ist das Allgemeinbildung?
(Bildquelle: , 14.12.2006)

Die Frage ist durchaus "dreistöckig" gemeint:

  1. Muss man wissen, wie die Beschäftigungsentwicklung aussieht - und speziell in Pusemuckel bzw. dem Münsterland?

  2. und da die Grafik zur Hälfte Prognose ist

(was man ja erstmal erkennen muss?):

muss man (kritisch) mit Prognosen umgehen können?

(Ein Beispiel für "kritisch": "Die Neuverschuldung nimmt ab.":

  1. Wie viel?

  2. Wie lange?

  3. Ist eine abnehmende Neuverschuldung eigentlich zweifelsfrei gut?

  4. Aber das ist doch nur [immerhin] ein Wendepunkt [s.u.], nicht ein Maximum!)

  1. und wenn man mehr an der "Bauart" der Grafik als an Ihrem Thema

(also erstens Beschäftigungsentwicklung, zweitens im Münsterland)

interessiert ist: muss man solche Grafiken "verstehen" können?


Zu 1.:

(womit sich doch z.B. auch die schon "globalere" Frage stellt: schlägt ein allgemeiner Trend besonders gut oder schlecht im Münsterland durch - und weshalb? Oder entwickelt sich das Münsterland evtl. sogar gegen einen Trend - und wieder: weshalb?);

(und seis aus rein "egoistischen", also "existentiellen" Gründen)

allgemeine ökonomische Entwicklungen mitbekommt

(z.B. Beschäftigungsentwicklung in Deutschland, der EU ...).

Nur: so blind kann ja wohl keiner sein (?), dass er die derzeitige Erholung "der" deutschen Wirtschaft und des Arbeitsmarkts nicht mitbekommt

(fragt sich nur:

  1. Wie lange noch?

  2. Verdient eine leichte Trendwende überhaupt den Namen "Erholung"?).

Zu 2.:

Prognosen - und dieses Wissen halte ich durchaus für Allgemeinbildung! - ist ganz grundsätzlich mit Skepsis zu begegnen, was sie ja keineswegs überflüssig macht und auch nicht heißt, dass man ihnen vollständig misstrauen sollte:

  1. kommt es anders, und

  2. als man denkt,

  3. kann hinter Prognosen - neben reiner Schlampigkeit - ja auch Meinungsmache stecken, also beispielsweise

Bei Prognosen sind also allemal die Seriosität und Unabhängigkeit der Prognostizierenden bedeutsam - und eigentlich auch

("eigentlich", weil beide meist kaum erhältlich und - falls doch - schwer zu verstehen sind).

Zu 3., also der "Bauart" von Grafiken unabhängig vom Inhalt:

Grafiken und Diagramme dieser Art im Unterricht durchzunehmen, ist derzeit - vor allem in Folge von PISA - topmodern, und mit dieser Konsequenz bin ich ausnahmsweise vollständig einverstanden, und zwar aus drei Gründen:

  1. kann man an solchen Grafiken viel für die Mathematik selbst lernen, nämlich ein anschaulicheres Verständnis von sonst arg abstrakten Funktionsgraphen,

  2. sind solche Grafiken ja fast das einzige Mathematische, was allüberall in der "außermathematischen" Wirklichkeit (Medien) vorkommt, und

  3. in der Tat besonders geeignet, eine spezifische "Funktions[!]weise der Wirklichkeit" zu illustrieren und verständlich zu machen.

Und gerade wegen 3. gehört ein Verständnis solcher Grafiken für mich unbedingt zur Allgemeinbildung!


All das (also 1., 2. und 3.) gehört in den Mathematikunterricht!

(es geht also keineswegs an, Grafiken nur völlig unabhängig von ihrem Inhalt zu betrachten),

aber weil das hier doch eine Mathematik-Internetseite ist, werde ich mich im Folgenden ausschließlich mit 3. beschäftigen, also der rein mathematischen Aussagekraft von Grafiken.


Da nun bleibt zu allererst zu begründen, aus welchen mathematischen Gründen ich ausgerechnet die Grafik

gewählt habe:

weil in ihr - völlig ungewöhnlich für Zeitungen und Zeitschriften - zwei Funktionsgraphen gleichzeitig abgebildet sind, deren Zusammenhang (so behaupte ich mal: wie wir noch sehen werden) hochinteressant ist.

