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Einerseits gehört die Klage über die jeweilige "Jugend von heute" seit Ewigkeiten zum Standardrepertoire seniler Kulturpessimisten, die andauernd den obligatorischen
Andererseits verdient allemal, ernsthaft "geprüft" (s.u.) zu werden.
Auch die spezielle Klage, dass "die Jugend von heute" keine Mathematik mehr kann, ist wahrhaft nicht neu, und dann werden mit schöner Regelmäßigkeit insbesondere Kenntnisse in der Prozentrechnung und beim Dreisatz vermisst
(wer die beiden Begriffe kennt, meint, mitreden zu können / dürfen; aber wehe, man stellt ihm selbst mal einschlägige Aufgaben).
Wieso wundert einen die Unkenntnis der Prozentrechnung und des Dreisatzes, wenn die Schüler beide zwar mal in der 6. Klasse, danach aber nie wieder durchgenommen haben
(weil beide mathematisch unergiebig sind)?
Und wo - bittschön - braucht ein Normalsterblicher im "richtigen" Leben je wieder die Prozentrechnung und den Dreisatz???
Auf bin ich um zwei Ecken aufmerksam geworden:
zuerst bin ich über den Spiegel-Artikel
gestolpert: nun ist der "Spiegel" ja immer gut für erste Informationen, aber doch miserabel bei Hintergründen;
in dem Spiegel-Artikel wurde auf den Tagesspiegel-Artikel
im Tagesspiegel-Artikel gab es dann einen Link auf das Original-Dokument : wenn irgend möglich, möchte ich natürlich das Original lesen und nicht (nur) Artikel über dieses.
Dennoch bleibe ich erstmal kurz beim "Spiegel" und "Tagesspiegel", weil da dennoch einige Hintergründe zu dem "offenen Brief" und erste Reaktionen auf ihn genannt werden:
, dass deutsche Schüler und Studenten anderweitig (auch in der Mathematik) durchaus gut abgeschnitten haben;
: "[...] aus der
Sicht der Kultusministerkonferenz (KMK) geht die Kritik an der
Kompetenzorientierung „ins Leere“. Sie sei durch Fachwissenschaftler,
Fachdidaktiker und Bildungswissenschaftler aufgebracht worden, erklärte
KMK-Präsidentin Susanne Eisenmann (CDU) auf Anfrage. Weil zudem die
neuen Aufgaben von Mathematikern entwickelt wurden, „ist dieser Brief
auch eine Kritik an der eigenen Zunft“. Gleichwohl werde sich die KMK
„die Zeit nehmen, die Zusammenhänge aller Inhalte des offenen Briefes
zu prüfen“."
(Quelle:
)
Das ist natürlich typisches Kultuspolitiker-Blabla
(bzw. eine Kinderargumentation):
Schnellschuss-Äußerung,
abwiegeln, anderen die Schuld geben, "prüfen":
Es geht mir
(anders als anscheinend der Präsidentin der KMK)
nicht darum, die eigene "Schuld" (der Schulen bzw. Schulpolitik) dadurch abzuschieben oder auch nur zu relativieren
("andere Staaten haben auch Verbrechen begangen, reiten da aber nicht andauernd drauf rum wie die Deutschen"),
dass ich auf die der anderen (der Universitätsmathematiker) verweise.
Dennoch:
in dem Mathematiker-Brandbrief heißt es u.a.:
"Die[...] Defizite sind schon längst kaum mehr aufholbar – weder in Vorkursen noch in Brückenkursen. In der Studieneingangsphase finden inzwischen fast überall mathematische Alphabetisierungsprogramme statt [...]"
(wobei "Alphabetisierungsprogramme" eine herrliche Unterstellung ist: dass die deutschen Schüler nichtmal die einfachste Mathematik beherrschen und man wieder bei Adam & Eva anfangen müsste).
Meine subjektive Erfahrung sieht da anders aus: sowohl zu Beginn meines Studiums vor fast 40 Jahren als auch beim Studienbeginn zweier Neffen vor einem Jahr in den Fächern Mathematik und Physik haben "die" Universitäten in den mathematischen Vor- und Brückenkursen
erst gar nicht versucht, auch nur ansatzweise an die aus ihrer Sicht immer schon lachhafte Schulmathematik anzuschließen,
sondern sofort mit Abschreckungsmathematik losgeknallt, die Lichtjahre von der Schulmathematik entfernt war
Und dann wundern sie sich, dass die Studenten immer dümmer zu werden scheinen!
Nein, egal, ob die mathematische Ausbildung an den Schulen gut oder schlecht ist, die Uni hat die Studenten da abzuholen, wo die Schulen sie zurückgelassen haben
(was natürlich nicht für fachlich minderbegabte Einzelfälle gilt, die sich aber eh nicht z.B. in ein Mathestudium wagen).
Das schließt natürlich nicht aus, dass die Universitätsmathematiker (auch) aus ihrer Sicht nötige Verbesserungen an den Schulen vorschlagen bzw. einfordern.
