deren Arbeit und Engagement ich einen Heidenrespekt habe und deren eventuelle Resignation und "burn-out-Syndrome" ich bestens verstehen kann),

haben nun wahrhaft andere Sorgen als das, was derzeit "mainstream" in der Bildungspolitik ist, also "Lernstanderhebungen", zentrale Abschlussprüfungen ..., ja, ich vermute mal, dass sowas ihnen das (über-)Leben nur noch schwerer macht.