Gleichzeitig ist die Gesamtgrafik dadurch allerdings auch besonders schwer verständlich, so dass ich gleich eingestehe: das Verständnis solch einer Doppelgrafik halte ich schon nicht mehr für "Allgemeinbildung"- wohl aber das, was sozusagen hinter dem Zusammenhang beider Graphen steckt und unten aufzuzeigen versucht wird.

Ich möchte also fast mal behaupten, dass ein (durchaus "allgemeingebildeter") "Durchschnittsmensch"

(wobei "verstehen" heißt, die Entwicklung der Einzelgraphen über die Jahre hinweg zu erkennen),

Anders gesagt: die Gesamtgrafik ist zu schwierig für eine normale Tageszeitung - und daher irreführend, wenn nicht gar kontraproduktiv.

(Mir scheint, da haben Mathematiker eine Grafik erstellt, die ursprünglich gar nicht für die Zeitung gedacht war und nur versehentlich dort gelandet ist.)


Zum besseren Verständnis hier nun aber die vollständige Grafik:

Dem lässt sich nun entnehmen:


Schauen wir uns mal genauer an, warum der Zusammenhang beider Graphen so schwer zu erkennen ist:

  1. ist der blaue Graph durchgehend (eine einzige Linie von links nach rechts), während

  2. der rote Graph nur punktuell ist (einige rote Säulen nebeneinander).

  3. während die Bedeutung der (einen) horizontalen x-Achse noch eindeutig klar ist (Jahre), ist es schon mal ungewöhnlich, dass es in der Grafik zwei vertikale y-Achsen gibt (eine ganz links, die andere ganz rechts):

(die wohlgemerkt relativ, also in Anteilen [von Hundert] angegeben sind);

(und die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist absolut angegeben).

Kommt hinzu, dass die beiden y-Achsen völlig verschieden "zentriert" sind:

In die rechte y-Achse musste zudem die Unterbrechung // eingebaut werden, da beim vorliegenden Maßstab "je 10.000 etwa ein Zentimeter" der Nullpunkt eigentlich 45 cm (!!!) unterhalb der Grafik läge, wofür natürlich weder in der ursprünglichen Zeitung noch hier Platz wäre.

Das aber hat bedeutsame Folgen: wollte man die gesamte rechte y-Achse platzsparend abbilden, so müsste man etwa den Maßstab "je 10.000 ein Millimeter" wählen. Da die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten aber laut Grafik zwischen 480.000 und 500.000 schwankt, wären das im neuen Maßstab nur noch zwei Millimeter, d.h. die Schwankungen würden erheblich undramatischer aussehen bzw. fast gar nicht erkennbar sein.

Auf der rechten y-Achse liegt also eindeutig eine "Fälschung" bzw. "Dramatisierung" vor. Nur ist das nicht notwendig böse Absicht sein, sondern dient wohl dazu, die Schwankungen überhaupt klar erkennbar zu machen.

Nebenbei: die Schwankungen auf der linken y-Achse, also bei den Prozentangaben, liegen zwischen +2,5 % und -2 %, also +2,5 von Hundert und -2 von Hundert. Es bestehen also - auf die riesige 100 bezogen - nur minimale Schwankungen, weshalb man sagen könnte, dass auch die linke y-Achse (zwecks Erkennbarkeit) erheblich dramatisiert ist.

(Zudem lässt sich ja streiten, ob 2,5 % Zunahme ein grandioser oder eher vernachlässigbarer Zuwachs ist.)

  1. scheinen die Maßstäbe auf der linken und der rechten y-Achse unabhängig voneinander gewählt worden zu sein: man hat wohl einfach versucht, alle Veränderungsraten sowie die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten im entsprechenden Zeitraum möglichst groß in der Grafik unterzubringen, und da lag es eben nahe,

(dass auch der Bereich zwischen 450.000 und 480.000 auftaucht, hat vermutlich zwei Gründe:

  1. sollte der blaue Graph wohl nicht auf der Jahres-x-Achse aufliegen, da das fast vermuten ließe, es hätte mal gar keine sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten gegeben,

  2. sollten die beiden Graphen sich wohl - zwecks Unterscheidbarkeit - nicht überschneiden, so dass der blaue Graph ein bisschen höher als der rote gelegt werden musste).


Damit aber zu den beiden o.g. Punkten

  1. ist der blaue Graph durchgehend (eine einzige Linie von links nach rechts), während

  2. der rote Graph nur punktuell ist (einige Säulen nebeneinander).

