um Mathematikgeschichte betrogen

Wenn ich so ein phantastisch gutes Buch lese wie

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fühle ich mich auch noch gut 20 Jahre nach meinem Mathematikstudium gründlich betrogen und werde ich wegen dieses Betrugs geradezu wütend:

Man kann - und muss! - nämlich alles an den simpelsten Dingen (eben z.B. der Null) aufhängen;
und man kann - wie Seife (manchmal übertrieben) zeigt - daran die halbe Mathematik- und auch Kulturgeschichte bis in die allermodernste Gegenwart aufhängen!

Und in Germanistik war es ja genauso:

"Nie habe ich von der Sache so unbeseelte Menschen erlebt wie jene Professoren und Dozenten der Universität."
(Peter Handke; wobei ich allerdings durchaus Ausnahmen kennengelernt habe)

Die Schule ist auch nicht besser - und ich auch nicht: wir ersticken alle am Alltagsstress, und wenn die Kultusverwaltung den Unterricht überhaupt verbessern wollte (aber sie will ja nicht), würde sie nicht mehr Kontrolle, sondern mehr Freiheiten einführen!

Dennoch bin ich felsenfest überzeugt, dass ein besserer (literarischerer, aber auch bessere mathematische Ergebnisse ermöglichender) Mathematikunterricht möglich wäre!

Kleiner Exkurs: nein, ich bin nicht so blöd, immer nur anderen die Schuld zuzuschieben. Sondern manchmal denke ich auch: die Professoren hätten damals noch so gut sein können, ich (wie jeder 19jährige) war damals so herzhaft babymäßig naiv und autoritätshörig, vor allem aber hatte sich bei mir noch keinerlei Wissen zusammengebaut, (so) dass ich die Zusammenhänge damals auch gar nicht verstanden hätte.
Manchmal scheint mir, man muss schon selbst historisch geworden sein, um Historie leibhaftig zu verstehen.

Worum ich gnaden- bzw. phantasielos betrogen wurde: um

  • (wie schon erwähnt) die Grundideen und -denkweisen der Mathematik,
  • die Zusammenhänge (innermathematische, aber auch der Mathematik mit der allgemeinen Kultur und "Geisteswissenschaften"),
  • die historischen Suche nach Lösungen (in der ich mich, so verzweifelt dumm ich mich damals oft fühlte, wiedergefunden hätte!),
  • also um das, was Mathematik eigentlich "ist".

Gerade ja weil Mathematik so schön ist: um was für eine grandiose (manchmal auch grandios verzweifelte) Geschichte wurde ich da betrogen!

Betrogen wurde ich vor allem auch um die menschlich-allzumenschlichen, liebenswerten Unwägbarkeiten der Mathematik:

"Mit der Einführung der veränderlichen Größen und der Ausdehnung ihrer Veränderlichkeit bis ins unendlich Kleine und unendliche Große hat die sonst so sittenstrenge Mathematik den Sündenfall begangen. (...) Der jungfräuliche Zustand der absoluten Gültigkeit, der unumstößlichen Bewiesenheit alles Mathematischen war auf ewig dahin; das Reich der Kontroversen brach an, und wir sind dahin gekommen, daß die meisten Leute differenziren und integriren, nicht weil sie verstehn, was sie thun, sondern aus reinem Glauben, weil es bisher immer richtig herausgekommen ist."

(Friedrich Engels!)

Warum also wird in Schulen z.B. nicht der Klassiker der Mathematik-Geschichtsschreibung, also das Buch "Die großen Mathematiker" von Eric Temple Bell (1883 - 1960), systematisch durchgenommen (und an exemplarischen Stellen mathematisch durchdrungen!)? Immerhin hat dieses Buch ja so einige spätere große Mathematiker (z.B. John Nash) überhaupt erst zur Mathematik verführt.

(Und warum eigentlich wird das Buch seit Ewigkeiten nicht mehr aufgelegt? Um mal kulturdepressiv zu werden: Grundlagenwerke der Kulturgeschichte werden sowieso nicht mehr aufgelegt, sondern der Markt wird mit Eintagsfliegen verpestet.)

Obwohl das Buch von 1937 ist und also fortgesetzt werden könnte, zeigt es doch auf, was an der Mathematik wichtig ist - und in Schulen oftmals fehlt:

Es ist schon bitter, dass SchülerInnen in der Oberstufe nur mit (zudem einem "Fleischextrakt" aus) Stochastik, linearer Algebra und Infinitesimalrechnung abgespeist werden und das dann den Anspruch erhebt, "die" Mathematik zu sein.

Und Bell zeigt auch andauernd, wie ergiebig Mathematikgeschichte sein kann. Nur ein Beispiel:

„Ein sehr einfaches Problem kann uns einen Begriff von Eudoxus' [408-355 v. Chr.] Bedeutung geben. Um den Flächeninhalt eines Rechtecks zu finden, multipliziert man dessen Länge mit seiner Breite; dies ist einleuchtend, bietet aber sogleich ernste Schwierigkeiten, wenn nicht beide Seiten mit rationalen Zahlen meßbar sind. Diese besonderen Schwierigkeiten treten in der nächst einfachsten Art von Problem noch deutlicher zutage, nämlich bei der Bestimmung der Länge einer gekrümmten Linie oder des Flächeninhalts einer gekrümmten Fläche oder eines von gekrümmten Flächen eingeschlossenen Volumens.
Jeder begabte Junge [und ebenso natürlich jedes Mädchen!], der sein mathematisches Können erproben will, mag versuchen, eine Methode zur Lösung dieser Probleme zu finden. Wie würde er, wenn er es in der Schule noch nicht gelernt hat, wohl vorgehen, um einen strengen Beweis für die Formel des Umfangs eines Kreises bei einem gegebenen Radius zu finden? Wer das aus eigener Kraft fertigbringt, kann sich mit Recht für einen Mathematiker ersten Ranges halten. Sobald man über die von geraden Linien oder ebenen Flächen begrenzten Figuren hinausgeht, rennt man geradewegs in die Probleme der Kontinuität, in die Rätsel des Unendlichen und in das Labyrinth der irrationalen Zahlen. Eudoxus schuf die erste logisch zufriedenstellende Methode zur Behandlung solcher Probleme, die Euklid im fünften Buch seiner »Elemente« wiedergab. In seiner Exhaustionsmethode, die er bei der Berechnung von Flächen und Volumina anwandte, zeigte Eudoxus, daß wir nicht die »Existenz« von »unendlich kleinen Mengen« annehmen müssen; es genügt für die Zwecke der Mathematik, daß wir durch die fortgesetzte Teilung einer gegebenen Größe eine beliebig kleine Größe erreichen.“

Bemerkenswert an dem Buch ist zudem, dass es keine Berührungsängste hat und gerne klatschhaft beim Persönlichen anfängt, also z.B. auch beim Sex:

"Insbesondere wollte man wissen, wie viele unter den großen Mathematikern abnorm veranlagt waren - vielleicht eine etwas taktlose Frage, aber berechtigt genug, um in einer Zeit des Interesses für solche Themen ernsthaft beantwortet zu werden."

Bezeichnend ist aber auch die Antwort auf solch eine Fragen, nämlich kurz und knapp:

"Keiner von ihnen."