Der offene Brief ist weitgehend von Leuten geschrieben, die
entweder an der Uni Mathematik unterrichten
oder angewandte Mathematik in ihren Fächern brauchen.
Damit ist der Brief fast notwendig einseitig: er ist blind für diejenigen (die meisten!) Schüler, die
später keine WiMINT-Fächer studieren und
wohl nie wieder in ihrem Leben den mathematischen Formalismus benötigen werden,
aber dennoch
(warum eigentlich?)
bis zum Abitur Mathematik betreiben müssen
(und das oft mit größten Bauchschmerzen).
Hier ist nicht der Platz, um zu begründen, weshalb ich meine, dass Mathematik auch für diese Schüler zur Allgemeinbildung gehören sollte.
Aber es ergibt sich doch das Problem, zwei "Interessen" zusammenführen:
das "Interesse" derjenigen Schüler, die in ihrem späteren (z.B. WiMINT-)Studium häufig und oftmals sogar sehr anspruchsvolle Mathematik brauchen werden,
und das "Interesse" derjenigen (der meisten) Schüler, die vermutlich nie wieder auch nur einfachste Mathematik brauchen werden
(was ein um so größeres Problem ist, als die Entscheidung zu der einen oder anderen Richtung oftmals erst sehr spät [häufig sogar erst nach dem Abitur] getroffen wird).
Eine Möglichkeit ist es da natürlich, Fachoberschulen einzurichten
(oder gibt es sie schon?),
die jene Schüler einseitig mathematisch auf Vordermann bringen, für die schon sehr (zu?) früh klar ist, dass sie später WiMINT-Fächer studieren werden. An solchen Schulen würde bewusst auf den Anspruch der "Allgemeinbildung" verzichtet.
Ich will das hier wirklich nicht bewerten. Immerhin gibt es inzwischen aber Äußerungen von Arbeitgebern, die bei solchen "Fachidioten" dann merkwürdigerweise doch die Allgemeinbildung vermissen, die überhaupt erst kreative Köpfe erzeugt.
Allemal erstaunlich ist es aber, was wir unten mehrfach sehen werden: dass sogar die Anwendungs-Mathematiker für die Schulen wieder mehr "reine" Mathematik fordern!
Was nun aber stört die Universitätsmathematiker an der derzeitigen mathematischen Ausbildung durch Schulen
(und hier geht nun wirklich nichts über Originalzitate)?:
noch sehr allgemein:
"Im Rahmen der Kompetenzorientierung, die der ganzen Republik in Form von Bildungsstandards [Bil] vorgeschrieben wird, wurde der [welcher?] Mathematik-Schulstoff so weit ausgedünnt, dass das mathematische Vorwissen von vielen Studienanfängern nicht mehr für ein WiMINT-[= Wirtschafts-Mathematik-Informatik-Technik-]Studium ausreicht."
Immerhin ist damit schon klar, was im Brieftitel "Mathematikunterricht und Kompetenzorientierung" noch nicht so eindeutig war: dass die "Kompetenzorientierung" der Lieblings-Sündenbock der Briefautoren ist.
Nun wird in dem Brief zwar nie geklärt, welche Kompetenzen da denn eigentlich gemeint sind
(und eigentlich kann man doch gar nichts gegen Kompetenzen haben),
aber offensichtlich sind es aus Sicht der Briefautoren die falschen.
(Nebenbei: durch seinen inflationären derzeitigen Gebrauch ist das Modewort "Kompetenz" inhaltsleer geworden: ein "Kompetenzteam" ist nun wahrhaft nicht automatisch kompetent, sondern behauptet das nur - und dass alle anderen inkompetent sind.)
schon konkreter:
"Den Studienanfängern fehlen Mathematikkenntnisse aus dem Mittelstufenstoff, sogar schon Bruchrechnung(!), Potenz- und Wurzelrechnung, binomische Formeln, Logarithmen, Termumformungen, Elementargeometrie und Trigonometrie."
Hier deutet sich schon an, was in dem offenen Brief allerdings nie ausdrücklich gesagt wird
(weil keiner sich traut, das laut zu sagen?):
dass
damit "reine" Mathematik, also (noch) ohne
jede Anwendung gefordert wird
(denn Mathematik kann man [wenn man das überhaupt will] erst anwenden, wenn man halbwegs Mathematik kann;
was nicht heißen darf, dass man alle Mathematik perfekt können muss, bevor man zur Anwendung schreiten kann, denn dann kommt man nie zu Anwendungen;
bemerkenswert ist es dabei allemal, dass die "reine" Mathematik keineswegs nur von "reinen" Mathematikern, sondern auch von Vertretern universitärer Anwendungsfächer gefordert wird).
Die
Bedeutung der reinen Mathematik wird auch in den abschließenden
Forderungen des Briefs deutlich:
"[dass]
[...] symbolische, formale und technische Elemente der Mathematik und
abstrakte Inhalte stärker gewichtet werden [...]".