Da könnte man ja immerhin fragen, warum dieser Unterschied gemacht wurde. Die beiden Gründe sind wohl:

  1. die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigen ändert sich kontinuierlich

(es ließe sich theoretisch für jeden beliebigen Zeitpunkt bestimmen, wie viele es davon gibt, z.B. "am 13.5.2004 um 11.53 Uhr gab es 480.327 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte";
und dennoch ist die Veränderung natürlich nur annähernd kontinuierlich, denn im Extremfall nimmt die Zahl beispielsweise - z.B. von einer Sekunde auf die andere - von 480.327 auf 480.328 zu, gibt es also immerhin einen - wenn auch winzig kleinen - Einersprung);

"kontinuierlich" heißt aber eben, dass man einen durchgehenden Strich zeichnen kann (mathematisch spricht man auch von "Stetigkeit");

  1. gerade weil die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sich (annähernd) kontinuierlich verändert, sind die Veränderungsraten nicht kontinuierlich messbar.

Und das keineswegs nur deshalb, weil es unpraktisch bzw. praktisch unmöglich wäre, jederzeit die Veränderungsraten zu bestimmen

(wie es ja auch unpraktisch wäre, jederzeit [z.B. für jede Sekunde] die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten zu bestimmen),

sondern auch aus ganz grundsätzlichen (theoretischen) Gründen:

in einem einzigen Augenblick gibt es gar keine Veränderung geben, sondern diese existiert nur zwischen zwei Augenblicken - und diese beiden Augenblicke wurden eben im monatlichen Abstand gewählt

(weil die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten offensichtlich - wie wir gleich sehen werden - nur monatlich erhoben wird).

Der kleine Einschub muss sein:

hinter der popeligen Grafik lauert die halbe Mathematikgeschichte, nämlich hier - beim Messen der "Momentangeschwindigkeit" - die Ableitung bzw. Differentialrechnung der mathematischen Giganten Newton und Leibniz.

Nun ist es ja - wie oben schon angedeutet - auch bei der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigen unpraktisch bzw. praktisch unmöglich, für jeden Augenblick ihre Anzahl zu bestimmen. Aber diese Anzahl verhält sich doch zumindest theoretisch

(also auch dann, wenn sie zwischen zwei Messzeitpunkten nicht gemessen wird)

annähernd kontinuierlich, d.h. man kann z.B. aus monatlichen Messwerten die ungefähren Zwischenwerte ermitteln.

Genau das ist aber, wie der blaue Graph zeigt, offensichtlich geschehen, denn die Werte der monatlichen Erhebungen sind nicht durch eine "anschmiegsame" Kurve

,

sondern "zackelig" durch gerade Strecken verbunden worden:

Dass dennoch eine durchgezogene Linie gezogen wurde, soll wohl darauf hinweisen, dass sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten "eigentlich" (annähernd) kontinuierlich verändert

(wobei "eigentlich" heißt: auch dann, wenn sie gerade nicht gemessen wird).

Immerhin verweist die belassene "Zackeligkeit" aber darauf, dass diese Zahl nur einmal im Monat gemessen wurde.


Damit komme ich auf das zurück, was ich schon oben gesagt hatte: dass ein (durchaus "allgemeingebildeter") "Durchschnittsmensch" vermutlich

(wobei "verstehen" heißt, die Entwicklung der Einzelgraphen über die Jahre hinweg zu erkennen),

Wenn man nämlich doch mal probeweise beide Graphen durchgezogen zeichnet, ergibt sich folgendes Bild:

Auf den ersten (laienhaften?) Blick scheinen beide Graphen nichts miteinander zu tun zu haben. Ja, zumindest in einem Bereich verhalten sie sich sogar gegenläufig, d.h. fällt der blaue Graph, steigt aber der rote:

Dennoch kann man aber bei genauerem Hinsehen vermutliche Gemeinsamkeiten erkennen: beide Graphen

Man könnte sogar vermuten,

dass der rote Graph dem blauen ein wenig voraus, also eine Art "Frühwarnsystem" für den blauen Graphen ist.

Das aber hieße doch, dass der rote Graph fast wichtiger als der blaue ist.


