Annäherung Mathematik - Geschichte

(erste pädagogisch-methodische Überlegungen)

Gleich vorweg:

nein, ich bin nicht fundamentalistisch, ich meine nicht, daß in "Mathematik als Kulturwissenschaft" und "Mathematikgeschichte" die einzige Wahrheit bestehe.

Glatt im Gegenteil: vor allem finde ich die "ganz normale Mathematik", den Stoff wichtig, und alles andere ist ihm überhaupt erst hinzuzufügen.

Ich habe einen Riesenrespekt vor Mathematik-LehrerInneN, die "nur" Mathematik beibringen - die aber sehr gut.

"Mathematik als Kulturwissenschaft" und "Mathematikgeschichte" können immer nur exemplarische Ansätze sein:

  1. , weil es - mitten im Alltagsgeschäft - viel zu viel Arbeit wäre, eine komplette Unterrichtseinheit auszuarbeiten;
  1. , weil solch eine solistische Unterrichtseinheit die SchülerInnen völlig überfordern  würde und sie sich gründlich gegen sie wehren würden.

Ich will keine Revolution, sondern eine ganz kleine, exemplarische Evolution: was mich interessiert, ist, wie man "immer mal wieder" die "Mathematik als Kulturwissenschaft" und die "Mathematikgeschichte" einbringen kann (weil SchülerInnen sowieso überhaupt nur durch Wiederholung und Spiralcurriculum lernen): z.B.

  • bei der Formelsprache spätestens in der 7. Klasse,
  • beim Satz des Pythagoras und der Wurzelproblematik in der 9. Klasse,
  • bei der Kreis- und Trigonometrie-Problematik in der 10. Klasse,
  • bei der Ableitungs- und Integrations- (und allemal Limes-)Problematik in der 11. und 12. Klasse.

Eine Annäherung beider Gebiete ist eigentlich gar nicht nötig, weil Mathematik schon immer in der Geschichte stattfand.

Aber so wird Mathematik heute leider nicht wahrgenommen, so präsentiert sie sich nicht (sondern  völlig ahistorisch), und schon gar nicht wird sie so in Schulen vermittelt.

Eigentliches Thema ist hier also, wie man Mathematik in der Schule wieder mehr historisieren kann.

Grundsätzlich scheinen mir da zwei verschiedene Zugänge möglich:

1. mathematikhistorische Exkurse zum üblichen Unterrichtsstoff

Man sucht zum üblichen Unterrichtsstoff (in seiner üblichen Reihenfolge) mathematikhistorische Hintergründe bzw. bringt sie ein.

Denkbar wäre es also beispielsweise, beim "Satz des Pythagoras" in der 9. Klasse auch mal die Biografie und Ideen des Pythagoras einzubringen.

Das wäre in Form eines Exkurses möglich, der allerdings über die reine (zudem relativ unklare) Biografie hinausgehen müßte. Indem man aber auf die philosophische Bedeutung von Pythagoras käme, würde dieser Exkurs auch auf das "eigentliche" Thema, also "den Satz des Pythagoras", zurück wirken und seine viel tiefere als "nur" geometrische Bedeutung zeigen.

D.h., der Exkurs wäre keineswegs bloß überflüssiger Luxus.

Solche Begleitung des üblichen Unterrichtsstoffes durch mathematikhistorische Exkurse würde am bisher üblichen Aufbau der Schulmathematik wenig ändern - und ist daher wohl erstmal realistischer und erfordert, da exemplarisch möglich, weniger Vorarbeiten. Im "schlimmsten" Fall müßte zugunsten solcher historischer Exkurse der "sonstige" Stoff ein wenig gerafft werden.

2. thematischer Zugang

(und da denke ich insbesondere an Mittel- und Oberstufenkurse, evtl. sogar an ein ganzes mathematikhistorisches Halbjahr).

Denkbare Themen wären da

Nehmen wir nur mal das Beispiel Newton: im Fach Mathematik wären zweifelsohne vor allem seine mathematischen (und, untrennbar damit zusammenhängend, physikalischen) Erkenntnisse von Interesse und in den Mittelpunkt zu stellen, zumal nur diese mathematisch-physikalischen Erkenntnisse später wirkungsmächtig geworden sind. Dennoch wäre den SchülerInneN auch eine Beschäftigung mit Newtons Theologie und Alchemie "zuzumuten", weil diese aus seiner Sicht direkt mit seinen mathematischen Erkenntnissen zusammenhingen, ja, deren Ausgangspunkt und Ziel waren.

Da würde nicht nur "Schnee von gestern" vermittelt, sondern würden die Geburtswehen, aber auch Geburtsfehler der neuen Naturwissenschaften und Mathematik klar. Ja, vielleicht hat Newton an einem philosophischen Punkt aufgehört, an dem es sich heute wieder anzufangen lohnen würde. Vielleicht müßte die moderne Naturwissenschaft und Mathematik (bei aller kritischen Distanz zu Theologie und Alchemie) wieder um das ergänzt werden, was Newton außer Mathematik noch so wichtig war. Mag ja sein, daß die "Reste" subkutan weiterwirken, aber stetig geleugnet werden (und überhaupt durch Verdrängung erst so potentiell gefährlich werden?).

Newton "ganz" ernst zu nehmen (worauf er ein Recht hat!), hieße, seine Theologie und Alchemie nicht bloß als abseitige Verwirrung eines Genies oder als Selbstschutz vor einem nunmal religiösen Zeitgeist mittels geschickter und notwendiger Anbiederung an ihn zu diskreditieren (so, als hätte Newton in Wirklichkeit "natürlich" weder an Theologie noch Alchemie geglaubt). Dazu waren seine Einstellungen für seine Zeit viel zu höretisch.