Ein wenig eigenartig finde ich aber die Auswahl
"Bruchrechnung(!), Potenz- und Wurzelrechnung, binomische Formeln, Logarithmen, Termumformungen, Elementargeometrie und Trigonometrie".
(Aber in einem möglichst kurzen und knackigen Brief kann man wohl nicht alles erwähnen. Später werden allerdings noch die Potenzen mit rationalen Exponenten ergänzt - wobei mir schleierhaft ist, wieso die so wichtig sein sollen.)
Ich weiß, jeder Mathematiklehrer hat da
(und sei's aus purer Gewohnheit)
noch was zu ergänzen, und dann kommt am Ende das uralte Maximalprogramm heraus, bei dem man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht und nur noch der Stofffülle hinterherhechelt.
Aber warum werden nicht auch erwähnt
(... der zumindest mir viel wichtiger erscheint als die [allemal schöne] Trigonometrie.)
Später wird noch ergänzt,
"[...] dass die Beherrschung des Mittelstufenstoffes aus der Schulzeit über den Erfolg in MINT-Studiengängen entscheidet [...]",
was doch wohl im Umkehrschluss bedeutet, dass die nachfolgende Oberstufen-Mathematik nicht über den Erfolg in MINT-Studiengängen entscheidet. Nur was bedeutet Letzteres?:
die in meinen
Augen wichtigste Passage des offenen Briefs:
"Im Rahmen der Kompetenzorientierung wurden bewährte mathematische Ausdrucksweisen und abstrakte Aufgaben durch sperrige Textgebilde und konstruierte Modellierungsaufgaben ersetzt. Der Mathematikstoff wird nur noch oberflächlich vermittelt, eine tiefere inhaltliche Beschäftigung findet nicht mehr statt."
Daran ist dreierlei wichtig:
Leider wird da
(wohl wieder aufgrund der gebotenen Kürze eines offenen Briefs)
nicht erklärt, was mit einer "tiefere[n] inhaltliche[n] Beschäftigung" (mit der reinen Mathematik!) gemeint ist.
Immerhin scheint damit allerdings nicht nur das bloße (auch nötige!) Einpauken gemeint zu sein:
"Der Mathematikstoff wird nur häppchenweise „angeboten“ und nicht ausreichend vernetzt: Aushöhlung, Entfachlichung, Entkernung des Mathematikunterrichtes sind das Resultat [...]"
"Vernetzen" bedeutet dabei wohl eine innermathematische Vernetzung, die allerdings auch im klassischen Unterricht meist fehlte oder den Schülern nicht deutlich wurde.
Und mit "Entfachlichung" ist vermutlich gemeint, dass die Mathematik nur noch als Anwendungsfach, also als Sklave für andere Fächer und nicht mehr als eigenständiges Fach "sui generis" angesehen wird.
(... wobei es wieder bemerkenswert ist, dass keineswegs nur reine Mathematiker das beklagen;
es ist eben in unserer stramm kapitalistisch auf Verwertung ausgerichteten Zeit viel zu kurz gedacht, direkte Verwertbarkeit zu fordern - und die Schulen dieser stramm einseitigen Logik zu unterziehen.)
Dennoch möchte ich darauf bestehen, dass alle Fächer, also auch die Mathematik, vermehrt interdisziplinäre Elemente enthalten. Aber das bedeutet eben nicht platte (Pseudo-)Anwendbarkeit, sondern z.B. auch historische und soziale Bezüge, also beispielsweise, welche Fortschritte die Mathematik ermöglicht hat, welche Gefahren aber auch mit ihr verbunden sind.
Dieser "rote[...] Faden" wird im Brief leider nicht genauer erklärt: gemeint ist da wohl die mathematische Sachlogik, nach der sich viele mathematische Gebiete nacheinander entfalten: eine Sachlogik, die allerdings auch im traditionellen Matheunterricht meistens für die Schüler unsichtbar bleibt.
(Genau das meine ich mit "eingekleideten" Aufgaben; vgl. etwa .)
was doch - weniger vorsichtig gesagt - schlichtweg bedeutet, dass
(wie überhaupt der Einsatz von Computern in der Schule)
derzeit gefährlich überschätzt werden,
Summa summarum:
abgesehen davon, dass ich durchaus für interdisziplinäre Elemente sehr wohl auch in der Mathematik bin (s.o.), fühle ich mich durch den offenen Brief rundum bestätigt.
Meine Versuche der Veranschaulichung widersprechen dem keineswegs, denn sie dienen ja immer "nur" der Veranschaulichung der "reinen" Mathematik.
PS: | Jetzt hat der "offene Brief" es doch tatsächlich sogar auf
die Titelseite einer Tageszeitung (wenn
auch nur des Lokalblättchens "Westfälischen Nachrichten")
gebracht, und da melden sich dann auch gleich die beiden unvermeidlichen Schul-"Experten" Dorle Neumann und Timo Leuders zu Wort (fehlt
eigentlich nur noch, dass auch der Schul-"Experte" der Zeit, nämlich
Martin Spiewack, etwas zum Thema absondert):
(, 4.4.2017)
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