Nun gibt es aber sehr wohl einen direkten Zusammenhang zwischen beiden Graphen, den man gut erkennen kann, wenn man die roten Balken an den blauen Graphen "dranschiebt":

(dabei ist dreierlei zu ergänzen:

  1. werden die roten Balken am blauen Graphen

  • nach oben abgetragen, wenn sie positiv waren,

  • und nach unten abgetragen, wenn sie negativ waren;

  1. sei frischweg eingestanden, dass das "Dranschieben" nur annähernd funktioniert, weil die ursprünglichen roten Balken ein wenig zu lang sind und deshalb, wenn sie oben abgetragen werden, leicht - hier mit einem Grafikprogramm - gekürzt werden müssen;
    so gesehen wäre es einfacher gewesen, wenn von Anfang an auf der linken y-Achse der Maßstab ein wenig kleiner gewählt worden wäre;

  2. ist die "Vermengung" von roten Balken einerseits und blauer Kurve andererseits ja durchaus problematisch, weil erstere relative Werte angeben, letzterer absolute Werte).

Oder einfacher:

Die roten Balken zeigen also jeweils an, um wieviel der blaue Graph im entsprechenden Jahr gestiegen oder gefallen ist.

Oder mathematisch gesagt: die roten Balken zeigen die Steigung des blauen Graphen an

(wobei mathematisch selbst dann von einer "Steigung" die Rede ist, wenn der Graph fällt; und zwar spricht man dann von einer  negativen Steigung).

Ebenfalls mathematisch gesprochen: der rote Graph stellt die "erste Ableitung" des blauen Graphen dar. Aber das muss man ja noch gar nicht wissen - und kann dennoch Interessantes entdecken:

schauen wir uns dazu nochmals den so markanten grünen Bereich in

an, in dem, wie schon gesagt, der blaue Graph (noch) fällt, während der rote schon steigt

(d.h. die roten Balken werden kürzer, wenn sie auch noch alle negativ sind).

In unserer neuen, "drangeschobenen" Darstellung sieht das so aus:

Daran ist ersichtlich:

  1. weil die roten Balken 1, 2 und 3 alle noch negativ sind, geht der blaue Graph im grünen Abschnitt immer weiter runter;

  2. weil die roten Balken (von 1 nach 2 nach 3) aber immer kürzer werden, geht der blaue Graph zunehmend weniger steil runter - oder anders gesagt: es liegt eine Linkskurve vor.

"weniger steil" heißt aber, dass sich eine Trendwende des blauen Graphen (der Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten) vollzieht, obwohl der blaue Graph noch fällt.

Das also ist der Sinn des roten Graphen:

der rote Graph zeigt viel deutlicher Trends des blauen Graphen an, bzw. unsere Vorahnung bestätigt sich: der rote Graph ist ein "Frühwarnsystem" des blauen.

Und am interessantesten sind natürlich die Punkte des Trendwechsels: wenn also rote Graph von steigend in fallend übergeht (oder umgekehrt).

Anders gesagt: wenn der rote Graph ein Maximum oder ein Minimum O hat, hat der blaue Graph einen "Wendepunkt" O.

Das ist auch das einzige, was ich an all diesen Überlegungen für "allgemeinbildend" halte: dass an Entwicklungen oftmals nicht die allzu augenfälligen

(und zu unangebrachtem Optimismus oder Pessimismus Anlass gebenden)

Maxima oder Minima, sondern die Wendepunkte das Wichtigste sind.

Oder weniger mathematisch gesagt: dass "Trendwechsel" besonders wichtig sind.

Nunja, da kann man sich streiten, ob für so ein bisschen (triale?) Erkenntnis so viel Mathematik nötig war.


Und nun erst der Zeitungsartikel mit Überschriften:

"Dienstleistungen im Aufwind" hört sich ja noch positiv an, "Industrie in Gefahr" hingegen negativ - wobei man ja immer noch vermuten könnte, dass der positive den negativen Trend überkompensiert, z.B. etwa, weil wir zunehmend in einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft leben.

Nicht nur ist die Gegenwart (2006) ein Zwischenhoch (des roten Graphen), nach dem es laut Prognose im Jahr 2007 wieder leicht (wegen der Mehrwertsteuererhöhung?) bergab geht, worauf dann aber in den Jahren 2008 und 2009 wieder ein Anstieg (des roten Graphen) zu erwarten ist. Sondern der letzte rote Balken (für 2010) ist kleiner als der vorletzte (für 2009), d.h. bei 2009 liegt - bzgl. des roten Graphen - ein Maximum vor, nach dem der rote Graph wieder runter geht. D.h. aber heißt wiederum, dass zwischen 2009 und 2010 sich laut Prognose eine Trendwende vollzieht, obwohl der blaue Graph auch da noch steigt - aber eben langsamer.