(mit dem bezeichnend fächerübergreifenden Untertitel "Von der göttlichen Komödie zu Riemann und Einstein")

Bücher dieser Art (oder pädagogische Aufbereitungen incl. methodischer Überlegungen) sollten meiner Meinung nach zur PFLICHTLEKTÜRE in einem Oberstufenhalbjahr der Mathematik gemacht werden!

weil Populärwissenschaftler also oftmals die eigentliche Mathematik verschweigen, sind die mathematischen Hintergründe immer wieder exemplarisch (zumindest an einfacheren Stellen) zu rekonstruieren, muß also überhaupt erst wieder "Mathematik" reingebracht werden!

An mindestens einer Stelle darf den SchülerInneN - auch, um ihnen die Mühen der Entdecker bewußt zu machen, denen ja ebenfalls nicht alles zugeflogen ist - der "Frust" mathematischer Kleinarbeit und Theoriebildung gar nicht erspart bleiben. Sie müssen mindestens einmal das Gefühl haben: "da habe ich etwas vollständig verstanden und ganz erarbeitet (und alles andere geht analog)".

Es ist aber kein Beinbruch, wenn die SchülerInnen nicht alle mathematischen Hintergründe verstehen können (sei's aufgrund der Masse, sei's, weil einige wirklich zu schwierig sind). Z.B. Ossermanns und Barrows Buch vermitteln dennoch, was mindestens ebenso wichtig ist: Einblicke in mathematische Denkweisen. Gegen alle drei genannten Büchern könnte man einwenden, daß sie - selbst in einem erstklassigen Leistungskurs und allemal in Grundkursen - in ihrer Quintessenz (im ersten Fall die Fermatsche Vermutung, im zweiten Riemannsche Geometrie, im dritten geradezu "Philosophie der Mathematik") erheblich "zu hoch greifen" und damit SchülerInnen erstens eher abstoßen als anziehen, zweitens aber notgedrungen nur mit Pseudoerkenntnissen abspeisen.

Mit Recht hat ja beispielsweise Singh den Beweis der Fermatschen Vermutung durch Wiles weggelassen, der derart komplex ist, daß nur noch wenige Fachleute ihn verstehen (ich also auch nicht). Man könnte solch ein Verschweigen des Beweises also geradezu als Etikettenschwindel bezeichnen.

Dennoch aber ist es Singh gelungen, frühere mathematische Entwicklungen zu veranschaulichen und immerhin die Dramatik der Entstehung des Beweises zu zeigen.

SchülerInnen haben sogar ein Recht, nicht bloß in der üblichen Schulmathematik, also letztlich der Mathematik der Antike und Frühneuzeit (als allemal unverzichtbaren Voraussetzungen!) gefangen gehalten zu werden (sie müssen sich dann ja geradezu als dumme Nachhut empfinden!), sondern auch (notwendig vereinfachende) Einblicke in die Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart zu bekommen. Nur so erhalten sie Zukunftsperspektiven und -möglichkeiten. Sie müssen merken: "es gibt auch heute und morgen noch viel Interessantes zu entdecken".

(vgl. "Schule hinterm Mond")

Dieser zweite, thematische Ansatz hätte aber gravierende Folgen für den Mathematikunterricht:

Beispielsweise das Buch von Ossermann bietet derart viele inner- und außermathematische Anregungen, daß daran problemlos 15 Kleingruppen arbeiten und ihre Ergebnisse später (ja auch ein Erziehungsziel!) allgemeinverständlich fundiert in Hausarbeiten, Vorträgen und Ausstellungen einbringen könnten.

(Und nebenbei: wie stolz wären SchülerInnen mit Recht, solche echten Ergebnisse im Internet zu präsentieren, wie sinnvoll könnte da das Internet [zur Materialsammlung und zur späteren Präsentation] werden!)

Allemal müßten Sammelphasen stattfinden, in denen nicht nur (wie sonst oft bei ungeliebten Referaten üblich) vorgetragen, sondern auch allen verständlich gemacht wird. Es müßte sich ein verstandenes "Gesamtbild" ergeben. Erst in solch einem Gesamtbild würden wohl typisch mathematische Strukturen und Denkweisen deutlich werden ("ich hab da erstaunlich ähnliches gefunden wie du, obwohl ich an einem ganz anderen Thema gearbeitet habe").

Zu unterscheiden wäre wohl auch zwischen gemeinsamen Pflichtphasen

(zu grundlegenden, unverzichtbaren Erkenntnissen und um gemeinsame Voraussetzungen zu schaffen; für diese Phasen käme man regelmäßig im Plenum zusammen und wäre der Unterricht auch wohl wieder "frontaler")

und individuellen Spezialthemen (Kür, Vertiefung).

Der erste und zweite Zugang schließen sich ja keineswegs gegenseitig aus. Vorstellbar wäre es doch beispielsweise, daß sich aus einem thematischen Zugang ein Problem ergäbe, das es motivieren würde, längere Zeit rein innermathematisch (im "klassischen" Unterricht) Voraussetzungen zu erarbeiten. Aber es bestünde eben auch die Motivation, mit solch innermathematischer Arbeit ein gegebenes Thema tiefer ergründen und auch wieder zu ihm zurückkehren zu können.

Wer tatsächlich "den gestirnten Himmel über mir, das moralische Gesetz in mir" (Kant) in sternklarer Nacht erlebt hat, ist wohl eher motiviert, diesen Himmel auch mal tagsüber im geschlossenen Raum (Rückzugsraum von den Eindrücken) theoretisch "aufzuarbeiten", zu erkunden und zu berechnen.